Wissenschaftliche Sitzungen der Klassen der Leibniz-Sozietät im Jahr 2000
Nachfolgend werden die im Jahr 2000 stattgefundenen wissenschaftlichen Sitzungen der beiden Klassen der Leibniz-Sozietät zusammen mit den Kurzreferaten und Angaben zu den C.V. der Vortragenden aufgelistet.
Die Namen der Autoren sind mit dem Autorenverzeichnis verlinkt und die einzelnen Beiträge, die bereits in einer Publikationsreihe der Leibniz-Sozietät erschienen sind, sind als PDF-Dateine unterlegt.
Im Jahr 2000 jährte sich zum 300. Mal die von Gottfried Wilhelm Leibniz initiierte Gründung der Sozietät der Wissenschaften. Die Leibniz-Sozietät beging das Jubiläum mit wissenschaftlichen Veranstaltungen.
20. Januar 2000
Klasse Naturwissenschaften
Hans-Georg Geißler:
Die zeitliche Struktur geistiger Vorgänge und ihre Beziehung zu Hirnrhythmen
Klasse Sozial- und Geisteswissenschaften
Kurt Pätzold:
Die deutsche Wehrmacht 1939-1945. Legendenbildung und Geschichtswissenschaft
17. Februar 2000
Klasse Naturwissenschaften
Werner Krause:
Denken und Gedächtnis aus naturwissenschaftlicher Sicht
Klasse Sozial- und Geisteswissenschaften:
Martin Hundt:
Was war der Junghegelianismus?
16. März 2000
Klasse Naturwissenschaften:
Prof. Dr. Peter Hellmold (Halle):
Email – eine antiquierte oder eine moderne Werkstoffkomponente?
Klasse Sozial- und Geisteswissenschaften:
Prof. Dr. Günter Vogler:
Das Konzept “deutsche frühbürgerliche Revolution” – Genese, Aspekte, kritische Bilanz
13. April 2000
Klasse Naturwissenschaften:
Günter Albrecht, Grigori G. Devyatych, H. Jörg Osten (Frankfurt/O), Hans-Joachim Pohl, Pyotr G. Sennikov:
Hochreine monoisotopische 28Si-Einkristalle – Synthese, Eigenschaften, Anwendungen
Klasse Sozial- und Geisteswissenschaften:
Jan Pyrozynski:
Die Krakauer Universität in der frühen Neuzeit und ihre Bedeutung für die polnische Wissenschaft und Kultur
18. Mai 2000
Klasse Naturwissenschaften:
Heinz Kautzleben:
Geschichte und Philosophie der Geophysik – Gegenstand, Methoden, Probleme
Staatsbibliothek Unter den Linden 8, Berlin-Mitte; Lessing-Saal
Prof. Kautzleben (66) ist Mitglied der Leibniz-Sozietät, Mitglied der Deutschen Geophysikalischen Gesellschaft seit 1958 sowie Ehren¬mitglied der Ungarischen Akademie der Wissenschaften. Von 1973 bis 1988 leitete er das Zentralinstitut für Physik der Erde der Akademie der Wissenschaften der DDR am Telegrafenberg in Potsdam; für die Amtsperiode 1987 – 1991 wählte ihn die Internationale Asso¬ziation für Geodäsie (eine Gliederung der Inter-nationalen Union für Geodäsie und Geophysik) zu ihrem Vizepräsidenten.
Der Vortrag ist ein Teil der Veranstaltungen zur Würdigung des 300-jährigen Bestehens der auf Intita¬tive von Gottfried Wilhelm Leibniz begründeten Sozietät der Wissenschaften in Berlin. Die Sozietät hat von Anfang an zahlreiche an geophysikalischen Problemen interessierte Naturwissenschaftler – Astro¬nomen, Mathematiker, Geodäten, Physiker, Geologen, Meteorologen, Geophysiker – zu ihren Mitgliedern gewählt und bei ihren Arbeiten akademiespezifisch gefördert.
Viele der natürlichen Phänomene, die von der Geophysik untersucht werden, sind den Menschen seit Urzeiten bekannt und haben ihnen oft Schrecken eingeflößt – z.B. die Erdbeben. Wissenschaftlich un¬tersucht werden diese Phänomene seit der griechisch-römischen Antike. Die Kernprobleme wurden jedoch erst mit dem Aufkommen und der Anwendung wissenschaftlicher Instrumente – insbesondere der physikalischen Geräte seit dem Beginn der Neuzeit – erkennbar und der Erforschung zugänglich. Dabei entstanden für die einzelnen Phänomene anfangs eigenständige Arbeitsrichtungen, die sich dann im 19. Jahrhundert zur wissenschaftlichen Disziplin “Geophysik” vereinigten. Eine führende Rolle dabei spielten deutsche Wissenschaftler. Diese waren auch am Ende des 19. Jh. die Initiatoren der straff organisierten internationalen Zusammenarbeit, die für die Geophysik unerläßlich ist.
