Wissenschaftliche Sitzungen der Klassen der Leibniz-Sozietät im Jahre 2013
Nachfolgend werden die im Jahr 2013 stattgefundenen wissenschaftlichen Sitzungen der beiden Klassen der Leibniz-Sozietät zusammen mit den Kurzreferaten und Angaben zu den C.V. der Vortragenden aufgelistet.
Die Namen der Autoren sind mit dem Autorenverzeichnis verlinkt, weiterhin sind Links zu den Publikationen der Leibniz-Sozietät angegeben, falls die Vorträge bereits publiziert wurden.
14.02.2013:
Lothar Kolditz (Steinförde):
Gedankenübertragung und quantenphysikalische Verschränkung
Sitzung der Klasse Naturwissenschaften
Berlin, Rathaus Tiergarten, BVV-Saal
Prof. Kolditz ist Chemiker. Er wurde 1969 zum Korrespondierenden, 1972 zum Ordentlichen Mitglied der 1700 von Leibniz begründeten Gelehrtengesellschaft gewählt, der heutigen Leibniz-Sozietät der Wissenschaften zu Berlin e.V. Nach Promotion (1954) und Habilitation (1957) war er 1957 – 1959 Professor mit Lehrauftrag für Spezialgebiete der anorganischen Chemie und Radiochemie an der Technischen Hochschule für Chemie Leuna-Merseburg, 1959 – 1962 Professor mit vollem Lehrauftrag für anorganische Chemie und Direktor des Anorganisch-Chemischen Instituts der Friedrich-Schiller-Universität Jena sowie 1962 – 1980 Professor mit Lehrstuhl für anorganische Chemie und Direktor des I. Chemischen Instituts der Humboldt-Universität. 1972 – 1980 leitete er die Sektion Chemie der Humboldt-Universität und 1980 – 1990 das Zentralinstitut für Anorganische Chemie der Akademie der Wissenschaften der DDR.
Abstract:
In der Regel wird von Gedankenübertragung zwischen einander nahestehenden Personen berichtet, die besonders in Momenten höchster Erregung auch über größere Entfernungen wirksam sein soll. Ein wissenschaftlicher Beweis dafür liegt nicht vor. In diesem Vortrag sollen die Möglichkeiten der Übertragung aus energetischen Gründen abgeschätzt werden.
Dazu ist es nötig, verschiedene Wissenschaftsgebiete zu beleuchten.
Das Human Brain Project, das die Computersimulation der Gehirntätigkeit zum Ziel hat und an dem sich weltweit 130 Universitäten beteiligen, liefert keine Aussage zum Problem der Gedankenübertragung. Es ist lediglich bemerkenswert, dass nach Extrapolation des jetzigen Forschungsstandes eine digitale Simulierung der Gehirntätigkeit des Menschen Geschwindigkeiten von Exaflops (1018) und einen Energieaufwand von 20 TW erfordern würde, während das Gehirn mit etwa 20 W auskommt. Es ist zwar in der Rechengeschwindigkeit den Computern unterlegen, übertrifft aber in kognitiver Hinsicht die Computer bei weitem.
Die von Hans Berger 1924 in Jena entdeckte Elektroenzephalographie liefert Hinweise für die an der Hirnoberfläche vorhandenen elektrischen Felder, die Magnetoenzephalographie Hinweise für die entsprechenden Magnetfelder. Beide Untersuchungsmethoden sind für die Medizin von hohem diagnostischem Wert. Die Kenntnis der auf der Schädeloberfläche auftretenden elektromagnetischen Felder gestattet mit Hilfe des Poyntingschen Vektors eine Abschätzung der zur Verfügung stehenden Energien, die außerordentlich gering, aber nicht Null sind. Verstärkung könnte über Antennenfunktionen im Gehirn erfolgen, auch Resonanzeffekte stehen zur Diskussion.
