Nekrolog auf unser Mitglied Prof. Dr. Wolfgang Küttler

Prof. Dr. Wolfgang Küttler, MLS (1936-2024) (Photo: Dietmar Linke)

Die Leibniz-Sozietät der Wissenschaften zu Berlin e. V. trauert um ihr Mitglied, den Historiker Prof. Dr. sc. phil. Wolfgang Küttler

Wolfgang Küttler verstarb am 26. Mai 2024 in Berlin. Aus seinen aktuellen Forschungen herausgerissen endete ein beeindruckendes Wissenschaftlerleben.

Am 8. April 1936 in Altenburg als Sohn einer Lehrerfamilie geboren, legte er 1954 in Gotha das Abitur ab. Im Anschluss absolvierte er ein Studium der Geschichte und Lateinischen Philologie an der Friedrich-Schiller-Universität Jena, wo er unter anderem von Friedrich Schneider, Irmgard Höss und Max Steinmetz sowie später von Erich Donnert unterrichtet wurde. Seine Forschungsschwerpunkte lagen auf Osteuropa, Russland, der Sowjetunion, dem Mittelalter sowie auf deutscher Geschichte im Mittelalter und in der frühen Neuzeit. Im Rahmen seiner akademischen Laufbahn als Assistent und Oberassistent wurde der inzwischen an die Leipziger Universität gewechselte Promovend 1966 mit einer äußerst materialreichen Studie zu Riga im 16. Jahrhundert promoviert.

Erich Donnert als einer der beiden Gutachter holte ein Jahr später den vielversprechenden jungen Historiker zu sich an das Institut für Geschichte der Deutschen Akademie der Wissenschaften zu Berlin in die „Abteilung für die Geschichte Russlands“. Angesichts der Breite der Interessen Küttlers sowie seiner Hinwendung zu grundsätzlichen geschichtstheoretischen und geschichtsmethodologischen Fragen wechselte er bereits 1969 an die von Ernst Engelberg begründete Forschungsstelle „Theorie und Methodologie der Geschichtswissenschaft“ und wurde dann 1974 als Nachfolger Leiter des späteren Bereiches am Zentralinstitut für Geschichte der AdW. Die 1976 als Dissertation B vorgelegte Studie „Lenins Formationsanalyse der bürgerlichen Gesellschaft in Russland vor 1905“ erweiterte nicht nur das Wissen um die Geschichte Russlands im 19. Jahrhundert in der Reflexion Lenins, sondern war, wie der Untertitel lautete, zugleich „Ein Beitrag zur Theorie und Methode historischer Untersuchungen von Gesellschaftsformationen“. Das Buch hatte damit ganz grundsätzliche Bedeutung weit über die Grenzen der Osteuropawissenschaft hinaus. Die Hinwendung zur Erforschung der großen, welthistorischen Prozesse zeigte sich auch in der externen Mitarbeit am von Walter Markov gegründeten und dann von Manfred Kossok geleiteten Leipziger Zentrum für Vergleichende Revolutionsgeschichte. Dabei ging es Wolfgang Küttler mit seinem Blick weit über den „mitteleuropäischen Tellerrand“ hinaus um die Dialektik von Struktur und Entwicklung, Revolution und Evolution, Theoriebildung und Typisierung – Problemfelder, die ihn auch zu Max Weber führten und zum kritischen Vergleich zwischen Karl Marx und Max Weber animierten. Die Akademie der Wissenschaften der DDR würdigte diese Arbeiten und ernannte ihn 1978 zum Professor. Küttlers Wirken blieb aber nicht auf die „Studierstube“ beschränkt. Er hielt als Gastprofessor an der Humboldt-Universität zu Berlin von 1980 bis 1990 höchst anspruchsvolle und deshalb zugleich anregende Vorlesungen.

Die Wolfgang Küttler eigene Schärfe im Denken ließ ihn früher als viele andere systemische Krisen in der DDR-Gesellschaft erkennen und gab ihm Anlass, gemeinsam mit dem Philosophen Wolfgang Eichhorn noch 1989 ein Buch mit dem an Hegel angelehnten programmatischen Titel „… dass Vernunft in der Geschichte“ sei, zu veröffentlichen. Unter dem Eindruck der politischen Umwälzungen 1989/90 vermochte er, die kritische Analyse auf die von ihm bis dato vertretene marxistisch-leninistische Geschichtswissenschaft auszudehnen und auch in Selbstbefragung nach den Ursachen für Dogmen und Fehleinschätzungen zu suchen. Seine Kollegen und Mitarbeiter am Institut für Geschichte der Akademie der Wissenschaften würdigten dies und wählten ihn 1990 zum Direktor, eine Funktion, die er bis zur Abwicklung der Akademie im Folgejahr ausübte.

