Nekrolog auf Dieter Seeliger, MLS seit 2002
Die Leibniz-Sozietät der Wissenschaften zu Berlin trauert um ihr Mitglied, den Kernphysiker Prof. Dr. Dieter Seeliger, der am 28. Juli 2023 im Alter von 84 Jahren in Dresden verstorben ist.
Dieter Reinhard Seeliger (1939-2023) hat einen herausragenden Lebensweg vollendet.
Geboren am 6. Mai 1939 in Giersdorf (Schlesien; heute Podgórzyn, Polen), erlebte er zunächst unter einfachen Verhältnissen glückliche Kindheitsjahre, die jedoch zunehmend durch die Auswirkungen des II. Weltkrieges überschattet wurden. Die Familie musste im Winter 1946/1947 vom Riesengebirge nach Ostdeutschland umsiedeln und fand nach vielen Entbehrungen eine neue Heimat im Vogtland. In der 11. Klasse durch das Buch „Der Atomkern“ von Kursinski inspiriert, wusste Dieter Seeliger schon mit 15 Jahren recht genau, was er werden wollte, nämlich Kernphysiker. Er ging zielstrebig den Weg über das Gymnasium in Auerbach zur speziellen Arbeiter-und-Bauern-Fakultät ABF II, Institut zur Vorbereitung auf das Auslandsstudium (IVA), an der Martin-Luther-Universität in Halle. Dieter Seeliger studierte von 1957 bis 1962 an der Lomonossow-Universität in Moskau Physik. Dort hat ihn eine Begegnung besonders beeindruckt: Niels Bohr, der berühmte Pionier der Kernphysik, besuchte die Stadt Moskau, um seinem Schüler Lev Davidowitsch Landau mitzuteilen, dass dieser den Nobel-Preis für Physik verliehen bekommen soll. Bohr und Landau trafen sich am Abend mit den jungen Physikstudenten, darunter war auch Dieter Seeliger. Welch eine Faszination ging von ein paar gewechselten Worten mit diesen Persönlichkeiten aus! Er setzte sein Physikstudium in der Spezialisierung Kern- und Teilchenphysik in der Filiale der Lomonossow-Universität im Vereinigten Institut für Kernforschung (VIK) in Dubna fort und absolvierte die Diplomarbeit im Jahre 1962 unter der Betreuung des Nobelpreisträgers Prof. Ilja Frank über experimentelle Untersuchungen von Neutronenresonanzen am neu errichteten Impulsreaktor.
Zurück vom ausgezeichnet abgeschlossenen Studium in Moskau/Dubna fasste Dieter Seeliger fortan an der TU Dresden wissenschaftlich Fuß, indem er recht zügig exzellente Abschlüsse der Promotion A über direkte Neutronenreaktionen (1968) und der Promotion B/Habilitation über Vorgleichgewichtsreaktionen (1971) erreichte. Nach Berufung zum ordentlichen Professor im Jahre 1972 übernahm er den Lehrstuhl für Neutronenphysik und prägte ab 1973 als Leiter den Wissenschaftsbereich Kernphysik entscheidend. Zu den wissenschaftlichen Schwerpunkten zählten unter anderen Mechanismen von Kernreaktionen mit Neutronen und Protonen (mit experimentellen Untersuchungen an den gepulsten Neutronengeneratoren im eigenen Hause, am Tandembeschleuniger des Zentralinstituts für Kernforschung (ZfK) in Rossendorf und am Impulsreaktor im VIK Dubna, verbunden mit theoretischen Arbeiten), experimentelle und theoretische Studien zur Kernspaltung und Spaltneutronenemission in einem weiten Inzidenzenergiebereich und methodische Entwicklungen (Kernelektronik, Beschleunigertechnik). Diese wissenschaftlichen Arbeiten zielten insbesondere auch auf die präzise Bestimmung von Kerndaten für nukleartechnologische Anwendungen.