Louis de Broglie ordnete in seiner Doktorarbeit 1924 bewegten Molekülteilchen Wellennatur zu, was zur Entwicklung der Wellenmechanik führte. Erwin Schrödinger formulierte die nach ihm benannte Wellengleichung mit der Wellenfunktion ψ. In diesem Zusammenhang wurde das Problem der Verschränkung von Teilchen formuliert, die so eng miteinander verbunden sind, dass die Messung der Eigenschaft eines Teilchens die des anderen Teilchens bestimmt und eine dem einen Teilchen aufgeprägte Eigenschaft sofort auch im anderen Teilchen wirksam wird, auch wenn sie entfernt voneinander sind. Diese Erscheinung wurde von Einstein als spukhafte Fernwirkung abgelehnt. Gemeinsam mit Podolsky und Rosen bezeichnete er die Quantenmechanik als eine nicht vollständige Theorie. Erwin Schrödinger nahm die Einstein-Podolsky-Rosen-Arbeit zum Anlass, eine dreiteilige Stellungnahme zur Situation in der Quantenmechanik zu schreiben, in der er den Ausdruck Verschränkung für das von EPR diskutierte Problem prägte. Es setzte eine kontroverse Diskussion zur Verschränkung ein, die aber schließlich durch die erfolgreiche Anwendung der Quantenmechanik in Physik und Chemie in den Hintergrund gedrängt wurde.
Im Jahre 1964 entwickelte John Bell eine Ungleichung, die erfüllt sein muss, wenn die EPR-Annahme gilt. Bell zeigte auch, dass diese Annahme mit der Quantenphysik nicht in Übereinstimmung zu bringen ist. Die Arbeit fand wenig Beachtung, bis 1981 Aspect, Grangier und Roger das Verschränkungsproblem bei Photonen in Zusammenhang mit der Bellschen Ungleichheit überprüften. Verschränkte Teilchen verletzen die Ungleichheit. Bei ihrer Messung waren die verschränkten Teilchen bis zu 6,5 m entfernt.
Zeilinger und Mitarbeitern gelang es, die Messung der verschränkten Photonen in einer Entfernung von 600 m bei Wien über die Donau durchzuführen und schließlich zwischen Teneriffa und La Palma 143 km zu erreichen. Eine chinesische Forschergruppe hat inzwischen eine Entfernung von 97 km überbrückt. Bei diesen Untersuchungen erfolgte auch die sofortige Übertragung der einem Teilchen aufgeprägten Eigenschaft auf das andere Teilchen. Die Untersuchungen haben Bedeutung für die Entwicklung des Quantencomputers.
Es besteht nun die Frage, ob auch größere Objekte als Elementarteilchen Wellennatur erlangen können und auch die Verschränkung mit einzubeziehen ist, Zeilinger und Mitarbeiter haben gezeigt, dass ein Strahl von C60 Molekülen, der auf einen Doppelspalt zufliegt, Interferenzerscheinungen erzeugt, was nur mit auftretender Wellennatur zu vereinbaren ist.
Die Annahme von quantenphysikalischen Vorgängen im Gehirn werden von Zeilinger nicht ausgeschlossen. Dem Einwand von Kritikern, dass die ungenügende Abschirmung im Fall des Gehirns ein Verschränkungsverhalten nicht zulässt, begegnet Zeilinger mit dem Hinweis auf die Entwicklung von Quantencomputern, die das Verschränkungsphänomen nutzen. Es ist gelungen, auch bei stärkerer Wechselwirkung von Quantenbits untereinander den Störungseinfluss auszuschalten und Informationen zu speichern.
Dietrich Mühlberg (Berlin) :
Zu aktuellen Tendenzen in den Kulturwissenschaften
Sitzung der Klasse Sozial- und Geisteswissenschaften
Berlin, Rathaus Tiergarten; Balkonsaal
Prof. Mühlberg ist Kulturwissenschaftler. Nach dem Studium der Philosophie, Germanistik und Kunstgeschichte arbeitete er als wissenschaftlicher Assistent an den Universitäten Greifswald, Sofia und Berlin (HU). Hier entwickelte er den Studiengang Kulturwissenschaft und hatte 1974 – 1996 die Professur für Kulturgeschichte inne.
