Einsichten und Ansichten

Eröffnungsrede von Lutz-Günther Fleischer zum Ehrenkolloquium der Leibniz-Sozietät am 10. September 2020

Meine sehr verehrten Damen und Herren, hoch geschätzte Gäste, Referenten, Laudatoren, liebe Kolleginnen und Kollegen der Leibniz-Sozietät der Wissenschaften zu Berlin, vor allem aber liebe Jubilare:

Hubert Laitko (03.04.1935), Hans-Otto-Dill (04.07.1935), Dietmar Linke (11.03.1940) und Peter Knoll (14.06.1940).

Ich freue mich – nach Monaten einer von der Vernunft grundsätzlich und objektiv gebotenen räumlichen Distanzierung – Sie/Euch heute in diesem Auditorium von Angesicht zu Angesicht begrüßen und ansehen zu können. Ansehen steht zugleich für Wahrnehmung, Anerkennung, Kompetenz, Renommee und soziale Wertschätzung.

Ihnen allen danke ich für das Kommen, die damit bekundete Ehrbezeugung gegenüber vier verdienstreichen Mitgliedern unserer Sozietät und das zugleich avisierte Interesse an den ausgewählten verschiedenartigsten Themen unseres Kolloquiums, die mit den wissenschaftlichen Anliegen der Jubilare korrespondieren und zu denen Ihnen Abstracts vorliegen.

Geburtstag – insbesondere ‚runde Geburtstage‘ – wie ihre im Familien- und Freundeskreis unlängst begangenen, bieten lediglich einen Anlass, denn solche Ehrentage sind kein individuelles Verdienst, wohl aber willkommene Gelegenheiten zum Würdigen und Danken. Im Namen des Präsidiums bedanke ich mich bei den Familienmitgliedern für ihre Förderung der Leibniz-Sozietät, indem Sie ‚Lebenszeit spendeten‘ und bis in die Gegenwart Verständnis für unsere Anliegen aufbringen. Den vier Jubilaren danke ich zudem persönlich für die – teils in verschiedenen wissenschaftlichen Institutionen – Jahrzehnte währende, bereichernde, anregende und ermutigende Zusammenarbeit.

Kolloquien, wie das heutige, sind immer zugleich akademische Ehrungen der Jubilare sowie Arbeitsebenen und Kommunikationsforen zur Verständigung über das anzuregende gemeinnützige Engagement der Wissenschaft und deren humanistische Entfaltung als Teil und Ganzem – dem hauptsächlichen Anliegen der Leibniz-Sozietät. Ein Gutteil ihrer Mitglieder fördert – wie die Jubilare in besonderer Weise – die Wissenschaft mit ihrem freiwilligen, ehrenamtlichen und finanziell nicht entgoltenen Engagement. Wer das Ethos der Wissenschaft nicht als Maxime verinnerlicht, sieht darin vermutlich einen Anachronismus. Unsere vornehmliche Gelehrtengemeinschaft bietet den Mitgliedern nicht zuletzt ein lebendiges Forum des inter- und transdisziplinären Meinungsaustauschs (wozu Etliches zu sagen wäre, was sich u. a. aus Zeitgründen hier und heute verbietet, aber gewiss zum Leibniz-Tag und in den Beratungen des wissenschaftlichen Beirates ausführlicher geschehen wird).

Mit dem Bericht zum Leibniz-Tag, der am 26.11.2020 als Präsenzveranstaltung in der Archenhold-Sternwarte stattfindet, werden wir auf die gegenwärtigen und vermutlichen zukünftigen Wirkungsmöglichkeiten ebenso ausführlich eingehen, wie auf einige Probleme der Strukturierung und Leitung unserer Sozietät. Hier sei dazu kompakt nur angemerkt: Das Präsidium hat im Juli alle Mitglieder zum Rücktritt des ehemaligen Präsidenten Rainer E. Zimmermann ohne Polemik gegenwartsnah informiert und aus gegebenem Anlass jedem, der es wünscht und sich der Mühe unterzieht, die Möglichkeit geboten, maßgebliche Original-Quellen, wie die auslösende Rezension, ,sine ira et studio‘ selbst zu studieren, dabei Anlässe und Ursachen zu differenzieren sowie daraus eigene Schlüsse zu ziehen. Es widerspricht beweisbar den Tatsachen, dass, wie vereinzelt geäußert, einige (also mindesten zwei) Angehörige des Präsidiums den Rücktritt angestrebt hätten. Das objektive Sichten und Filtern verfügbarer Informationen würde – ebenso wie die stringente Logik – die notwendige Klarheit schaffen.

Soweit die personalisierte Chronistenpflicht. Einige Anmerkungen zur inhaltlichen Tätigkeit.

Im Ergebnis wegweisender Projekte sind mehrere Publikationen als Abhandlungen und Sitzungsberichte erschienen und auf unserer Webseite dokumentiert.

