Band 31 der Abhandlungen der Leibniz-Sozietät erschienen
Ergebnisband der Jahreskonferenz 2012 der Leibniz-Sozietät ist als Band 31 der „Abhandlungen der Leibniz-Sozietät der Wissenschaften“ erschienen.
Gerhard Banse; Lutz Günther Fleischer (Hg.):
Energiewende – Produktivkraftentwicklung und Gesellschaftsvertrag. 5. Jahreskonferenz der Leibniz-Sozietät der Wissenschaften 2012.
Berlin: trafo Wissenschaftsverlag 2014, 315 S.; ISBN978-3-86464-006-3
Vorsatz und Inhaltsverzeichnis
Text Rückseite
Autorenverzeichnis
EINLEITUNG
„Bei einer Wende erfolgt ein Kurswechsel, bei dem das Schiff mit dem Bug durch den Wind geht, das heißt der Wind kommt während des Manövers kurzzeitig auch von vorn“[1]. Er bläst den Akteuren daher buchstäblich ins Gesicht. Dieser Bordwind resultiert aus dem atmosphärischen Wind und dem Fahrtwind. „Seine Richtung wird vom Verklicker an der Mastspitze des Bootes angezeigt. Je nach Kurs zum Wind unterscheiden sich die Stellung der Segel und ihr Trimm“ [2]. Beim Kommando „‚Klar zum Wenden‘ […] sollte der Steuermann bereits auf einem ‚Am-Wind-Kurs‘ sein“ [3]. Letztendlich geht es darum, das Großsegel und danach die Fock sicher auf den neu gewählten Kurs einzustellen und dynamisch verbessernd auf ihm bestmöglich voranzukommen.
Was „Die freie Enzyklopädie Wikipedia“ für die Wende als anspruchsvollem Manöver beim Segeln aussagt, wird – ebenso wie die darin einbezogenen Wörter: Schiff, Wind, Kurs, segeln, trimmen, steuern – vielfach durchaus hilfreich als gedanklich anregende und verständnisfördernde Metapher in Anspruch genommen.
Hinsichtlich der Energiewende in Deutschland drängt sich zunehmend der Eindruck auf, dass bei diesem herausragenden „Wendemanöver“ mit einschneidenden gesamtgesellschaftlichen Veränderungen gegenwärtig widrige Verhältnisse, wie Starkwinde, Unsicherheiten (leider auch bemerkenswerte Mißweisungen) bei der Kursbestimmung und der Einhaltung der gewählten Richtung, herrschen. Obwohl die „Verklicker“ technisch aufwändig verfeinert wurden, anzeigen und sogar ermitteln, woher der resultierende Bordwind weht, sind die Segel und ihr Trimm bei der Energiewende nicht auf einem „Am-Wind-Kurs“, geschweige denn „Klar zum erfolgreichen Wenden“. Einige Personen und Institutionen fordern und begründen deshalb einen Reset. Das Institut für Technikfolgenabschätzung und Systemanalyse (ITAS) im Karlsruher Institut für Technologie (KIT) thematisiert die „Energiewende 2.0“, um sie als eine tief in die Gesellschaft eingreifende Transformation des soziotechnischen Systems (2.0) zu apostrophieren [4]. In den vorgelegten Abhandlungen werden Sie – auf der Basis einer eingehenderen (offenen) Bestimmung des Begriffs Energiewende – dezidierte Ausführungen von Autoren auch zu diesem, vom ITAS 2013 verlautbarten Standpunkt finden.
Mit der sachlich gebotenen umfassenden Thematik „Energiewende – Pro-duktivkraftentwicklung und Gesellschaftsvertrag“ hat die Leibniz-Sozietät der Wissenschaften einen zentralen Gegenstand aktueller wissenschaftlicher sowie politischer Debatten in den Mittelpunkt ihrer Jahrestagung 2012 gerückt [5] (das Programm ist als Anlage dieser Einleitung beigefügt). Das gewählte komplexe Problem verdeutlicht fast prototypisch ihr Grundanliegen: wissenschaftlich und gesellschaftlich bedeutsame Aufgaben und fachübergreifende Herausforderungen inter- und transdisziplinär zu erörtern, um aktuell Erforderliches und Zukünftiges – Mögliches, Erstrebenswertes, Notwendiges, zu Verhinderndes – faktenreich darzulegen.