Die Geophysik hat spezifische Arbeitsmethoden entwickelt, um Erkenntnisse über die Bereiche des Erd¬¬innern und ihrer Umgebung zu erzielen, die für direkte Messungen nicht erreichbar sind. Sie sorgt dafür, dass Spekulationen immer weiter zurückgedrängt werden. Sie hat auch eminente praktische Be¬deutung: Ihre Ergebnisse helfen, die natürlichen Ressourcen effektiver und schonender zu nutzen und die Risiken zu vermindern, die mit dem Leben in der natürlichen Umwelt verbunden sind. Dabei sind staatliche Dienste unverzichtbar.
Die Geophysik – wie das gesamte Gebiet der Geo- und Kosmoswissenschaften – verdient und benötigt im heutigen Deutschland das fördernde Interesse der breiten Öffentlichkeit.
Klasse Sozial- und Geisteswissenschaften.
Klaus Mylius:
Kamasutra und Ratirahasya – Vergleich zweier altindischer Lehrbücher der Liebeskunst Staatsbibliothek Unter den Linden 8, Berlin-Mitte; Hoecker-Saal
Prof. Mylius (69) ist Mitglied der Leibniz-Sozietät seit 1996. Nach dem Studium der Geographie wurde er Indologe. Er veröffentlichte u.v.a. ein großes Sanskrit-Wörterbuch, eine Chrestomathie der Sanskrit-Literatur sowie zahlreiche Übersetzungen – darunter des Kamasutra und des Ratirahasya, zweier grund¬legender altindischer Werke der Liebeskunst, mit Kommentaren und Erläuterungen – und edierte Texte des ursprünglichen Buddhismus. Auch zur Geschichte und den Perspektiven seines Fachs ist seine Mei¬nung gefragt.
Für die Geschichte der Erotik im Altertum ist bedeutsam, dass so grundlegende altindische Werke wie das Kamasutra und das Ratirahasya erhalten geblieben sind. Erotik und Sexualität nahmen im alten Indien weder in positiver noch in negativer Hinsicht eine Sonderstellung ein, sondern galten als immanente Bestandteile des menschlichen Daseins. Wesentliche sexualwissenschaftliche Erkenntnisse des 19. und 20. Jahrhunderts sowie sexuelle Gepflogenheiten der Neuzeit waren schon im alten Indien bekannt. In bezug auf die Rolle der Frau ragt das Kamasutra weit über die Beschränktheit des patriarchalischen Zeitalters hinaus und darf als Dokument frühen Humanis¬mus‘ verstanden werden. Darüber hinaus sind beide Werke unverzichtbare Quellen zur altindischen Medizin, Kosmetik und Magie sowie zu Hochzeitsbräuchen. Das Kamasutra ist zudem die umfangreichste Quelle über die Prostitution in der antiken Welt. Anhand von chronologish-methodologischen Exkursen versucht der Redner, beide Werke zu datieren.
Der Vortrag mündet in einen Vergleich beider Literaturwerke in inhaltlicher und stilistischer Hinsicht. Hieraus können Schlüsse gezogen werden auf verschiedene kulturgeschichtliche Traditionslinien Altindiens. Nun müssen Mediziner, Botaniker, Pharmakologen und Indologen die beiden Werke interdisziplinär weiter erforschen. Die eigentliche Thematik beschließt ein kurzer Ausblick auf den Anangaranga – ein Lehrbuch der Liebeskunst, das bereits der Ära der mohammedanischen Herrschaft über Nordindien angehört.
Mit dem Vortrag würdigt der Referent die wissenschaftlichen Leistungen des verdienten Indologen und einstigen Akademiemitgliedes Walter Ruben, der 1999 seinen 100. Geburtstag hätte feiern können.
