Bericht zur Sitzung des Arbeitskreises “Gesellschaftsanalyse” am 10. Mai 2024
Michael Thomas
Kurzbericht zur Diskussion des Arbeitskreises „Gesellschaftsanalyse“ der Leibniz-Sozietät am 10. Mai 2024.
In seiner thematischen Reihe „Zeitdiagnosen: Gesellschaften im Umbruch – Analysen und transformatorische Chancen“ führte unser Arbeitskreis zum genannten Termin eine weitere Buchvorstellung und Diskussion. Grundlage dafür war das unlängst erschienene Buch von Katharina Bluhm „Russland und der Westen“ (Matthes & Seitz 2024).
Für die Vorbereitung hatte Dieter Segert das Thema spezifiziert auf „Kultur und moralisierende Weltsichten als Kriegstreiber in Russland und bei uns“. Entsprechend wurden vorab nicht nur Auszüge aus dem genannten Buch verschickt, sondern einige thematische Artikel sowohl von Dieter Segert selbst wie ein Interview mit dem einflussreichen russischen Politologen Sergej Karaganow.
An der Sitzung des Arbeitskreises (wiederum führten Deutsche Bahn und gesundheitliche Probleme zu einzelnen Absagen) nahmen 14 Personen teil. Einige kamen erstmalig und möglicherweise nur speziell zu diesem Thema zu einer Sitzung. Auch darin zeigten sich ein deutliches Interesse wie ein erheblicher Diskussionsbedarf, der – um es zusammenfassend zu sagen – nicht immer ausreichend einzufangen, vielleicht für die unterschiedlichen Herkünfte und Zugänge auch nicht zu befriedigen war. Es überwogen eindeutig einerseits generelle politische Fragestellungen (etwa hinsichtlich der Ernsthaftigkeit der von Karaganow vertretenen Szenarien möglicher atomarer Schritte oder zur Genesis und Verflechtung der russischen Kriegspolitik mit jüngeren historischen Ereignissen in Europa) und solche zu einzelnen politischen Aktivitäten in und um Russland (beispielsweise zum Umgang mit so identifizierten „ausländischen Agenten“, zum jeweiligen politischen Jargon oder dem Agieren verschiedener Oligarchengruppen). Dabei schälte sich als eine starke und weitgehend geteilte Einschätzung heraus, dass insgesamt zu wenig Anstrengungen unternommen werden, um zu einem Ende dieses Krieges zu kommen. Über Ursachen des Krieges, über einzelne mögliche Schritte aus der Sackgasse etc. wurde – wenig überraschend – durchaus gestritten. Dass hier dann auch gelegentlich subjektive, teils emotionale und nicht unbedingt wissenschaftlich untersetzte Sichtweisen eingeflossen sind, hat zum Teil eine gewisse Unzufriedenheit bei einzelnen ausgelöst. Es ließ sich aber auch nur schwer vermeiden; und es gehört wohl auch zu der Eigenart, mit welcher das Thema etwa im öffentlichen medialen und politischen Raum (nicht hinreichend) behandelt wird.
Das Buch von Katharina Bluhm versprach hierfür eine bessere, solide Grundlage. Denn die Autorin, Professorin am Osteuropainstitut der Freien Universität, hatte ihre historisch angelegte Tiefenrecherche zu Russland angesichts des Überfalls Russland noch einmal etwas schärfer justiert: Es sollten Hintergründe und Zusammenhänge aufgedeckt werden, die unverzichtbar sind für ein Verständnis insbesondere des russischen Agierens und so eben auch für den Umgang mit diesem gefährlichen, zerstörerischen Konflikt. Eine entsprechende Einführung in den Text nahm Dieter Segert vor.
Katharina Bluhm geht davon aus, dass die (beiderseitige) ideologische Reaktivierung des Gegensatzes von Russland zum „Westen“ – wobei der Westen als eine „komplexe transatlantische Struktur mit den USA als Hegemon“ anzusehen ist (vgl. S. 8) – von zentraler Bedeutung für den Krieg ist. Insofern sind es dann auch vor allem die 1990er Jahre, denen die Autorin eine hohe Relevanz zuschreibt. Das ist zunächst nicht so überraschend, findet sich ebenso in der 2019 publizierten einschlägigen Studie von Krastev und Holmes (Das Licht, das erlosch) wie etwa bei Mary E. Sarotti (Nicht ein Schritt weiter nach Osten) in deren faszinierenden politischen „Krimi“ von 2023. Bluhm kann vor allem aber auch das historische Kolorit der Umbruchjahre mit den hauptsächlichen politischen Kontrahenten (Gorbatschow, Jelzin) gut einfangen. Vor allem aber liegen besondere Bedeutung, Anregung und auch Herausforderung der Studie darin, dass hier ausgehend von dieser These einer Reaktivierung ideologischer Gegensätze die komplexen Zusammenhänge zwischen ökonomischen, politischen und vor allem auch moralisch-kulturellen Faktoren russischer Geschichte sichtbar gemacht werden. Das schließt Aspekte der „langen Geschichte“ und deren wirkungsmächtige „Anrufung“ durch bekannte Protagonisten wie Alexander Dugin oder unterschiedliche Slawophile ebenso ein wie solche der neoliberalen Westler (oder der vom Westen geprägten jüngeren russischen Liberalen) nach 1990.
Ihrem interessanten und anregenden Fazit, dass es sich bei Russland heute um einen „rohstoffgetriebenen Staatskapitalismus“ handeln würde, dass sich durchaus tragfähige wirtschaftliche Modernisierungen vollzogen haben, schließt sich konsequent die Frage an, was denn nach dem Krieg mit einem solchen Russland werden würde (vgl. S. 386). Denn keinesfalls wird dieses Land einfach so von der aktuellen globalen Bühne verschwinden, wenngleich auch in Deutschland zum Teil hartnäckig an solchen politischen Erwartungen festgehalten oder für solche agiert wird. – Auch dieser Aspekt (also die Lage „bei uns“) wurde in der Sitzung des Arbeitskreises diskutiert.
