Symposium „Allgemeine Technologie – eine Bestandsaufnahme“ – Bericht
Am 11. November 2022 führte der Arbeitskreis „Allgemeine Technologie“ (AK AT) der Leibniz-Sozietät der Wissenschaften sein 10. Symposium zur Thematik „Allgemeine Technologie – eine Bestandsaufnahme“ durch. Der Arbeitskreis, gegründet am 12. Oktober 2001, hatte bisher neun Symposien organisiert (vgl. näher dazu https://leibnizsozietaet.de/sozietaet/arbeitskreise/arbeitskreis-allgemeine-technologie-2/):
– Allgemeine Technologie – Vergangenheit und Gegenwart (2001);
– Fortschritte bei der Herausbildung der Allgemeinen Technologie (2004);
– Allgemeine Technologie – verallgemeinertes Fachwissen und konkretisiertes Orientierungswissen zur Technologie (2007);
– Ambivalenzen von Technologien – Chancen, Gefahren, Missbrauch (2010);
– Technik – Sicherheit – Techniksicherheit (2012);
– Technologiewandel in der Wissensgesellschaft – qualitative und quantitative Veränderungen (2014);
– Technologie und nachhaltige Entwicklung (2016)
– Von der Idee zur Technologie – Kreativität im Blickpunkt (2018);
– Lebenszyklusanalysen. Stationen im Lebenszyklus von Technologien und Aspekte ihrer Bewertung (2020).
Diese Symposien wurden je nach Thema mit den Partnern
– Institut für Technikfolgenabschätzung und Systemanalyse (ITAS) des Forschungszentrums Karlsruhe in der Helmholtz-Gemeinschaft (jetzt: Karlsruher Institut für Technologie),
– Verein Brandenburgischer Ingenieure und Wirtschaftler e.V. (VBIW),
– Leibniz-Institut für interdisziplinäre Studien e.V. (LIFIS) und
– Professur für Grundschulpädagogik Sachunterricht der Universität Potsdam
durchgeführt. Ihre Ergebnisse wurden in den Bänden 50, 75, 99, 112, 116, 122, 130, 138 und 146 der „Sitzungsberichte der Leibniz-Sozietät der Wissenschaften“ veröffentlicht (online verfügbar unter >> https://leibnizsozietaet.de/publikationen/sitzungsberichte/ <<).
Das diesjährige 10. Symposium wurde wieder in Kooperation mit den Partnern VBIW und LIFIS an der Universität Potsdam, Campus Griebnitzsee, durchgeführt. In ihm wurden der Status quo bilanziert und die Tätigkeit des Arbeitskreises abschließend resümiert, sowohl hinsichtlich des Erreichten als auch des noch nicht Erreichten. Es ging dabei auch um Überlegungen zur Geschichte, zur Gegenwart und zur Zukunft einer Allgemeinen Technologie im Rahmen einer technischen (Allgemein-)Bildung.
Eröffnet wurde das Symposium durch Gerhard Banse und Frieder Sieber. Während Gerhard Banse das lange Wirken des Arbeitskreises und damit verbundene Ergebnisse hervorhob, ging Frieder Sieber insbesondere auf den Bezug des LIFIS zur Allgemeinen Technologie ein.
Den ersten Vortrag hielt Gerhard Banse zum Thema „Beiträge auf dem Weg zum Arbeitskreis Allgemeine Technologie der Leibniz-Sozietät der Wissenschaften – ein Rückblick“. Ausgehend von dem im Jahr 1806 erschienenen „Entwurf der Algemeinen Technologie“ von Johann Beckmann, dem „Geburtsjahr“ der Allgemeinen Technologie (AT), ging er zunächst auf die Tätigkeit des in der Beckmannschen Tradition stehenden Arbeitskreis AT der Leibniz-Sozietät ein. Die Ergebnisse dieses Wirkens sind umfassend dokumentiert. Deshalb nahm die fast zweihundertjährige, weitaus weniger dokumentierte „Vorgeschichte“ der Gründung des Arbeitskreises, also der Zeitraum von 1806 bis 2001, einen breiten Raum ein. Es wurde die Entwicklung allgemeintechnologischer Überlegungen hinsichtlich der Weiterführung des Ansatzes einer AT im 19. Jh., an der Wende zum und im frühen 20. Jh., in der zweiten Hälfte des 20. Jh.s sowie zur Jahrtausendwende und danach exemplarisch skizziert. Dabei sowohl Beckmann als auch Karl Karmarsch folgend, wurden einerseits jeweils die Ebenen „(1) Systematisierung von technischen Sachsystemen“ und „(2) Schaffung von technischen Sachsystemen“, andererseits damit verbundene unterschiedliche Zielstellungen und Zielgruppen dargestellt.