Als international anerkannter Forscher, der schon in der Zeit der Systemkonfrontation in Ost und West respektiert wurde, hatte Küttler das Glück, von der Max-Planck-Gesellschaft 1992 als Mitarbeiter in den Forschungsschwerpunkt Wissenschaftsgeschichte und Wissenschaftstheorie übernommen zu werden, danach vom Max-Planck-Institut für Wissenschaftsgeschichte. 2001 trat er offiziell, aber nicht wirklich in den Ruhestand.

In seinen Forschungen ging Wolfgang Küttler immer auf aktuelle Tendenzen in Geschichtsphilosophie und Geschichtswissenschaft ein. Ihn bewegte die gesellschaftliche Verantwortung der Historiker. Es interessierten der Zusammenhang und die gegenseitige Beeinflussung von Geschichtsphilosophie und -wissenschaft. Mehrfach beschäftigte er sich mit der Bedeutung von Max Weber und gab 1989, erstmals in der DDR, eine Auswahl seiner Werke heraus. Gemeinsam mit Ernst Schulin und Jörn Rüsen war er von 1993 bis 1999 Herausgeber und Mitautor der fünfbändigen Reihe „Geschichtsdiskurs“ über die Entwicklung des Geschichtsdenkens seit dem Beginn der Neuzeit.

In mehreren Arbeiten ging es Wolfgang Küttler um das Erbe des Marxismus für unsere Zeit. Den „notwendigen Perspektivwechsel“ sah er „nicht als völlige Negation, sondern als kritische Anknüpfung an die marxsche Geschichtstheorie“ (Sitzungsberichte der Leibniz-Sozietät, 128, 2016, 21). Dabei beschäftigte er sich besonders mit der Modifizierung der Theorie der Gesellschaftsformationen im Spätwerk von Karl Marx. So war es gewissermaßen zwangsläufig, dass er in enge Verbindung zu den Arbeiten an dem seit 1994 erscheinenden „Historisch-kritischen Wörterbuch des Marxismus“ trat. Küttler ist Autor und Mitautor von mehr als 15 zum Teil umfangreichen Artikeln und wurde dann auch Mitherausgeber, was zugleich eine mit Spannung erwartete Monographie über Max Weber lange, zu lange verzögerte.

Nachdem 1989 die Academia Europæa mit Sitz in London Wolfgang Küttler aufgenommen hatte, wählte ihn 1990 die Akademie der Wissenschaften der DDR zu ihrem Korrespondierenden Mitglied. 1993 gehörte er dann zu den Gründungsmitgliedern der Leibniz-Sozietät der Wissenschaften zu Berlin e. V., in der er sich in zahlreichen Projekten sowie Veranstaltungen als Autor, Vortragender und Diskussionsteilnehmer engagierte. Die Gelehrtengesellschaft würdigte seinen Einsatz 2012 mit der Daniel-Ernst-Jablonski-Medaille. Neben der Herausgabe mehrerer Sammelbände wirkte Küttler in den Arbeitskreisen „Gesellschaftsanalyse und Klassen“ sowie „Europa – Selbstverständnisse und Perspektivenvielfalt“ mit. Besonderes Verdienst um die Leibniz-Sozietät erwarb sich Wolfgang Küttler durch seine Mitarbeit im Wissenschaftlichen Beirat, bis 2023 als Co-Vorsitzender, was auch eine mehrjährige Teilnahme an den Präsidiumssitzungen beinhaltete, die er durch zahlreiche konstruktive Diskussionsbeiträge bereicherte.

Ein Nachruf zu Wolfgang Küttler wäre unvollständig, wenn man ihm nicht auch, in den Worten eines Freundes, gedenkt als eines Wissenschaftlers, der ein freundlicher, toleranter, kollegialer, hilfsbereiter, optimistischer, leidenschaftlich diskutierender, gern lachender, viel auch neben seinem Fachgebiet wissender, an die Vernunft glaubender und über die zahlreichen Dummheiten in der Welt sich aufregender, an buchstäblich Allem interessierter Mensch war.

Reinhold Zilch