Trotz der seit Monaten unter den Bedingungen der Corona-Pandemie signifikant eingeschränkten Möglichkeiten für die Arbeit unserer Sozietät, konnten wir – dank der ständig umfassenderen und leistungsstärkeren Digitalisierung und neuer Technologien — ausgewählte analoge wissenschaftliche Veranstaltungen mit digitalen Formaten teilweise aufwiegen, uns so erfolgreich zu Wort melden, miteinander in Kontakt und sozial vernetzt bleiben. Selbst wenn die Atmosphäre einer Präsenz-Veranstaltung und die persönlichen Begegnungen einzigartig bleiben, können uns digitale Technologien – in ihrer derzeitigen Dominanz jedoch hoffentlich nur für möglichst kurze Zeitintervalle – dabei helfen, die schwierige aktuelle Situation zu meistern. In den digitalen Raum transformierte wissenschaftliche Aktivitäten sorgen grundsätzlich für nachhaltige Innovationen, helfen Netzwerke zu formieren, fortschrittsfördernde Trends herauszubilden und Wissen effektiv auszutauschen.

Wenn wir – sobald es die gesellschaftlichen Umstände wieder zulassen – in Zukunft mit der wirkmächtigen Komplementarität und Hybridisierung, einer verstärkten Kooperativität und der noch stärkeren Kopplung von analog und digital operieren können, wird das mit beachtlichem Gewinn möglich sein. Dafür gilt es in der Sozietät konsequent neue Szenarien zu entwerfen, gemeinsam zu erproben sowie unser technisches Equipment anzupassen und sachdienlich zu erweitern.

Die Leibniz-Sozietät will und kann erwiesenermaßen den Erkenntnisfortschritt, das Verständnis für die zumeist interferierenden wissenschaftlichen und facettenreichen gesellschaftlichen Probleme fördern, indem sie im kollegialen wissenschaftlichen Meinungsstreit adäquate Lösungsmöglichkeiten erörtert und. Damit unterstützt sie außerdem die Publizität ihrer Mitglieder, generiert Anerkennung und Wertschätzung. Dass ein Großteil der essentiellen Probleme fachübergreifende komplexe Strukturen aufweist sowie mannigfaltig vernetzte Funktionen erfüllen muss und damit nur in Ausnahmefällen der überlieferten Gliederung der Wissenschaft folgt, ist evident. Ebenso gehört dies zu den wiederholt vorgetragenen und publizierten Erfahrungen unserer, mit dem Kolloquium zu ehrenden Jubilaren.

Insbesondere beim Paradigmenwechsel in den Forschungs- und Verstehensperspektiven bewährt es sich, die Wissenschaft vornehmlich als gesellschaftlich einzigartig bewegenden Prozess zu praktizieren und sie erst im Rang nachfolgend (dennoch nicht minder gewichtig) als wertvolles Resultat aufzufassen. Das hoch dynamische Verstehen und rezent sachdienlich adaptierte Bewältigen der Corona-Pandemie bietet dafür ein exzellentes Beispiel. Ebenso anschaulich und faktenreich werden das überdies die Fachvorträge und die Laudationes heute demonstrieren.

Für jede einzelne Wissenschaft sowie ihre strukturell und logisch rhizomatische Gesamtheit gelten im Kern und uneingeschränkt, die Kriterien der Ableitung ihrer Fragestellungen sowie Schlussfolgerungen aus der Realität und der reich gegliederten Praxis, die semantische und logische Widerspruchsfreiheit sowie die tendenziell fortwährend strengere Prüfung und damit Verbesserung der falsifizierbaren Hypothesen/Theorien. Konglomerate aus bloßen Meinungen/Behauptungen und meist homöopathisch dosierten Wahrheiten sind verführerisch schillernd und eingängig, für Individuen und Gesellschaften jedoch generell irreführend, häufig sogar hoch toxisch.

Die zunehmenden wirtschaftlichen und sozialen Verwerfungen, die die in den jüngsten Jahrzehnten sich unvergleichlich vernetzende Welt mit der inhärenten Globalisierung in zahlreichen Gesellschaften verursachte, sind unbewältigt. Sie erfordern – auch von unserer Sozietät – wahrlich neuartige Antworten. Zuweilen überfordert die – auf der Grenze zum Chaos unbeherrscht wachsende – hochdimensionale Komplexität solcher Anforderungen den menschlichen Verstand und die Emotion.