Der Vortrag „Allgemeine Technologie – Elemente der Theorie und Anwendung“ von Dietrich Balzer, Werner Regenund Frieder Sieber ging auf die Anwendung der Methoden der Allgemeinen Technologie im Zusammenhang mit Arbeiten des LIFIS ein. Wie Dietrich Balzer, der vortrug, ausführte, besteht das Ziel der Allgemeinen Technologie als Technikwissenschaft darin, Strukturen und Parameter technologischer Systeme zu analysieren und zu bestimmen. Um dieses Ziel zu erreichen ist es besonders wichtig, neben den qualitativen Methoden auch quantitative Methoden einzusetzen. Zu den quantitativen Methoden gehört vor allem die mathematische Modellierung technologischer Systeme. Die mathematischen Modelle basieren auf Bilanzgleichungen in Form von Material-, Energie- und Impulsbilanzen. Viele Veröffentlichungen und Bestandsaufnahmen zur Allgemeinen Technologie vernachlässigen die quantitativen Methoden, die für die praktische Ingenieurtätigkeit von besonderer Bedeutung sind. Von besonderer Wichtigkeit für die Weiterentwicklung und Anwendung der Allgemeinen Technologie sind die Beziehungen zur Arbeits- und zur Kommunikationswissenschaft. Dabei geht es um einen Beitrag zur Gestaltung einer neuen Arbeitswelt, der vor allem in der koordinierten Entwicklung und Anwendung einer Vielzahl von Innovationsmethoden und in der erstmaligen Erstellung von Optimierungsalgorithmen für die Erhöhung der Effektivität der Arbeitsprozesse besteht. Ausgehend von der zentralen Stellung des Bauingenieurwesens innerhalb der Technikwissenschaften wurde exemplarisch auch die besondere Rolle der Bautechnologie innerhalb der Allgemeinen Technologie dargestellt.
„Was noch zu betrachten wäre – Anwendung der Prinzipien der Allgemeinen Technologie auf weitere Fachgebiete“ war der Titel des Vortrags von Norbert Mertzsch. Er ging darauf ein, dass in den Symposien der letzten Jahre Technologien unter den unterschiedlichsten Gesichtspunkten betrachtet wurden. Naturgemäß konnten dabei nicht alle verfügbaren Technologien gleichermaßen behandelt werden. An drei Beispielen wurde gezeigt, dass auch bei diesen die Prinzipien der Allgemeinen Technologie gelten. Als erstes Beispiel wurde der Gesamtkomplex der Metallurgie betrachtet, der trotz unterschiedlichster Einzeltechnologien auf gemeinsamen Prinzipien beruht. Dieser ist besonders von Interesse, da hier durch die Energiewende bedeutende Wandlungen bei der Reduktion der Metalle, weg vom Kohlenstoff als Reduktionsmittel nötig sind, was auch Auswirkungen auf weitere Technologiebereiche hat. Weiterhin wurde kurz auf das Bauwesen eingegangen, welches bei den bisherigen Symposien keine Rolle spielte. Als letztes Beispiel wurde die Möglichkeit der Anwendung der Prinzipien der Allgemeinen Technologie auf die Nutzung von Gebäuden beschrieben.
Im ersten Vortrag des Nachmittags „Der lange Weg von der Entwicklung bis zum Einsatz neuer Technologien – oder: Zukunftsfähige Fernwärme“, vorbereitet von Kerstin Becker und Ernst-Peter Jeremias, zeigte die vortragende Kerstin Becker am Beispiel der Fernwärme, warum viele Entwicklungen, die technisch sinn- und anspruchsvoll sind, ihren Weg in die Praxis nicht finden. Die Hindernisse, die einem Einsatz zeitgemäßer technischer Neuerungen entgegenstehen, wurden eingeteilt in:
- Wirtschaftliche Hindernisse unter den Wirkungen der Marktwirtschaft und den damit einhergehenden beschränkten Bilanzgrenzen der Betrachtungen;
- Technische Hindernisse, die auf lokalen und individuellen technischen Voraussetzungen beruhen.
- Arbeitsorganisatorische Hindernisse unter Einbeziehung von psychologischen Belastungen sowie Möglichkeiten und Grenzen der Wissensvermittlung,
- Gesellschaftliche und politische Hindernisse, die sich insbesondere in einschränkenden rechtlichen Rahmenbedingungen äußern, und
- Fragen der Wahrnehmung des Nutzens der technologischen Entwicklungen bei den Anwendern.
- Unzureichender Handlungsdruck aus den Erfordernissen des Klima- und Ressourcenschutzes.