15. Juni 2000
Klasse Naturwissenschaften:
Ernst-Otto Reher:
Zur Rheologie von Polymerenschmelzen
Staatsbibliothek Unter den Linden 8, Berlin-Mitte, Lessing-Saal
Prof. Reher (64) ist Mitglied der Leibniz-Sozietät seit 1999 sowie der “Internationalen Aka¬demie der Wissenschaften der Hochschulen und Universitäten” in Moskau und der Ost¬wald-Gesellschaft Gro߬bothen bei Leipzig.. Er studierte 1956 bis 1961 Verfahrenstechnik am Lenin-grader Technologischen Institut – jetzt: Staatliches St. Petersburger Technologisches Institut –, wo er heute noch Gastvorlesungen hält. Danach arbeitete er an der Technischen Hochschule Merseburg, 1972 bis 1993 als Ordentlicher Professor für Verfahrenstechnik. 1993 folgte er einem Angebot der Göttfert-Werkstoffprüfmaschinen GmbH in Buchen/Odenwald, dort Forschung, Entwicklung und Anwendungstechnik zu leiten.
Bei der Herstellung und Verarbeitung von Polymeren spielt das Fließverhalten – die Rheologie – der geschmolzenen Polymeren eine wichtige Rolle. Es wird wesentlich durch die Länge der Polymer-Molekül-Ketten bestimmt, die in einem üblichen Polymer niemals gleichlang sind, sondern sich über ein Kettenlängen-Spektrum verteilen. Diese beiden molekularen Ei-genschaften werden durch die mittlere Molmasse und die Molmassen-Verteilungsbreite erfasst. Umgekehrt kann man diese fundamentalen Daten durch Messen des Fließverhaltens mit einem Kapillarrheometer erschließen. Dabei presst man die Schmelze unter hohem Druck durch Röhrchen mit einer lichten Weite von 1 bis 2 mm und misst dabei die Drücke und Durchflussmengen.
Der Vortragende hat in den 90er Jahren kapillarrheometrische Messverfahren entwickelt, mit denen man die genannten molekularen Daten durch On-line-Messungen im Herstellungsver-fahren oder auch durch Labormessungen im Verarbeitungsprozess kontrollieren und steuern kann. Weitere Ergebnisse seiner Grundlagenforschung waren ein Verfahren zur Bestimmung des Schmelzindex – einer in der Polymerchemie gebräuchlichen, standardisierten Messgröße – in On-line-Kapillarrheometern sowie die Ableitung und experimentelle Verifikation dimen-sionsloser Korrekturfunktionen zur Bestimmung einer anderen gebräuchlichen Polymer-Charak-teristik – der Viskositätsfunktion. Mit Hilfe einer von ihm kon¬struierten Gegendruckkammer am Kapillarenaustritt kann man nachweisen, welche der drei wichtigsten Mechanismen der Wechselwirkung zwischen Wand und Polymerströmung (Coulombsche Reibung, Slip-Stick, Wandfilm) in der an einer Wand entlanggleitenden Polymerschmelze jeweils auftreten.
Aufgrund dieser Untersuchungsergebnisse wurden und werden neue Kapillarrheometer für die Polymerherstellung und –verarbeitung entwickelt.
Klasse Sozial- und Geisteswissenschaften:
Hermann Klenner:
Francis Bacon’s Weichenstellung in die organisierte Wissenschaftsentwicklung oder: Der Jurist als Methodiker der Natur- und Geisteswissenschaften
Staatsbibliothek Unter den Linden 8, Berlin-Mitte, Hoecker-Saal
Prof. Klenner (74) ist Gründungsmitglied der Leibniz-Sozietät, Mitglied der Internationalen Vereinigung für Rechts- und Sozialphilosophie, der Spinoza-, der Hegel- und der Feuerbach-Gesellschaft; Autor und Editor zahlreicher rechtsphilosophischer Werke.
Der Vortrag ist Bestandteil der Veranstaltungen anläßlich des 300-jährigen Bestehens der auf Initiative von Gottfried Wilhelm Leibniz gegründeten Sozietät der Wissenschaften zu Berlin. Der Jurist, Philosoph und Staatsmann Francis Bacon (1561 – 1626), weltberühmter Autor u. a. von “Essays” (1597/1625), von “Advancement of Learning” (1605), von “Novum Organum” (1620), von “De dignitate et augmentis scientiarum” und von “New Atlantis” (1627), ist nämlich der intellektuelle Vater der Royal Society of London (1660/62), einer der Vorläufer-Akademien der Berliner Wissenschafts-Akademie.