Seine Arbeitsschwerpunkte waren neben kulturtheoretischen Grundfragen die Kulturgeschichte des Alltags, der unterbürgerlichen Schichten und ihrer sozialen Bewegungen. Danach war er bis 2001 am Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam an Untersuchungen zur deutschen Kulturgeschichte seit 1945 und zum kulturellen Wandel nach 1990 beteiligt und hielt außerdem Lehrveranstaltungen an der HUB und an der Dresdener Internationalen Universität ab. Von 2004-2012 war er Kultursenator des Landes Sachsen-Anhalt. Er ist außerdem Vorstandsvorsitzender der Kulturinitiative ’89 (seit 1994) sowie Mitglied in wissenschaftlichen Beiräten mehrerer kultureller Einrichtungen.
Seine Veröffentlichungen und Editionen sind der Geschichte der Arbeiterkultur und der Kultur sozialer Bewegungen gewidmet, seit 1991 vor allem der Kulturgeschichte der SBZ/DDR (Kulturpolitik, Zugänge zur Alltagskultur, Sexualität, Medienverhalten) und den kulturellen Folgen der deutschen Einheit.
Abstract:
Die unter dem Label “Kultur” firmierenden wissenschaftlichen Disziplinen haben sich in den vergangenen beiden Jahrzehnten stark vermehrt: durch integrative Aufgabenstellungen (transdisziplinäre Projekte) wie auch durch disziplinübergreifende (interdisziplinäre) Zusammenarbeit. “Kulturelle Probleme” verlangen zu ihrer Bearbeitung die Konzepte und Methoden verschiedener Fachrichtungen, die dabei tendenziell kulturwissenschaftliche Subdisziplinen bilden. Zugleich soll es die “kulturelle Sicht” ermöglichen, heterogene Wissensformen und Disziplinen zusammenzuführen.
Auslöser dieses Anstiegs waren praktische Probleme und Aufgaben, die als kulturelle verstanden werden. Dazu gehören die wachsende kulturelle Kommunikation wie Abgrenzung als Globalisierungsfolgen. “Mentale Dispositionen” prägen politisches Handeln, äußern sich in Nationalismus, Rassismus und Tea-Party-Bewegung, aber auch in zivilgesellschaftlichem Engagement für Nachhaltigkeit, für Commens und soziale Gerechtigkeit. Tiefgreifende Umwälzungen der Kommunikationsformen änderten die kulturelle Situation ebenso wie die anhaltende Durchgestaltung aller Produktionen und Lebensbereiche. Die jüngsten Jahrzehnte brachten ein schnelles Wachstum der Kultur- und Kreativwirtschaft wie der Kulturberufe und damit auch des Ausbildungsbedarfs.
Die Reaktionen des Wissenschaftsbetriebs sind so unübersichtlich wie das Feld der praktischen Probleme. Der Anstieg universitärer Ausbildungsmöglichkeiten ist enorm, die anbietenden diversen “Kulturwissenschaften” bearbeiten Teilaspekte, die verfügbaren kulturtheoretischen Entwürfe bieten vielfältige Orientierungsmöglichkeiten, lassen aber noch keine integrierende Potenz erkennen. Auf Marx gegründete Gesellschaftstheorien, die dem sozialistischen Experiment zugrunde lagen, haben keine wirklich brauchbare Theorie der Kultur hervorgebracht. Obwohl Kulturwissenschaft als akademische Disziplin hier entstanden ist, blieb sie marginal und für das Selbstbild der Gesellschaft ohne Bedeutung. Diskussionswürdig ist, worauf Marxisten eine Antwort finden sollten – Perspektiven marxistischer Kulturwissenschaft heute.
14.03.2013:
Wolfgang Coy (MLS):
Erfahrung und Berechnung – „Intelligente Maschinen“ ohne Moral oder Urteilskraft
Sitzung der Klasse Naturwissenschaften
Berlin Rathaus Tiergarten; BVV-Saal
Prof. Coy ist Informatiker und Mitglied der Leibniz-Sozietät seit 2011. Nach dem Mathematikstudium an der Technischen Hochschule Darmstadt und der Promotion (1975) ebendort war er bis 1980 wissenschaftlicher Mitarbeiter in der Abteilung Informatik der Universität Dortmund, unterbrochen durch einen einjährigen Forschungsaufenthalt an der Université Paris VI und verschiedene Vertretungsprofessuren.