Als Hochschullehrer hatte Prof. Seeliger während seiner Amtszeit an der TU Dresden zahlreiche Schüler, die er zu Diplom-, Promotions- und Habilitationsabschlüssen führte. Neben mehr als dreihundert Diplomanden im Bereich Kernphysik wurden 80 Doktorarbeiten und 15 Habilitationen, ab 1972 maßgeblich unter seiner wissenschaftlichen Anleitung, abgeschlossen. Die von Prof. Seeliger geführte Entwicklung des Bereichs Kernphysik im internationalen Kontext war außergewöhnlich für DDR-Verhältnisse. Seit den 1970er Jahren organisierte er jährlich internationale Kernphysikkonferenzen, die meistens im Schloss Gaussig in der Lausitz abgehalten wurden, das damals der TU Dresden als Tagungszentrum diente. Hierhin kamen zunehmend Wissenschaftler nicht nur aus den Ostblockländern, sondern auch viele Experten aus der ganzen Welt (einschließlich aus Westeuropa, den USA und aus vielen asiatischen Ländern wie Japan). Dabei half ihm seine herausragende und langjährige Rolle als DDR-Vertreter in der Kerndatensektion der Internationalen Atomenergie-Agentur (IAEA), einer UNO-Unterorganisation mit Sitz in Wien. Durch die engen Kontakte zur IAEA initiierte Dieter Seeliger – über die Kooperation mit Instituten in den sozialistischen Ländern hinausgehend – mehrere internationale Projekte (insbesondere „Coordinated Research Projects“ der IAEA, IAEA-Trainingskurse in Dresden für Vertreter von zahlreichen IAEA-Mitgliedsstaaten, Kooperationsprojekt mit der PTB Braunschweig, etc.).
Nach der politischen Wende in der DDR wurde Prof. Seeliger 1991 aufgrund seiner außerordentlichen Kompetenz und internationalen Reputation als Nachfolger des Leiters der Kerndatensektion bei der IAEA in Wien nominiert. Es taten sich weitere attraktive berufliche Perspektiven im Ausland auf. Letztlich entschied er sich, in Dresden zu bleiben und das verlockende Angebot zu nutzen, im neuen deutschen Ableger der US-amerikanischen General-Atomics-Gruppe tätig zu werden. Hintergrund hierfür waren zunächst seine wissenschaftlichen Aktivitäten auf dem Gebiet der Kernfusion, doch mehr und mehr, seit 1994 als Geschäftsführer, profilierte er die Firma UIT innerhalb der GA-Gruppe zu einem Kompetenzbereich für radioaktive Altlasten, was die radiologische Überwachung, die Planung und Umsetzung von höchst anspruchsvollen Sanierungsvorhaben im In- und Ausland beinhaltete. Hierzu gehören zahlreiche komplizierte Sanierungsvorhaben bei der Wismut, für die es vorher keinerlei technologische Lösungen gab. Höhepunkt derartiger Aktivitäten war ein Projekt zur Konzeption alternativer Sanierungsverfahren für den zerstörten Kernreaktor in Tschernobyl gegen Ende seiner aktiven beruflichen Laufbahn. Dieter Seeliger bestimmte zahlreiche weitere Entwicklungslinien der Firma UIT, die heute weltweit erfolgreich agiert. Er war als Berater in strategische Entwicklungen der General-Atomics-Gruppe involviert.
Prof. Seeliger war ein überaus erfolgreicher Physiker und Hochschullehrer, entwickelte gezielt Gruppen von Wissenschaftlern mit klarem Profil und spornte seinen wissenschaftlichen Nachwuchs zu höchsten Leistungen an. Mehr als 400 Publikationen, einige Erfindungen in Form von Patenten sowie mehrere herausgegebene Bücher zeugen von seiner wissenschaftlichen Kreativität. Er war ein erfolgreicher Physiker in zwei Welten, der universitären wissenschaftlichen Welt in der DDR und später als Industriephysiker und Manager in einer renommierten internationalen Firmengruppe, die Hochtechnologien einschließlich neuester Nukleartechnologien entwickelt und praktisch umsetzt. Das war letztlich kein Widerspruch, sondern eine Einheit in logischer Fortsetzung.
Viele Details seiner außerordentlichen Profession und seines Weltverständnisses sind auf seiner Wikipedia-Seite und in seinen Büchern nachzulesen. Dies ist sein Vermächtnis gegenständlicher, direkt greifbarer Art. Mindestens ebenso bedeutsam ist sein ideelles Vermächtnis, das im Wirken und in den Erinnerungen seiner Schüler, Kollegen und Freunde fortbesteht.
Er war Vorreiter, Vorbild, Freund. Das bleibt. Dafür gebührt ihm höchster Dank.
Horst Märten, MLS, Dresden, im September 2023