14. September 2000
Klasse Naturwissenschaften:
Karl-Heinz Weber:
Kritik an der linearen Extrapolations-Hypothese biologischer Strahlenwirkungen
Staatsbibliothek Unter den Linden 8, Berlin-Mitte, Lessing-Saal
Dr. Weber (71) ist Physiker und hat sich in Leipzig als Schüler von Nobelpreisträger Gustav Hertz und Adolf Lösche auf Kernstrahlungs-Meßtechnik und Dosimetrie spezialisiert. Seine jahrzehntelange Praxis in der einschlägigen Industrie hat sich in mehr als 30 Patenten und unzähligen Publikationen und Fachvorträgen niedergeschlagen. Er ist Mitglied des Fachverbandes für Strahlenschutz.
Für die Dosis-Wirkungsbeziehung der durch kleine Dosen ionisierender Strahlung hervorgerufenen Krebserkrankungen werden gegenwärtig zwei unterschiedliche Annahmen diskutiert: Entsprechend der „linearen Hypothese ohne Schwelle“ (LNT-Hypothese) nimmt das strahleninduzierte Krebs-Risiko auch bei kleinen Dosen monoton zu, d.h. auch kleinste Dosen, wie die natürliche Untergrund-Strahlung, sind schädlich. Im Gegensatz dazu geht die aus der Pharmakologie und Toxikologie bekannte „Hormesis-Hypothese“ davon aus, dass eine 2-Phasen-Beziehung vorliegt: Danach nimmt die Krebs-Häufigkeit mit wachsender Dosis zunächst ab und erst bei höheren Dosen wieder zu.
Die wesentliche Ursache für diese Kontroverse liegt darin, dass es sehr schwierig ist, gesicherte Erkenntnisse dazu zu erlangen, weil einerseits die Krebs-Häufigkeit starken statistischen Schwankungen unterliegt und andererseits im Gebiet kleiner Strahlungsdosen überhaupt nur sehr geringe Strahlungswirkungen auftreten. Die Ergebnisse einiger strahlenepidemiologischer Studien und einiger strahlenbiologischer Tierexperimente zeigen eine statistisch gesicherte Abnahme des Krebs-Risikos bei kleinen Dosen. Die LNT-Hypothese gilt daher nicht allgemein. Aus diesem Grund sind aus der LNT-Hypothese abgeleitete Behauptungen, dass z.B. allein in Deutschland jährlich etwa 2000 Personen an Lungenkrebs infolge Radon in Wohnungen sterben, anfechtbar.
Klasse Sozial- und Geisteswissenschaften:
Dieter Metzler:
Über das Inaktuelle der Antike
Staatsbibliothek Unter den Linden 8, Berlin-Mitte, Hoecker-Saal
Prof. Metzler (61) ist Mitglied der Leibniz-Sozietät seit 1997 und Ordinarius für Alte Geschichte und Didaktik der Geschichte an der Universität Münster. Nach einem Studium der Archäologie wandte er sich – auch unter dem Einfluß von Sir Moses Finley und Franz Altheim – mehr der Geschichtswissenschaft zu. Zu seinen Forschungsfeldern gehören der vorislamische Iran und die antiken Kulturkontakte zum Nahen und Fernen Osten sowie – damit eng verknüpft – die frühen Phasen der altgriechischen Religion, aber auch das Nachleben der Antike unter ideologiegeschichtlichen Aspekten. Er unterhält die fachüblichen Beziehungen zu Kollegen zwischen Paris und Ann Arbor, St. Petersburg und Tokio.
Die Antike gilt – in den Augen ihrer glühenden Verehrer wie ihrer schamlosen Nutzer – als immer und überall aktuell. Sie ist aber immer auch unaktuell, insofern sie als etwas “ganz Anderes”, zeitlich weit Entferntes, sich nicht oder nur in Verzerrung und Verkürzung einvernehmen lässt. Daneben können antike Kulturelemente aber auch unterströmig weiterleben: als kontinuierlich vorhandene Symbole und Rituale, vielleicht auch im sogenannten Aberglauben. Ideologiekritisch betrachtet, geht es hier darum, was in der Antike-Rezeption zumutbar ist oder nicht – z. B. das Unkenntlichmachen des Vergangenen, um es einfacher aktuell gebrauchen zu können, oder das Ausklammern und Vergessenmachen durch eine dogmatische Kanonisierung des jeweils Erinnernswerten. Das Gesagte gilt übrigens nicht nur für das Verhältnis Europas zur griechisch-römischen Antike, sondern auch für ostasiatische Kulturen im Verhältnis zu ihrer konstitutiven Phase, dem chinesischen Altertum.