1980 wurde er zum Professor für Informatik im Fachbereich Mathematik/Informatik der Universität Bremen berufen. 1996 übernahm er den neu eingerichteten Lehrstuhl für „Informatik in Bildung und Gesellschaft“ in der mathematisch-naturwissenschaftlichen Fakultät II der Humboldt-Universität zu Berlin, eine Tätigkeit, die durch einsemestrige Forschungsaufenthalte in Wien und Hanover, NH (USA) unterbrochen wurde. Seit 2013 arbeitet er als Senior Advisor der der Humboldt-Universität, stellvertretender Direktor des Helmholtz-Zentrums für Kulturtechnik und im Vorstand des HU-Exzellenz-Clusters „Bild-Wissen-Gestaltung“; dort leitet er eine größere Forschungsgruppe.
Wolfgang Coy ist deutscher Vertreter im Technical Comitee “Computers and Society” der wissenschaftlichen Dachorganisation International Federation for Information Procecessing und Fellow der Gesellschaft für Informatik.
Seine Forschungsschwerpunkte liegen in den Bereichen Digitale Medien, Bildwissenschaften, Informatik und Gesellschaft, Theorie der Informatik sowie Sozial- und Kulturgeschichte der Informatik. Seine aktuellen Interessen gelten vor allem philosophischen, theoretischen und ethischen Fragen der Informatik.
Zu seinen zahlreichen Veröffentlichung gehören 13 Bücher, die er als Autor, Ko-Autor oder Herausgeber publiziert hat, sowie fast 200 Aufsätze.
Abstract:
Gesellschaftlich verantwortliches Handeln soll das Ergebnis vernünftig begründbarer Urteile sein. Die Fähigkeit, vernünftig und nachvollziehbar zu argumentieren, ist ein Grundbaustein menschlicher Kommunikation. Nur mittels der Sprache können wir unsere Handlungen verteidigen und verständlich machen. Die Fähigkeiten, zu argumentieren, zu verstehen, zu urteilen und zu handeln gelten als die wesentlichen Bildungsziele der modernen Gesellschaft.
Das vergangene Jahrhundert hat eine umfassende Neuinterpretation sprachlich vermittelten Handelns durch eine doppelte Reduktion erfahren: Zum einen wurde der sprachliche Kern sprachlicher Argumente in symbolischen Logiken gesucht; zum anderen wurde die formale Logik mathematisiert und als mit Computern berechenbar und programmierbar gestaltet. Menschliche Sprache und menschliches Denken scheint damit Computern zugänglich zu werden. So werden Sprachein- und -ausgabesysteme, Expertensysteme oder Suchmaschinen konsequent in die menschliche Kommunikation integriert.
Gleichzeitig drängt die allumfassende technische Automatisierung mehr und mehr zur Konstruktion autonomer Systeme, sei es als Entscheidungssysteme der Wirtschaft und der Finanzindustrie, sei es als selbstständig agierende Roboter oder Roboterfahrzeuge – auf dem Mars oder mit unbemannten fliegenden Drohnen in umkämpften irdischen Gebieten. Solche selbstständig handelnden Systeme geraten rasch in Situationen, die nicht nur ein reflexives Handeln nach vorgegebenen programmierten Schemata erfordern, sondern in komplexen Situationen auch Entscheidungen mit schwer übersehbaren Folgen treffen sollen. Im Extremfall militärischer Roboter oder auch von Systemen, die im Katastrophenschutz eingesetzt werden, können dies Entscheidungen über Leben und Tod von Menschen sein. Können wir solchen Maschinen derartige ethische Entscheidungen überlassen oder sollten wir erkennen, dass unsere Technik hier an eine grundsätzliche Grenze stößt?
