Nekrolog auf unser Mitglied Prof. Dr. Wolfgang Eichhorn

Die Leibniz-Sozietät der Wissenschaften trauert um ihr Gründungsmitglied Wolfgang Eichhorn, der am 18. März kurz nach Vollendung seines 95. Geburtstages verstorben ist.
Wolfgang Eichhorn wurde am 23.02.1930 in Unterneubrunn geboren, das heute zu Schönbrunn in der Nähe von Hildburghausen, Thüringen, gehört. Hier besuchte er ab 1936 eine Grundschule, wechselte 1942 zur Aufbauschule in Hildburghausen und legte dort 1948 das Abitur ab.
Der Weg führte ihn von 1948 bis 1951 dann zum Studium der Philosophie und Gesellschaftswissenschaften an die Friedrich-Schiller-Universität Jena. Damit wurde der Grundstein für seine spätere wissenschaftliche Laufbahn gelegt, die als Dozent für dieses Fach und speziell für Historischen Materialismus an der Humboldt-Universität zu Berlin (HUB) begann.
Weitere Stationen bzw. Stufen der wissenschaftlichen Laufbahn waren:
– 1954–1956 Aspirant am Institut für Philosophie der HUB;
– 1956 Promotion;
– 1957–1964 Habilitations-Aspirantur, Dozent sowie Leiter des Bereichs Historischer Materialismus am Institut für Philosophie der HUB;
– 1963 Habilitation mit einer Arbeit über Probleme des Menschenbildes und der Ethik.
Danach wirkte Wolfgang Eichhorn in der Akademie der Wissenschaften (AdW): Zunächst hat er – von 1964 bis 1969 – als Stellvertretender Abteilungsleiter bzw. Abteilungsleiter das Institut für Philosophie zu einer leistungsfähigen Institution entwickelt, sowohl als Leiter als auch durch Leistungen in der Forschung auf damals in der akademischen Landschaft so neuen Gebieten wie Dialektischer Materialismus, Theorie des Widerspruchs, Theorie der Gesellschaftstransformationen und die Praxis von Übergangsgesellschaften, speziell im Sozialismus. Innovativ war auch sein Versuch, eine Verwissenschaftlichung der oft eher aus Sollsätzen zur Lebensführung bestehenden philosophischen Ethik durch ihre Überführung in eine dreiwertige Logik (in seinem Buch Wie ist Ethik als Wissenschaft möglich? [1965]) zu bewerkstelligen. Von 1969 bis 1971 hat er den neugeschaffenen Forschungsbereich Gesellschaftswissenschaften der AdW geleitet. Über den langen Zeitraum von 1972 bis 1990 hinweg war er dann als Bereichsleiter am Institut bzw. Zentralinstitut für Philosophie der AdW mit den Arbeitsschwerpunkten Ethik, Dialektik des Widerspruchs, Formationstheorie und Fragen der Geschichtsphilosophie tätig. Besonders hervorzuheben ist auch seine Tätigkeit ab 1960 als ehrenamtlicher Chefredakteur bzw. später als Stellvertretender Chefredakteur der Deutschen Zeitschrift für Philosophie. Er ist einer der wenigen Philosophen, die für ihr Wirken mit dem Nationalpreis der DDR (1980) ausgezeichnet wurden.
1969 wurde Wolfgang Eichhorn – erst 39 Jahre alt – Korrespondierendes, 1973 dann bereits Ordentliches Akademiemitglied; 1970 wurde er zum Ordentlichen Mitglied der Akademie der Pädagogischen Wissenschaften gewählt. Dass Wolfgang Eichhorn auch mehrere Jahre lang Chefredakteur der „Deutschen Zeitschrift für Philosophie“ sowie Mitglied der Philosophenkommission DDR-UdSSR, des Wissenschaftlichen Rates für Philosophie und des Wissenschaftlichen Rates für Friedensforschung sowie Vorsitzender der Zentralen Sektion Philosophie beim Präsidium der Urania – Gesellschaft zur Verbreitung wissenschaftlicher Kenntnisse war, verweist auf die Vielfältigkeit seines Schaffens.