Die Fakten umfassten Erkenntnisse, die im Laufe verschiedener Projektumsetzungen zur Optimierung der Wärmeversorgung von Quartieren vorwiegend in kleinen Städten im Nordosten Deutschlands im Verlauf der letzten 15 Jahre und durch Interviews mit Wärmenetzbetreibern, auf Geschäftsführungs- und Technikerebene, mit Herstellern und Entwicklern neuer Technologien sowie mit Fernwärmenutzern gewonnen wurden. Schlussfolgernd wurde dargelegt, unter welchen Voraussetzungen neue Technologien in der Praxis zur Anwendung gebracht werden und welche Aspekte bei der Technologieentwicklung neben den rein technischen Fragestellungen zu beachten sind.
Den nächsten Vortrag hielt Gerda Haßler zum Thema „Lebenszyklen und Paradigmenwechsel in der maschinellen Verarbeitung von Sprache“. Die Idee, Sprache mittels maschineller Verarbeitung verstehbar und handhabbar zumachen, ist Jahrhunderte alt. Im technikbegeisterten 18. Jh. hatte ein regelrechter Wettlauf darum eingesetzt, wem es als Erstem gelingen würde, eine funktionierende und zugleich aber auch qualitativ überzeugende Methode zur Sprachsynthese bereitzustellen, wofür die Sprechmaschine Wolfgang von Kempelens (1734–1804) steht. Seit mehr als einem halben Jahrhundert gibt es ernst zu nehmende Versuche, menschliche Sprache maschinell zu verarbeiten. Die in den 1960er Jahren verwendeten Systeme versuchten sich an semantischer Informationsverarbeitung, verwendeten aber überwiegend einfache Mittel (Muster, Heuristiken) sowohl für syntaktische als auch für semantische Verarbeitung. In den 1970er Jahren wurden ambitioniertere wissensbasierte Experimentalsysteme entwickelt, die jedoch die unzufrieden stellende Situation im Bereich der Wissensrepräsentation offenbarten. In den 80er Jahren wurde auf diese Situation mit Logik-orientierten Formaten reagiert und die Kommerzialisierung begann. Mit dem Beginn des Internetzeitalters wurden die computerlinguistischen Methoden mehr an der beobachtbaren sprachlichen Oberfläche ausgerichtet und zunehmend wurden empirisch orientierte statistische Verfahren entwickelt. Dieser „statistical turn“ der 1990er Jahre war erfolgreich und führte dazu, dass die Entwicklung von Spracherkennungssoftware ausschließlich auf der Basis statistischer Verfahren betrieben wurde. Das danach erfolgende Aufgeben der strikten Trennung zwischen Sprachtechnologie und Computerlinguistik brachte Erfolge, die vor allem in Verfahren der natürlichsprachlichen Suche im Web, maschineller Verarbeitung gesprochener und geschriebener Sprache, der Entwicklung von Korpora-Verwaltungswerkzeugen und der Computer-gestützten Übersetzung sichtbar sind. Noch vor fünf Jahren wurden die Ergebnisse der maschinellen Übersetzung auf dem Hintergrund einer sechzigjährigen Entwicklung als ernüchternd eingeschätzt. Erst seit Beginn der 1980er Jahre konnte sie in eingeschränkten Bereichen Ergebnisse von höherer Qualität liefern. Inzwischen gibt es gut funktionierende und jedermann zugängliche Übersetzungssysteme (DeepL), die auch kontextuelle und idiomatische Voraussetzungen der Sprachverwendung berücksichtigen. Dennoch bleiben die Grenzen der maschinellen Sprachverarbeitung auch in modernsten Übersetzungssystemen sichtbar.
Bernd Meier widmete seinen Vortrag „Allgemeine Technologie und Lehrerbildung – Allgemeine Technologie als Basiswissenschaft für die allgemeine technische Bildung?“ der Entwicklung der fachwissenschaftlichen Ausbildung von Lehrkräften für Technik an allgemeinbildenden Schulen. Dabei erfolgte eine Fokussierung einerseits auf die Ausbildung von Lehrkräften für den Polytechnischen Unterricht nach der 3. Hochschulreform in der DDR und andererseits auf die Weiterentwicklung des Konzepts nach der politischen und gesellschaftlichen Wende nach 1990 und hier vor allem im Rahmen der Hochschulreform im Bologna-Prozess zur Konstituierung von Bachelor- und Masterstudiengängen. Anhand von ausgewählten Kriterien, wie Technikbegriff; Funktion, Struktur, Klassifikation technischer Systeme, Technikentstehung im soziotechnischen Kontext, Technikverwendung im soziotechnischen System, Theorien der technischen Entwicklung sowie Technikbewertung, wurde exemplarisch untersucht, inwieweit die Allgemeine Technologie als eine wichtige Basiswissenschaft für die Ausbildung von Techniklehrkräften genutzt wurde.