19. Oktober 2000
Klasse Naturwissenschaften:
Dr. habil. Herbert Teichmann (Berlin):
Friedrich Wöhler als Berliner Lehrer und Forscher
Staatsbibliothek Unter den Linden 8, Berlin-Mitte, Lessing-Saal
Dr. Teichmann arbeitete fast 4 Jahrzehnte lang an der Akademie der Wissenschaften in Berlin-Adlershof in der expe¬rimentellen chemischen Forschung – lange Jahre in Kooperation mit der Industrie –, und war in Lehre und Ausbildung tätig. Als Ruheständler widmet er sich jetzt ausgiebiger seinen wissenschaftshistorischen Interessen.
Friedrich Wöhler (1800 – 1882), dessen 200. Geburtstag die Wissenschaft in diesem Jahr begeht, wird vor allem als einer der Begründer der Organischen Chemie gewürdigt. Seine Synthese des Harnstoffs zeigte erstmalig, dass Pro¬dukte des tierischen Stoffwechsels entgegen herrschender Auffassung auch im Laboratorium herstellbar sind. Diese und andere bedeutende Leistungen – wie die Erstdarstellung metallischen Aluminiums -, die ihn frühzeitig berühmt machten, vollbrachte er in Berlin, der ersten Station seines Berufslebens vor Kassel und Göttingen. Hier hatte er 1825 – 1831 eine Stelle als Chemielehrer an der Friedrichswerderschen Gewerbeschule (und zeitweilig parallel dazu auch am Cöllnischen Gymnasium) inne. Für seine zahlreichen wissenschaftlichen Untersuchungen in einem selbst einge¬richte¬ten Schullabor blieb ihm nur die knapp bemessene Freizeit. In eigener Initiative führte er Schülerpraktika ein und or-ganisierte Exkursionen in Fabrikationsbetriebe. Er beteiligte Schüler an seinen Forschungen und schrieb für sie ein Lehrbuch der anorganischen Chemie, das 15 deutsche Auflagen sowie Übersetzungen in vier Sprachen erreichte. Ne¬ben diversen weiteren fachliterarischen Arbeiten (u. a. Übersetzung des vierbändigen Lehrbuchs und der jährlichen Fortschrittsberichte seines berühmten schwedischen Lehrers Berzelius) entfaltete er in Berlin umfängliche populär-wissenschaftliche Aktivitäten, gewissermaßen in einer Art Ein-Mann-Volkshochschulbetrieb. Diese über die engeren chemischen Untersuchungen hinausgehenden Verdienste Wöhlers sind nahezu vollständig in Vergessenheit geraten.
Klasse Sozial- und Geisteswissenschaften:
Gabriella Schubert:
“Rideo ergo sum” – Alltagsbewältigung durch Lachen in Südosteuropa
Staatsbibliothek Unter den Linden 8, Berlin-Mitte, Hoecker-Saal
Frau Prof. Schubert (57) ist Mitglied der Leibniz-Sozietät seit 1999 und lehrt an der Friedrich-Schiller-Universität Jena Südslawistik. Geboren und aufgewachsen in Budapest, studierte sie Slawistik und Balkanologie an der Freien Universität Berlin. In Jena baute sie den interdisziplinären Studiengang “Südosteuropastudien” auf. Sie gibt die “Zeit¬schrift für Balkanologie” sowie Sammelbände zur Balkanologie und zu deutsch-südslawischen Kulturbeziehungen heraus, zählt mehr als hundert Veröffentlichungen zu slawistischen, balkanologischen, hun¬garologischen und ethnolo¬gischen Themen und ist Mitglied des Präsidiums und des Wissenschaftlichen Beirats der Südosteuropa-Gesellschaft sowie Vizepräsidentin und Jenaer Zweigstellenleiterin der Deutsch-Bulgarischen Gesellschaft e.V.
Seit Ende der achtziger Jahre sind über große Teile Südosteuropas wirt¬schaftli¬che Katastrophen sowie heftige ethni¬sche und soziale Auseinandersetzungen hereingebrochen. Vor dem Hintergrund des blutigen Bürgerkriegs im ehe¬ma¬ligen Jugoslawien präsentiert sich diese Region in den Medien als ein infer¬nalisches Chaos, in dem Krieg, Flücht¬lings¬elend und wirt¬schaftliche Not regieren. Solche Darstellungen sind nur zu leicht dazu ge¬eignet, alte Stereotypen und Verzerrungen im westeuropäischen Balkan-Bild zu verstärken. Es ist die Aufgabe einer verant-wortungsbe¬wußten Wis¬senschaft, auch die Normalität und jene Elemente im Alltagsleben der hier lebenden Menschen aufzuzeigen, die da¬zu geeignet sind, ein¬seitige Vorstellungen von ihnen zu relati¬vieren und sie besser ver¬stehen zu lernen.