Forschend war Wolfgang Eichhorn in Gebieten wie Theorie des Widerspruchs, Theorie der Gesellschaftstransformationen und die Praxis von Übergangsgesellschaften, speziell im Sozialismus, tätig. 1959 erschien Widersprüche beim Aufbau der sozialistischen Gesellschaft. Auch der dialektische Widerspruch im Verhältnis zwischen Produktivkraftentwicklung und Struktur und Veränderung der Produktionsverhältnisse stand im Fokus seines Philosophierens (besonders angesichts der nach 1989/91 eingetretenen Veränderungen). Weitere von ihm (mit)verfasste bzw. (mit)herausgegebene Schriften sind (neben zahlreichen weiteren) Von der Entwicklung des sozialistischen Menschen (1964), Marxistisch-leninistische Philosophie (1979), Dialektik – Revolution – Weltprozess (1980), Philosophie im Friedenskampf (1983), Der Materialismus und das Subjekt der Geschichte (1987) und Der tätige Mensch. Gesellschaftsveränderung und menschliche Entwicklung (1987).
Nach der Abwicklung der AdW im Gefolge der Wiedervereinigung gehörte Wolfgang Eichhorn zu denjenigen Mitgliedern der Akademie, die als Initiativgruppe im September 1992 die Weiterführung der Gelehrtensozietät der AdW als Leibniz-Sozietät beschloss, von ihm inhaltlich, juristisch und organisatorisch vorbereitet. Die Gründungsversammlung wählte ihn folgerichtig zum Sekretar. Ihm ist auch zu verdanken, dass sich die wissenschaftliche Arbeit der Sozietät in der Institutionalisierung der beiden Klassen und ihren im monatlichen Rhythmus stattfindenden Sitzungen wie auch der monatlichen Plenarversammlung äußert, eine Organisationsform, die bis heute erfolgreich beibehalten wurde. Nicht vergessen seien in diesem Zusammenhang seine zahlreichen Publikationen und Herausgaben, die zum hohen wissenschaftlichen Rang der Abhandlungen und Sitzungsberichte der Sozietät beitragen. Verwiesen sei hier lediglich auf Revolution der Denkungsart – zum 200. Todestag von Immanuel Kant (2004).
Für sein die Existenz der Leibniz-Sozietät (mit)sicherndes Engagement wurde Wolfgang Eichhorn 2006 als erster mit der Ehrenurkunde der Leibniz-Sozietät ausgezeichnet, der höchsten Auszeichnung unserer Gelehrtengesellschaft, die bislang nur sieben Mal vergeben wurde. 2010 wurde ihm die Daniel-Ernst-Jablonski-Medaille verliehen, 2019 die Ehrenurkunde für 50jährige Mitgliedschaft in der Gelehrtengesellschaft überreicht.
Trotz all seiner Bedenklichkeiten als Geschichtsphilosoph über den Verlauf der Geschichte und die Unwägbarkeiten künftiger Menschheitsentwicklung hat Wolfgang Eichhorn weder sein grundsätzliches Bekenntnis zum Marxismus aufgegeben noch seinen aufklärerischen Fortschrittsoptimismus aufgebraucht, wie auch der Titel des von ihm als Mitherausgeber 1989 edierten Bandes „… dass Vernunft in der Geschichte sei“ – Formationsgeschichte und revolutionärer Aufbruch der Menschheit anzeigt, eine rationalistische Geschichtssicht, die auch das programmatische Motto des zu seinem 85. Geburtstag im April 2015 stattgefundenen Ehrenkolloquiums war. Bereits im Februar 2000 war Wolfgang Eichhorn anlässlich seines 70. Geburtstages mit dem Kolloquium „Geschichtsphilosophie“ geehrt worden.
Zu den von Kollegen, Mitarbeitern und auch von gegnerischen Polemikern gelobten Charaktereigenschaften von Wolfgang Eichhorn gehörten das Zuhören-Können und das Reden-Lassen, das Offensein für neue, bisher fremde Denkweisen über Geschichte und Gesellschaft, die sich auch in dem von ihm gemeinsam mit Wolfgang Küttler herausgegebenen Band 19 der Abhandlungen der Leibniz-Sozietät Was ist Geschichte? – Aktuelle Entwicklungstendenzen in Geschichtsphilosophie und Geschichtswissenschaft aus dem Jahre 2008 offenbart. Diese für einen Wissenschaftler konstitutive, wahrhaft philosophische Haltung in der Tradition eines Parmenides hat sich Wolfgang Eichhorn bis zu seinem Tode bewahrt.
Die Mitglieder der Leibniz Sozietät werden ihrem Gründungsmitglied Wolfgang Eichhorn stets ein ehrendes Andenken bewahren.
Gerhard Banse & Herbert Wöltge