Mit dem Vortrag „Produktionsschule heute – Allgemeine Technologie handlungsorientiert im Übergangssystem“ von Dirk Plickat (Vortragender) und Martin Mertens wurde in ein Handlungsfeld eingeführt, das selbst in pädagogischen Fachkreisen wenig bekannt ist. Idee und Konzept der Produktionsschule stehen im (west-)deutschen Weg im Schatten tradierter berufspädagogischer Leitvorstellungen. Zumindest bis Mitte der 70er Jahre des 20. Jh.s schien Produktionsschule in Westdeutschland nur noch Gegenstand historischer Interessen zu sein. Im Zuge der ersten größeren westeuropäischen Welle der Jugendarbeitslosigkeit erfolgten in Dänemark und unter Loslösung von historischen Debatten vielfältige Experimente mit produktionsschulorientierten Reformkonzepten, die trotz ihres improvisierten Charakters ihre Leistungsfähigkeit und ihre Passung zu den Lebenslagen benachteiligter Heranwachsender ausweisen konnten. Die dänischen Erfahrungen initiierten eine Reformbewegung auch in Deutschland mit sehr wechselhaften Entwicklungen. Bis heute kennzeichnen Konflikte und Friktionen das Verhältnis zwischen konventionellen Regelstrukturen und Produktionsschule. Sie wirken belastend auf weitere Entwicklungen. Erschwerend treten anhaltende soziale Stigmatisierungen des Personenzielkreises sowie strukturell erzwungene Fokussierungen auf Kompensationsaufgaben hinzu. Für Produktionsschulen sind gegenwärtig zumindest drei Kardinalprobleme im Rahmen ihrer politischen Isolation und anhaltenden Unterversorgung nicht zu bewältigen:
- Bei etwas genauerer didaktischer Analyse tritt hervor, dass sie im Bildungssystem eigentlich „Lückenfüllerin“ der Leerstellen ist, welche durch die Selbst-Dekapitation von Arbeitslehre und Technik entstanden sind. Kerninhalte, die die Produktionsschulen zu großen Teilen vermitteln, sind lernbiographisch (zu) spät einsetzende Kompensation für Allgemeinbildung in Feldern von Persönlichkeitsbildung, sozialem Lernen und Allgemeiner Technologie als Grundbildungselemente heutiger Moderne.
- Eine erzwungene kultuspolitische und berufspädagogische „Käfighaltung“ in einem System, das weder über eine systematische innere noch über eine äußere Anschlussfähigkeit verfügt.
- Betoniert anmutenden Vorstellungen in Kultuspolitik und Berufspädagogik, die jede Näherung an Ideen und Potenziale von Produktionsschule grundsätzlich überflüssig erscheinen lassen, weil ein Reformbedarf des Bestehenden nicht einmal als erwägenswert betrachtet wird.
Der vorgesehene Vortrag „Die Rolle der Allgemeinen Technologie in der Grundschulbildung im Land Brandenburg – Tendenzen, Herausforderungen und Chancen“ von Björn Egbert konnte aus organisatorischen Gründen bedauerlicherweise nicht gehalten werden.
In seinem Schlusswort dankte Norbert Mertzsch den 20 Teilnehmer*innen für ihr Interesse und ihren Beitrag zum Gelingen des Symposiums. Bedauerlicherweise ist die Etablierung der Allgemeinen Technologie im Hochschulbereich bei den technischen Fächern für „Technologieschöpfer“ trotz intensiver Bemühungen nicht gelungen. Doch gerade hier könnte die Allgemeine Technologie als einigendes Band dienen: Bei der derzeitigen Vielfalt der Abschlüsse an Hochschulen und Universitäten kann man die Gefahren einer „babylonischen Sprachverwirrung“ und zu großer Spezialisierung der Absolventen vermuten. Da sich aber die Innovationszyklen immer mehr verkürzen, könnte das erworbene spezialisierte Wissen schnell wertlos werden. Um dann eine Grundlage zu haben, auf der schnell wieder Anschluss gefunden wird, könnte die Allgemeine Technologie als Orientierungsgrundlage dienen. Weiter informierte er, dass der VBIW mit diesem Symposium seine Zusammenarbeit mit der Leibniz-Sozietät der Wissenschaften zu Berlin e.V. beenden muss. Grund ist die beschlossene Auflösung des Vereins zum Jahresende. Er dankte der Leibniz-Sozietät der Wissenschaften zu Berlin e.V. und insbesondere Gerhard Banse und dem verstorbenen Ernst-Otto Reher als Arbeitskreisleiter, die den VBIW zur Mitarbeit einluden.
Die zeitnahe Publikation der Beiträge in den „Sitzungsberichten der Leibniz-Sozietät der Wissenschaften“ ist vorgesehen.
Gerhard Banse, Norbert Mertzsch
Ko-Vorsitzende des AK Allgemeine Technologie
(Foto: Christian Schlossnickel)