Herbert Wöltge (MLS):
Die „Unausrottbaren“? Anmerkungen und Notizen zur Gründung der Leibniz-Sozietät
Sitzung der Klasse Sozial- und Geisteswissenschaften
Berlin Rathaus Tiergarten; Balkonsaal
Dr. Wöltge ist Journalist und Zeithistoriker sowie Mitglied der Leibniz-Sozietät seit 1993.
Er war nach dem Studium der Philosophie, Ästhetik und Volkskunde an der Humboldt-Universität zu Berlin als Journalist in verschiedenen Redaktionen populärwissenschaftlicher und wissenschaftlicher Publikationsorgane sowie als freier Wissenschaftsjournalist tätig. An der Universität Leipzig wurde er zu allgemeinen theoretischen Fragen der Öffentlichkeitsarbeit in der DDR promoviert. 1967 bis 1973 leitete er die Pressestelle im Ministerium für Hoch- und Fachschulwesen der DDR, 1975 bis 1990 die Presseabteilung der Akademie der Wissenschaften der DDR, 1990 bis 1992 war er in der Geschäftsstelle der Gelehrtensozietät der Akademie der Wissenschaften für Öffentlichkeitsarbeit verantwortlich. 1990 wurde er Mitglied der Deutschen Public Relations-Gesellschaft und der Technisch-Literarischen Gesellschaft (TELI), der führenden Vereinigung deutscher Wissenschaftsjournalisten.
Die Entstehung, Gründung und weitere Entwicklung der Leibniz-Sozietät hat er über zwei Jahrzehnte als Berater, Redakteur und Journalist begleitet.
Abstract:
Der Vortrag geht aus Anlass des 20jährigen Bestehens der Leibniz-Sozietät der Frage nach, welchen Umständen es die Gelehrtengesellschaft der Akademie der Wissenschaften der DDR zu verdanken hatte, dass sie nicht – wie andere Institutionen der DDR-Wissenschaft – mit der DDR unterging, warum sie nach dem Beitritt unter völlig neuen Bedingungen als Gelehrtensozietät noch zwei Jahre überlebte und schließlich am 15. April 1993 als Leibniz-Sozietät neu erstand. Untersucht wird an den Bruchstellen dieser Entwicklung, die vor allem in der Auseinandersetzung um die Formulierung von Art.38(2)Einigungsvertrag vor dessen Wirksamwerden sowie in den Versuchen der Gelehrtensozietät gesehen werden, sich nach dem Beitritt im föderalen Umfeld und in der Berliner Landespolitik zu behaupten und Bedingungen ihrer Weiterexistenz zu erarbeiten.
In einem letzten Abschnitt wendet sich der Vortrag in Thesenform der Frage zu, auf welche Umstände es zurückzuführen ist, dass sich die Sozietät in der Wissenschaftslandschaft der Bundesrepublik halten konnte und welche Wandlungen sie erfahren hat. Er regt zu Überlegungen an, welche Bedingungen sie heute braucht, um weiterzuleben. Er unterstellt einen Paradigmenwechsel seit dem 300jährigen Jubiläum der Leibnizschen Akademiegründung im Jahre 2000, der mit dem generationenbedingten Wechsel in Mitgliedschaft und Zielsetzungen verbunden ist.
11. April 2013:
Heinz Kautzleben (MLS):
“Erde und Kosmos im Blickfeld der in Berlin ansässigen, 1700 gegründeten Gelehrtengesellschaft“
Sitzung der Klasse Naturwissenschaften
Berlin, Rathaus Mitte, Karl-Marx-Allee 31, BVV-Saal
Professor Kautzleben ist Geophysiker. Er wurde 1979 zum Korrespondierenden, 1987 zum Ordentlichen Mitglied der Akademie der Wissenschaften der DDR, genauer: ihrer Gelehrtengesellschaft, gewählt. 1992/93 war er beteiligt an der Umwandlung dieser 1700 auf Initiative von Leibniz in Berlin gegründeten Gelehrtengesellschaft zum eingetragenen Verein, der ab 2007 Leibniz-Sozietät der Wissenschaften zu Berlin e.V. heißt. Er ist Ehrenmitglied der Ungarischen Akademie der Wissenschaften.