Dass die Energiethematik auf Interdisziplinarität verweist, mehr noch: geradewegs darauf drängt, ist evident: Die damit verbundenen wissenschaftlichen Fragestellungen reichen von der Rohstofferkundung und -förderung über vielfältige Transport-, Wandlungs-, Speicherungs- sowie wichtige energetische Anwendungsprozesse in den unterschiedlichsten Nutzerbereichen bis zu effektiven Nutzungsmustern in mannigfaltigen technischen Applikationen – einschließlich der Probleme der Versorgungssicherheit und der Beeinflussung des Klimas.
Der im Alltäglichen nur vage umrissene Begriff Energiewende soll den schwierigen gesamtgesellschaftlichen Transformationsprozess in seinem für Deutschland typischen, vielfältigen und vielschichtigen Beziehungsgefüge, mit einem charakteristischen und dichten Problemgeflecht (einschließlich offener und verdeckter Widersprüche) sowie augenfällig andersgearteten – eben nicht alternativlosen – Realisierungsvarianten erfassen.
Die Energiewende ist objektiv ein gesamtgesellschaftlich abzustimmender, ebenso zu gestaltender, zu verwirklichender und zu verantwortender ganzheitlicher Transformationsprozess mit einer Reihe folgenreicher struktureller Veränderungen unter den gegebenen und sich ständig wandelnden nationalen, europäischen und globalen Bedingungen. Für dieses Problemspektrum existiert kein Fundus „fertiger Lösungen“. Es generiert vielmehr mannigfaltige und schwierige naturwissenschaftlich-technische, wirtschaftliche, ökologische, soziale, kulturelle und politische Herausforderungen, d.h. auch Such- und Lernprozesse.
Eine schlüssige Energiewende ist wesensgemäß nur als länger währender – in seiner Gesamtheit nach mehreren Dezennien zu bemessender – gesamtgesellschaftlicher Umgestaltungsprozess und damit auch als kultureller Umbruch zu verstehen sowie als „Gemeinschaftswerk“ erfolgreich zu gestalten. Dieses Geschehen bedarf ebenso aller materiellen und immateriellen Produktivkräfte: der natürlichen, geistig-kulturellen, humanen, wissenschaftlichen, technischen, technologischen und organisatorischen Ressourcen der Gesellschaft, wie des gesellschaftlichen Willens und des verpflichtenden Konsenses eines allerseits verbindlichen Gesellschaftsvertrags.
Es ist offenkundig: Nicht erst zur realen Gestaltung und zur effektiven Partizipation, sondern bereits zum annähernden Verständnis für die Mittel und Prozesse der Energiewende ist naturwissenschaftlich-technisches Basiswissen vonnöten. Dabei sind die Erhaltungssätze der Physik und das universelle Entropieprinzip von grundlegender Bedeutung. Dem folgt der bewusste Umgang mit eindeutig definierten oder in ihrem Inhalt und Umfang zumindest ausreichend beschriebenen wesentlichen Begriffen, um Mißverständnisse auszuschließen und Unbestimmtheiten weitgehend einzuschränken. Die wissenschaftliche Sorgfalt beginnt bei der objektiven Charakterisierung der Chiffre „Energiewende“ – selbst dann, wenn es sich lediglich um eine Legaldefinition handelt. Sie setzt sich vor allem in fachübergreifenden, inter- und transdisziplinären Darstellungen fort und sollte generell jegliche qualifizierte Meinungsäußerung einschließen.