Formen oraler Erzählkultur sind dafür in hohem Maße geeignet. Beim Erzählen wird Erlebtes verarbeitet, inter¬pretiert und in le¬bendige Bilder umgesetzt, wird Identität hergestellt und be-gründet. Einige dieser Bilder werden in dem Vor¬trag präsentiert. Sie gehören zu den folklo¬risti-schen Gattungen des Schwanks und des Witzes, die sich in Südost¬europa allgemeiner Beliebtheit erfreuen, einen hohen Diffusionsgrad und eine große Vielfalt an Formen und Motiven aufweisen. Die dazugehörigen Textbeispiele sind verschie¬denen Sammlungen von Schwankerzählungen aus dem 19. und 20. Jahrhundert sowie Witzsammlungen der Gegenwart entnommen; viele der genannten Witze wurden der Vortragenden mündlich mitgeteilt.
Die älteren Schwänke vermitteln Einblicke in den Alltag und das Zusammenleben der Menschen in der Vergangenheit, im Rahmen der Großreiche – des Osmanischen Reiches und des Habsburgerreiches. Hauptakteure in ihnen sind zu¬meist einfache Menschen aus den unteren sozia¬len Schichten: listige Bauern, Handwerker und andere, die sich gegen¬über of¬fiziel¬len Normen oder Trägern weltlicher und kirchlicher Macht in Opposition befinden.
Mit dem Zusammenbruch der historischen Großreiche in Südosteuropa, im Zuge von “Modernisierung” und “Europäi¬sierung”, änderten sich Inhalte und Formen alltäglichen Erzählens. Während traditionelle Schwänke im ländlichen Milieu bis in die Gegenwart überdau-erten, ver¬breite¬ten sich in den Städten neue Themen und Erzählinhalte, in denen sich die poli¬ti-schen und sozialen Veränderungen und damit zusam¬menhängende Probleme wi¬der¬spiegeln. Hierher gehören auch die sog. Ostblockwitze, die im sozialistischen Südosteuropa nach 1945 in reichem Maße produziert und reproduziert wurden. Mit dem Zerfall der sozialistischen Systeme nehmen sie eine neue Qualität an. In ihnen wird nunmehr das “gemeinsame europäische Haus” und die Ausgrenzung Südosteuropas aus diesem “Haus” reflek¬tiert.
16. November 2000
Klasse Naturwissenschaften:
Dipl.-Ing. Lothar Rosenhahn (Königstein):
Die Besonderheiten bei der Sanierung des ehemaligen Wismut-Uranbergbaubetriebes Königstein im Landschaftsschutzgebiet der Sächsischen Schweiz
Staatsbibliothek Unter den Linden 8, Berlin-Mitte, Lessing-Saal
Herr Rosenhahn (62) kennt den Bergbau „von der Pike auf“: Mit 15 Jahren wurde er Hauer im Steinkohlenwerk; nach dem Studium an der Bergakademie Freiberg war er Steiger, Reviersteiger, Obersteiger, Hauptingenieur und von 1969 bis 1990 Betriebsdirektor in einem Bergbaubetrieb der SDAG Wismut (Uranbergbau). Seit 1990 ist er Betriebsdirek¬tor des Sanierungsbetriebes Königstein der WISMUT GmbH mit den Standorten Königstein und Dresden-Gittersee; bis 1999 war er Mitglied des Aufsichtsrats der WISMUT GmbH.
Der Aufschluß der Lagerstätte Königstein begann 1964, die planmäßige Uranerzgewinnung setzte 1967 ein. Bis Anfang der 80er Jahre dominierte die Gewinnung des Erzes mit konventionellen Abbauverfahren; ab 1984 wur¬de das Uranerz mit einer schwefelsauren Lösung aus dem Gestein gelaugt. Bis 1990 – dem Ende der Uran¬gewin¬nung – wurden so etwa 18 000 Tonnen Uran gefördert. Der offene Grubenhohlraum betrug rd.1,47 Millio¬nen m³ und umfaßte ein Strecken¬netz von ca.118 km.
Um die Folgen des Laugens mit den hydrogeologischen Verhältnissen in einen ökologisch verträglichen Ein¬klang zu bringen, setzten sich die Sanierer zwei Hauptziele:
• Die über der Lagerstätte („im Hangenden“) vorhandene wasserundurchlässige Schutzschicht musste erhal¬ten und abgedichtet werden, um die Lagerstätte dauerhaft von Grundwasserleitern zu trennen, die der über¬regionalen Trinkwassergewinnung dienen.