Prof. Kautzleben war ab 1957 auf seinem engeren und weiteren Fachgebiet forschend und forschungsleitend in Forschungseinrichtungen der Deutschen Akademie der Wissenschaften zu Berlin, ab 1972: Akademie der Wissenschaften der DDR, tätig, wobei er sich auch für die internationale wissenschaftliche Zusammenarbeit engagierte: 1975 bis 1990 als Stellvertretender Vorsitzender der Problemkommission „Planetare Geophysik“ der Akademien der sozialistischen Länder, 1984 bis 1990 als Leiter des Forschungsbereiches Geo- und Kosmoswissenschaften der AdW der DDR und 1987 bis 1991 als 2. Vizepräsident der International Association of Geodesy.
Im Rahmen der Leibniz-Sozietät befasst er sich mit der Methodologie und der Geschichte der Geowissenschaften und ist seit 2001 Sprecher des Arbeitskreises Geo-, Montan-, Umwelt-, Weltraum- und Astrowissenschaften.
Abstract:
So wie die Leibniz-Sozietät der Wissenschaften zu Berlin nunmehr als Körperschaft privaten Rechts die Gelehrtengesellschaft fortführt, die 1700 auf Initiative von Gottfried Wilhelm Leibniz vom damaligen Brandenburgischen Kurfürsten Friedrich III. als „Brandenburgische Sozietät der Wissenschaften“ gestiftet wurde und seitdem in der Hauptstadt Berlin ansässig ist, und so wie sie die Wissenschaft in den Traditionen dieser Gelehrtengesellschaft fördert, so strebt der Arbeitskreis Geo-, Montan-, Umwelt-, Weltraum- und Astrowissenschaften der Leibniz-Sozietät an, auf den von ihm vertretenen Gebieten die Traditionen der Gelehrtengesellschaft zu erschließen und gemäß diesen Traditionen die von ihm vertretenen Gebiete zu fördern. Zu den Maximen dieser Traditionen gehört: Theorie mit der Praxis verbinden, den Bedürfnissen des Landes entsprechen, in der Weltwissenschaft mitreden. Im Vortrag wird über die mehr als zehnjährige Tätigkeit des Arbeitskreises berichtet.
Erdmute Sommerfeld (MLS) & Werner Krause (MLS):
„Objektiv, aber speziell“: Psychologie als Naturwissenschaft
Sitzung der Klasse Sozial- und Geisteswissenschaften
Berlin, Rathaus Mitte, Karl-Marx-Allee 31, Raum 121
Frau Prof. Sommerfeld ist Mitglied der Leibniz-Sozietät seit 2004. Nach dem Studium der Physik an der Technischen Hochschule Magdeburg arbeitete sie von 1969 bis 1991 an der Deutschen Akademie der Wissenschaften zu Berlin, später Akademie der Wissenschaften der DDR, am Zentralinstitut für Kybernetik und Informationsprozesse – mit dem Forschungsschwerpunkt „Mathematisch-psychologische Elementaranalyse der menschlichen Informationsverarbeitung“ (Promotion 1979 zum Dr. rer. nat.). Von 1985 bis zur Abwicklung der Akademie der Wissenschaften leitete sie die Abteilung “Mathematische Modellierung und Simulation kognitiver Prozesse”, danach die Projektgruppe “Mathematische Psychologie” im Rahmen des Wissenschaftler-Integrations-Programms (WIP). Nach der Habilitation an der Humboldt-Universität zu Berlin 1993 war sie wissenschaftliche Oberassistentin am Institut für Psychologie der Friedrich-Schiller-Universität Jena. 1994 erhielt sie den Ruf auf die Dozentur “Methoden der Psychologie” der Universität Leipzig und wurde 2003 zur Außerplanmäßigen Professorin ernannt.
In der International Society for Psychophysics war sie die Vorsitzende des Programm- und Organisationskomitees für den “Fechner Day 2001″ in Leipzig – das Internationale Symposium zu Ehren des 200. Geburtstages von G. Th. Fechner, des Begründers der Psychophysik und Wegbereiters für die experimentelle Psychologie.