Eine kleine, dennoch aufschlussreiche Episode soll die Anmerkung illustrieren: Können interessierte Bürger unseres Landes wirklich sachgerecht informiert und motiviert werden, wenn ausgerechnet die Agentur für Erneuerbare Energien e.V. (AEE) in ihrem Informationsportal in mehreren Zusammenhängen und nahezu leitmotivisch beteuert: „Deutschland hat unendlich viel Energie“ [6]? Müssen anerkennenswerte journalistische Kampagnen oder ein vordergründiges Marketingdesign wirklich den Konsens mit der elementaren Physik aufkündigen und, auf die Wirkung von Arabesken hoffend, trivialisieren. Selbst für die faktisch unerschöpflichen, weil sich unter den obwaltenden stationären Systembedingungen erneuernden bzw. erneuerbaren Energieträger, die Einkommensenergieträger, kann „unendlich viel“ beim besten Willen nicht testiert werden. Würde für Deutschland – die unter den gegebenen natürlichen Bedingungen nur zu ca. 50 % erreichte – jahresmittlere globale Strahlungsflussdichte (die solare Strahlungsleistung pro Flächeneinheit) von 240 W/m2 am vorderen (oberen) Ende der natürlichen Entwertungskette der Solarstrahlung innerhalb der komplexen Geosysteme unterstellt, resultierte für seine Gesamtfläche ein Leistungspotenzial von 85,7 TW (Terawatt) oder 1,067 MW (Megawatt) pro Einwohner. Die Zahlenwerte sind durchaus beachtlich, aber – wie objektiv geboten – verglichen mit dem Standard (der Benchmark) der Unendlichkeit: der abzählbar unendlichen Menge der Primzahlen oder der Mächtigkeit der Menge der natürlichen Zahlen, definitiv „sehr“ endlich. Ein Übriges tun – wegen der im AEE-Zitat vollkommen ignorierten, faktisch allerdings noch bedeutenderen qualitativen energetischen Aspekte und des universell „regierenden“ Entropieprinzips – die Wirkungsgrade der sich anschließenden natürlichen und technischen Transport- sowie Konversionsprozesse und andere Restriktionen.
Schon der bisherige Verlauf der Energiewende in Deutschland belegt eindringlich den fundamentalen Tatbestand, dass Wissenschaft, Technik und – in einer noch komplexeren Emergenzebene – die Technologien, wesensgemäß immer auch im Spannungsfeld von Markt, Macht und Moral (Mensch) stehen. Notwendigerweise bedürfen sie auf dem Weg ihrer Realisierung der öffentlichen Reflexion, klärender Debatten, argumentativer Dialoge und in deren Ergebnis wissensbasierter konsensualer Lösungen sowie Handlungsmuster mit selbstbeschränkenden Kompromissen.
Im vorliegenden Band werden Hauptinhalte des in hohem Grade komplexen gesamtgesellschaftlichen Transformationsprozesses „Energiewende in Deutschland“ in seinen signifikanten Kontexten umrissen, besonders das Wesen, die Verlaufsformen, Instrumentarien und Realisierungsbedingungen der immanenten Teilprozesse skizziert sowie konkurrierende Erwartungen an das zukünftige Energiesystem – mit seinem strukturellen/funktionellen Kern: der Elektroenergieerzeugung/-anwendung – aus den unterschiedlichen Perspektiven der Autoren erörtert sowie selbst erkundete und erlebte, absehbare bzw. wahrscheinliche Folgen beschrieben. Hervorgegangen sind die Beiträge aus der o.g. Jahrestagung 2012 der Leibniz-Sozietät, entweder aus Vorträgen auf ihr oder als Ergebnis von Anregungen durch sie. Dafür danken die Herausgeber allen Autoren.