• Der untere, durch die Bergbauaktivitäten gestörte Grundwasserleiter war zu restaurieren.
Danach wird die Grube Königstein geflutet, indem man weniger Wasser abpumpt, als natürlicherweise einsic¬kert. Dafür wurden mehrere Varianten untersucht, bis man sich dafür entschied, eine Kontrollstrecke aufzufah¬ren, mit der das Fluten kontrolliert und gesteuert werden kann, sowie über Tage eine Anlage zu errichten, in der das kontaminierte Flutungswasser gereinigt wird.
Bisher sind über 500 000 m³ Hohlraum im Rahmen von Experimentalflutungen unter Wasser gesetzt. Der Be¬ginn der endgültigen Flutung ist für Januar 2001 geplant.
Klasse Sozial- und Geisteswissenschaften:
Siegfried Wollgast:
Carl Christian Friedrich Krause (1781-1832) – Ein deutscher Philosoph mit Weltgeltung
Staatsbibliothek Unter den Linden 8, Berlin-Mitte, Hoecker-Saal
Prof. Wollgast (67) ist Philosophiehistoriker und Mitglied der Leibniz-Sozietät seit 1996. Nach dem Studium der Philosophie und der Geschichte in Jena und Berlin arbeitete er von 1968 bis 1992 an der Technischen Universität Dresden – von 1976 an als Professor für Philosophiegeschichte. 1978 bis 1994 war er Mitglied der Sächsischen Akademie der Wissenschaften. Die Liste seiner Publikationen zählt mehr als 600 Titel, darunter etwa 30 Bücher. Einen nicht geringen Teil davon hat Prof. Wollgast der Ehrenrettung wenig beachteter, verkannter oder dogma¬tisch interpretierter Personen und Tendenzen in der Philosophiegeschichte gewidmet.
Jeder kennt die Namen jener Philosophen, die als hohe Gipfel in den Himmel der Philosophiegeschichte ragen – aus der deutschen klassischen Periode etwa Kant, Fichte, Schelling und Hegel – aber was ist das für eine arm¬selige Landschaft, die nur aus Gipfeln besteht und keine Hügel kennt! Ein Zeitgenosse der eben Genannten und ein ebenso eigenständiger Denker war Carl Christian Friedrich Krause, der in Jena, Dresden, Berlin, Göttingen und München gewirkt hat, 14 Kinder zeugte, sich dreimal habilitierte, aber niemals einen Lehrstuhl erhielt. Au¬ßer auf philosophischem hat er sich auch auf mathematischem, geographischem, pädagogischem und musikali¬schem Gebiet betätigt, die sprachwissenschaftliche Gesellschaft in Berlin begründet und (vergeblich) versucht, die Freimaurergesellschaft zu reformieren. Bei den revolutionären Ereignissen in Göttingen um 1830 spielten meh¬rere seiner Schüler eine führende Rolle; und man legte ihm danach nahe, Göttingen zu verlassen.
In Deutschland fast vergessen, sind Krauses philosophische Gedanken in Spanien und Lateinamerika als „El Krau¬sismo“ bis zum Ende des 20. Jahrhunderts wohlbekannt. Sie laufen auf einen idealistisch fundierten, liberal gefärbten Humanismus hinaus und haben die spanischen Revolutionen 1868 – 1874 wesentlich mit geprägt. Krau¬se wollte einen “Menschheitbund”, in dem man unabhängig von Stand, Religion, Nationalität oder anderem Trennendem für die Erlösung der Menschheit von Krieg, Verbrechen, Niedertracht und allem anderem Bösen wirken sollte. Als einziger namhafter Philosoph seiner Zeit trat er konsequent für die Gleichberechtigung von Mann und Frau ein.
21. Dezember 2000
Klasse Naturwissenschaften:
Armin Uhlmann:
Das Plancksche Wirkungsquantunm – 100 Jahre danach
Staatsbibliothek Unter den Linden 8, Berlin-Mitte, Lessing-Saal
Prof. Uhlmann (70) ist theoretischer Physiker und Mitglied der Leibniz-Sozietät seit 1993. Nach dem Mathematikstudium (Diplom 1954, Promotion 1957) wechselte er zur Theoretischen Physik (Habilita¬tion 1960). 1962 bis 1993 hatte er eine Professur für Theoretische Physik an der Universität Leipzig inne. 1972 wählte ihn die Akademie der Wissenschaften der DDR zu ihrem Mitglied, 1980 die Sächsi¬sche Akademie der Wissenschaften. Er hat insbesondere auf den Gebieten Quantentheorie, Quanten¬feldtheorie und Quanteninformatik gearbeitet.