Auch am Beispiel der komplexen, vielfältigen und die Mehrheit der Menschen unmittelbar betreffenden Probleme und Herausforderungen der bereits angesprochenen Corona-Pandemie zeigt sich, dass und wie sich die ambivalenten öffentlichen und personifizierten Debatten mit dem dynamischen Wissenschaftsdiskurs verschränken. Gleichfalls epidemische Phänomene, wie „Alternative Fakten“ und „Fake News“, penetrieren selbst die Wissenschaften, versuchen die Fundamente jeglichen Wissens, Erkennens und des zumindest intersubjektiven Bewertens zu erschüttern sowie deren Reflexionen abzuwerten, zu paralysieren oder sogar total zu negieren. In diesem Kontext sei aus der ‚Produktinformation‘ zu Signifikant: Jahrbuch für Strukturwandel und Diskurs/Band 2 (2019) Berlin, xenomoi-Verlag, herausgegeben von R. E. Zimmermann et al. (der diese Formulierung wiederholt wortgetreu nutzte), zitiert: „Offenbar ist die Bereitschaft, zugunsten der eigenen Argumentation großzügig über konstatierte Fakten hinwegzugehen oder diese umzuinterpretieren, stark angestiegen. Auffassungen, Sichtweisen, Haltungen oder einfach nur Meinungen werden nur als solche anerkannt, wenn sie von vornherein dem entsprechen, was man selbst vertritt.“ Die Wahl einer Verhaltensweise liegt im eigenen Ermessen und indiziert die persönliche Verantwortung.

Die rezente Wissenschaft ermittelt und verifiziert im Widerstreit von fachlicher Spezialisierung und Universalisierung zunehmend mannigfaltige komplexe Zustände und Prozesse, verschiedenartige Wirkmechanismen, spezifische und verallgemeinernde Gesetze aller relevanten realen und ideellen Bereiche. Gesellschaftlich entwicklungsbestimmend ist, dass außer dem gewaltigen wissenschaftlichen Erkenntnisgewinn und der fortschreitenden Bildung auf diese Weise Technik und Technologien direkt revolutioniert und damit auf ein tendenziell fortschrittsförderndes Niveau gehoben werden. Und wo bleiben der ‚Verstand zur Verständigung‘, der ‚vernunftbegabte‘ Mensch und die menschliche Gesellschaft mit all ihren Mantra gleich deklarierten Attributen?

Das Leibniz’sche „Theoria cum praxi et commune bonum“ ordiniert nicht nur die Einheit von Theorie und experimenteller Praxis in der Forschung vor allem der empirischen Wissenschaften, sondern verpflichtet ebenso jede Person und die Gesellschaft in toto, die theoriegeleitete Weise vernünftigen Handelns in dieser Welt zum Gemeinnutz konsequent einzusetzen. Ein Handeln, das mit Widersprüchen, der Vieldeutigkeit, mit belastenden Unbestimmtheiten sowie unkalkulierbaren Risiken zurechtkommen und trotz seiner Unübersichtlichkeit überzeugend vermittelt werden muss, während andere Protagonisten gleichzeitig radikal vereinfachte und damit ‘eingängige‘ Antworten anbieten und protegieren.

Unter den Bedingungen ‚relativierter‘ (oder sogar bestrittener) Wahrheiten und der Dominanz eines rücksichtslosen Egoismus des Handelns, der partikulare Interessen zum Zweck erhebt und überdies ideologisiert, ist es um das ‚commune bonum‘ schlecht bestellt.

Angesichts zerrissener Gesellschaften – unsere eingeschlossen – zunehmend verunsicherter Menschen und obsoleter Ansätze für essentielle Probleme des 21. Jahrhunderts, ist das ein Alarmsignal. Unzureichende, weil disjunkte Begrifflichkeiten zur Charakterisierung (Beschreibung und Erklärung) von Sachverhalten und Prozessen, überholte Muster, Modelle und Methoden für erfolgversprechendere Lösungsansätze zur nachhaltigen und menschenwürdigen Entwicklung der Wissenschaft, Technik, Technologie, der Wirtschaft und der Gesellschaft komplizieren die Situation. Jeder Einzelne muss sich dazu verhalten und nach Maßgabe seiner Mittel und Möglichkeiten an wirkungsvollen kollektiven Aktionen beteiligen.

Der Philosoph Hans Jonas beschäftigte sich schon vor Jahrzehnten mit dem „Ideal– und Realwissen“ einer jeden Zukunftsethik und formulierte 1979 das mehr denn je objektiv geforderte Prinzip Verantwortung: Handle so, dass die Wirkungen deiner Handlung verträglich sind mit der Permanenz echten menschlichen Lebens auf Erden.“ (Jonas, H. (1979): Das Prinzip Verantwortung, Berlin, S. 39) Auch unser Kolloquium steht unter diesem ethischen Imperativ des moralischen Handelns. In diesem Sinne wünsche ich uns nicht nur heute jeden erdenklichen Erfolg, sondern vor allem für unser zukünftiges Wirken – unter den sich evolutiv ständig, rasch, in manchem grundlegend und irreversibel wandelnden, herausfordernden komplexen Bedingungs- und Beziehungsgefüge – einfallsreich entwickelte und wissenschaftlich gemeinsam verteidigte intelligente Lösungen Und: Dafür die unverzichtbare Schaffenskraft sowie bestmögliche Gesundheit.