Die Darlegungen in diesem Band wollen dazu beitragen, dass sowohl das relevante Sachwissen über die Funktionen und Strukturen der Energiewende, ihre Konstituenten und deren wechselseitige Beeinflussungen, die Bedingungen, Verlaufsformen sowie ihre Ursachen und Triebkräfte als auch die Sinngebung transparent vertieft und erweitert werden. Zielsetzungen, finale Orientierungen, ergeben sich nicht unmittelbar aus den Mitteln: den technischen Optionen, den mit dem Entwurf, der Gestaltung und dem Betrieb technischer Sachsysteme befassten Wissenschaften oder den unverzichtbaren MINT [7] -Kompetenzen. Sie sind erkennbar Mittel zum auch interessengeprägten Zweck. Wisssensoziologen umschreiben diese Beziehungsgefüge auch mit den gebräuchlichen Termini Verfügungs- und Orientierungswissen.
Einige Autoren haben ihre Beiträge natur- und/oder technikwissenschaftlich akzentuiert, andere die komplementären ökonomischen, ökologischen, sozialen und politischen Implikationen einzeln oder im Kontext als Schwerpunkt gewählt.
Insgesamt bietet der so entstandene Band der „Abhandlungen“ ein facettenreiches Gesamtbild dieses herausragenden Wandlungsprozesses. Naturgemäß sind – selbst aus der Sicht der Wissenschaft und mit ihren Kriterien urteilend – die Meinungen über zu exponierende Ziele und Mittel, mehr noch über präferierte Umsetzungsvarianten dieser komplexen Veränderungen erheblich differenziert, ja, auch gegensätzlich.
Wir hoffen, dass die Diskussion zu relevanten Fragen und Problemen der Energiewende aus der Sicht einzelner Fachgebiete sowie aus inter- und transdiszi-plinären Perspektiven in den Foren und mit Hilfe der Medien der Leibniz-Sozietät der Wissenschaften zu Berlin fortgeführt wird und laden alle daran Interessierten aus der Öffentlichkeit gleichfalls dazu ein.
Die Leibniz-Sozietät dankt ausdrücklich der Berliner Senatsverwaltung für Wissenschaft, Technologie und Forschung, die die Jahrestagung finanziell gefördert hat. Unser Dank gilt ebenfalls der Rosa-Luxemburg-Stiftung in Berlin und in Potsdam, die die Tagung und die daraus resultierende Publikation finanziell unterstützten. Ein Dank der Leibniz-Sozietät der Wissenschaften zu Berlin gebührt zudem der Regierung des Landes Brandenburg – vor allem dem Finanz- und dem Wirtschaftsminister. Auf deren Bitte fand die Jahrestagung der Leibniz-Sozietät erstmals in Potsdam und nicht, wie sonst üblich, in Berlin statt. Das hat sich durchaus bewährt.
Berlin, September 2013
Gerhard Banse
Lutz-Günther Fleischer
[1] Vgl. http://de.wikipedia.org/wiki/Wende_(Segeln).
[2] Vgl. http://de.wikipedia.org/wiki/Kurse_zum _Wind.
[3] Vgl. Fußnote 1.
[4] Vgl. „Schwerpunkt: Energiewende 2.0 – vom technischen zum soziotechnischen System?“. In: TATuP – Technikfolgenabschätzung – Theorie und Praxis, Jg. 22, Nr. 2, S. 11–62. – URL: http://www.tatup-journal.de/downloads/2013/tatup132.pdf.
[5] Vgl. Rothe, H.-J.: Energiewende – Produktivkraftentwicklung und Gesellschaftsvertrag. 5. Jahrestagung der Leibniz-Sozietät am 31. Mai 2012 in Potsdam. In: Leibniz intern. Mitteilungen der Leibniz-Sozietät, Nr. 56 vom 15. Juli 2012, S. 19–20. – URL: https://leibnizsozietaet.de/wp-content/ uploads/2012/10/LI-561.pdf.
[6] Vgl. http://www. unendlich-viel-energie.de/de/service/ueber-uns.
[7] MINT: Akronym für die Fachgebiete Mathematik, Informatik, Naturwissenschaften, Technik