Elektromagnetismus und Wärmelehre, diese beiden Säulen der Klassischen Physik, gerieten am Ende des 19. Jahrhunderts in einen krassen Widerspruch zur Erfahrung aus physikalischen Experimenten. In einem “Akt der Verzweiflung” führte Max Planck das Wirkungsquantum ein (14.12.1900), mit des¬sen Hilfe den experimentellen Befunden Genüge getan werden konnte.
Das Wirkungsquantum passte nicht in den Rahmen der Klassischen Physik und sollte zu unvorher¬gesehenen Konsequenzen führen, deren Klärung keineswegs einem Abschluss nahe ist.
Eine kurze geschichtliche Rückblende wird beleuchten, wie schwierig die Abkehr von den sogenann¬ten klassischen Vorstellungen war und ist. Ein Blick auf ein, zwei Beispiele deutet an, weshalb unsere Alltagserfahrung die Quantenphysik fast vollständig verbirgt, und weshalb unsere gewöhnlichen Er¬fahrungen so “klassisch” sind.
Im Hauptteil wird der Vortragende folgende Probleme berühren und dabei versuchen, auf die unge¬wöhnlich reiche logische Dimension der Quantenphysik einzugehen:
– merkwürdige Konsequenzen der Idee von diskreten Energieniveaus;
– die Verbote von Pauli und die Identität von Teilchen und Zuständen;
– die Etablierung des Zufalls (Bohr, Born, v. Neumann u.a.), Zufall und Kausalität;
– Schrödingersche Teilchen in Raum und Zeit;
– was ist ein Quantenzustand?
– Heisenberg und v. Neumann: Ausmessen und Herstellen von Zuständen;
– reine und gemischte Zustände;
– das zeitgenössische Problem der Quanteninformation.
Klasse Sozial- und Geisteswissenschaften:
Helmut Steiner:
Alexandra Kollontai über Theorie und Praxis des Sozialismus
Staatsbibliothek Unter den Linden 8, Berlin-Mitte, Hoecker-Saal
Prof. Steiner (64) ist Soziologe, Sozialwissenschaftler und Wissenschaftshistoriker sowie Mitglied der Leibniz-Sozietät seit 1994. Bis zur Abwicklung 1991 war er Professor für Soziologie an der Akademie der Wissenschaften der DDR. Seit den 60er Jahren hat er sich u. a. mit Problemen der aktuellen und historischen, gesellschaftlichen und theoretischen Entwicklung in der Sowjetunion und Rußland be¬schäf¬tigt. Er ist Herausgeber der Schriftenreihe “Social Studies on Eastern Europe“ und hat dort als Band I mit W. A. Jadow 1999 den Band „Russland – wohin? Russland aus der Sicht russischer Sozio¬logen“ im trafo verlag Berlin herausgegeben. Gegenwärtig ist er im Auftrag der Rosa-Luxem¬burg-Stif¬tung mit der erstmaligen Veröffentlichung der „Diplomatischen Tagebücher von Alexandra M. Kol¬lon¬tai 1922 – 1940“ in einem russischen und deutschen Verlag beschäftigt.
Alexandra M. Kollontai (1872 – 1952) ist als weltweit erste weibliche Ministerin (1917/18), historisch erste weibliche Botschafterin (1922 – 1945) sowie als Kämpferin für Frauenrechte und weibliche Eman¬zipation über die Grenzen der Sowjetunion und Rußlands hinaus international bekannt. Und doch sind die konkreten Umstände, die Genesis und die kontroverse Aufnahme vieler ihrer politischen und theoretischen Positionen weithin unbekannt bzw. mit Pauschalurteilen versehen.
Der Vortrag wird zum Gegenstand haben:
– den biografischen Zugang der aus einer russischen Gutsbesitzer- und Generalsfamilie stammenden jungen Frau zur sozialistischen Bewegung;
– die Formierung ihrer theoretischen und politischen Positionen;
– die Grundpositionen ihres sozialistischen Feminismus;
– ihr „Manifest der Arbeiteropposition“ (1921);
– ihr persönliches Verhältnis zu G. W. Plechanow, W. I. Lenin und J. W. Stalin sowie
– einige Kontroversen um ihr Leben und Wirken.