Diesem Fazit stellt die Autorin in ihrer Studie sehr detaillierte und umfassend belegte Auseinandersetzungen mit den häufig grassierenden einseitigen und sehr schematischen Interpretationen zu Russland voran. Darauf sei nur beispielhaft hingewiesen, denn in dieser Hinsicht konnte das Buch keine hinreichende Würdigung finden, waren Zeit und konkrete Textarbeit nicht ausreichend. Katharina Bluhm will sich jedenfalls ausdrücklich gegen zu einfache, gegen lineare, einsinnige Deutungen stellen (etwa hinsichtlich der Rolle Putins oder der Einteilung in „die guten Demokraten“ und die „schlechten Konservativen“. Sie bricht einfache ideologische Begrifflichkeiten auf, indem sie deren konkrete Konstruktion zeigt (die ungewollte Denunziation des westlichen Liberalismus als zerstörerischer Neoliberalismus), sie zeigt auf, dass es nicht nur um einen reaktionären russischen Konservatismus gehen würde, sondern eine „ambivalente Neukonstitution“. Und gerade diese wird dann – bei aller Widersprüchlichkeit – zum tragenden Korsett eines konservativen Modernisierungsprojektes. In diesem lag einerseits der „letzte Versuch einer Gemeinsamkeit mit dem Westen“ (vgl. S. 170ff.) wie dann eben auf dieser Grundlage der Bruch mit dem Westen erfolgte. Auch wenn die Autorin keine hinreichende Erklärung für den Krieg Russlands mit der Ukraine sucht, wichtige Ansatzpunkte und eine Orientierung für anstehende Erklärungen und Auseinandersetzungen liefert sie durchaus.
Die unbefriedigende, oft in ihrer immer wieder praktizierten medialen und zum Teil politischen Einseitigkeit frustrierende Thematisierung des Krieges verlangt nach gründlicher Analyse. Eine mit solcher Analyse mögliche offene und kontroverse Diskussion wird aber durch die jämmerliche öffentliche Diskussionskultur kontaminiert. Diese lässt sich nicht so einfach abschütteln und erschwert eine konstruktiv-offene Kontroverse. Das war die thematische Ausgangsthese für unsere Sitzung, und die sollte auch weiterhin noch Diskussionsstoff liefern.
…
Der Bericht verlangt leider einen kleinen und auch einen etwas persönlichen Nachtrag: Zur hier referierten Sitzung des Arbeitskreises hatte sich Prof Dr. Wolfgang Küttler kurzfristig entschuldigt, „das Laufen falle ihm schwer“. Das war nicht so überraschend, hatte ihn schon länger geplagt. Zu den Sitzungen war er immer wieder gekommen, und zudem waren wir auch für die nächste Zeit noch zu einer konkreten Textdiskussion bereits verabredet. Dann platzte plötzlich in meinen Urlaub die Nachricht: Überraschend ist Wolfgang Küttler verstorben (in der Nacht vom 25. zum 26. Mai, also etwas über einen Monat nach seinem 88. Geburtstag).
Es gab bereits würdigende Nachrufe in der Presse. Auch unsere Sozietät hat seiner entsprechend gedacht. Dem allem ist kaum etwas hinzuzufügen; ein kleiner Nachtrag aus unserem und für unseren Arbeitskreis ist aber unerlässlich. Denn bei allen anderen Verpflichtungen war Wolfgang Küttler über die vielen Jahre, die ich den Arbeitskreis bereits leite, immer eine selbstverständliche, unkomplizierte kollegiale Unterstützung. Einerseits hatte er durchaus seinen Anteil daran – wir kannten uns von der Max-Weber-Konferenz 1988 in Erfurt –, dass ich mich von meinem alten Soziologiekollegen Helmut Steiner noch im Hospiz und in seinem Beisein verpflichten ließ, mit der Verantwortung für den Arbeitskreis zum Bestand der Soziologie in der Sozietät beizutragen –, andererseits hat sich der Verstorbene selbst immer wieder dafür eingesetzt: für die Soziologie wie für „seine“ Geschichtswissenschaft.
Über die beeindruckende wissenschaftliche Arbeit muss hier im Detail nichts gesagt werden. Das ist einerseits bekannt, ist in den Nachrufen gewürdigt und für unseren Arbeitskreis ist an den Band anlässlich seines 80. Geburtstages zu erinnern (Reform – Revolution – Transformation. Zur Theoriegeschichte des sozialen Wandels. Abhandlungen Bd. 45, hrsg. von Ulrich Busch). Zu seiner besonderen Wissenschaftlerpersönlichkeit soll aber noch etwas gesagt werden. Denn Wolfgang Küttler gehörte zu der eher seltenen Spezies von Wissenschaftlern, die zwar hart auf ihrer Meinung bestehen konnten, aber gerade deshalb die konstruktive und offene Diskussion gesucht haben. Eine Meinung zu haben, aber nicht in Rechthaberei und Eitelkeit nur diese gelten zu lassen, das hat ihn auch für unseren Arbeitskreis so wichtig gemacht. Ähnlich sehe ich das für den Wissenschaftlichen Beirat der Sozietät, in dem er vor allem für die Arbeitskreise und für ein offenes wissenschaftliches Leben in der Sozietät eingetreten ist.
Er hat über die vielen Jahre kritisch-konstruktiv wie integrativ im Arbeitskreis gewirkt. Das werden wir vermissen.
Michael Thomas