Zu ihren Veröffentlichungen gehören mehrere Bücher sowie zahlreiche Fachartikel zur Modellierung und Analyse kognitiver Strukturen und Prozesse.
Prof. Krause ist Mitglied der Leibniz-Sozietät seit 1999. Nach dem Studium der Medizinischen Elektronik, Radiologischen Technik und Theoretischen Physik an der Technischen Universität Ilmenau arbeitete er als wissenschaftlicher Assistent am Hirnforschungsinstitut der Universität Leipzig und am Psychologischen Institut der Humboldt-Universität Berlin, wo er 1969 promoviert wurde. Es folgten die Leitung der Abteilung Problemlösen am Zentralinstitut für Kybernetik und Informationsprozesse der Deutschen Akademie der Wissenschaften (später Akademie der Wissenschaften der DDR) sowie die Habilitation (1978). 1987 wurde er auf den Lehrstuhl Allgemeine Psychologie II der Friedrich-Schiller-Universität Jena berufen; 1990 bis 1992 war er dort Dekan; 2003 wurde er emeritiert.
In seinen zahlreichen Originalbeiträgen und den von ihm (mit-)herausgegebenen Büchern geht es vorzugsweise um die menschliche Informationsverarbeitung sowie um das Verhältnis von Psychologie und Naturwissenschaften.
Abstract:
Der Vortrag knüpft an den Vortrag von Helga und Lothar Sprung „Einheit in der Vielfalt. Zur Entwicklung der Psychologie im Spannungsfeld zwischen Natur- und Geisteswissenschaften“ vom Oktober 2012 an.
Eine besonders wichtige Phase für die Entwicklung der Psychologie begann mit den Anfängen der griechischen Naturphilosophie. In dieser Zeit wurden Theorien und Hypothesen entwickelt, die heute noch für die Psychologie von grundlegender Bedeutung sind. Sie konnten jedoch mit den damaligen Methoden nicht überprüft werden. Ein notwendiger Paradigmenwechsel und der Transfer von Theorien und Untersuchungsmethoden aus naturwissenschaftlichen Disziplinen und der Mathematik führten zur Entwicklung der Psychologie als Einzelwissenschaft auf naturwissenschaftlicher Grundlage.
Für den Vortrag haben die Autoren drei theoretische Ansätze aus der griechischen Naturphilosophie ausgewählt, die sich auf Grundprinzipien des Denkens beziehen. Das betrifft die Schwerpunkte „Formale Logik und Schlussprozesse“, „Kategorienbildung“ und „Einheitenbildung“. An ausgewählten Paradigmen zeigen sie, wie man in der heutigen Psychologie solche Prinzipien der menschlichen Informationsverarbeitung auf der Basis naturwissenschaftlicher Methoden und mit Hilfe der Mathematik experimentell untersuchen kann und welche Ergebnisse dabei erzielt wurden. Dabei werden Fortschritte und Grenzen der Psychologie als Naturwissenschaft aufgezeigt.
16. Mai 2013:
Christian Kohlert (MLS):
Sicherheit gegen Produktfälschung – wissenschaftlich-technische Mittel/Methoden gegen Plagiate und Produktpiraterie
Sitzung der Klasse Naturwissenschaften
Berlin, Rathaus Tiergarten, BVV-Saal
Prof. Kohlert ist Verfahrenstechniker und Mitglied der Leibniz-Sozietät seit 2011. Nach dem Studium an der TH Merseburg und einer Tätigkeit am Leningrader Technologischen Institut (Promotion 1978) war er bis 1991 wissenschaftlicher Oberassistent an der TH Merseburg. Seitdem arbeitet er bei der Klöckner Pentaplast GmbH in Montabaur: zunächst als Entwicklungsingenieur, seit 2005 als Direktor für Prozesstechnologie sowie als Projektmanager Russland.
1998 berief ihn die TU St.Petersburg zum Ehrenprofessor; seit 2008 gehört er der Internationalen Akademie der Wissenschaften des Hochschulwesens (IHEAS) mit Sitz in Moskau an. Er verfügt über 8 russische und 27 internationale Patente, ist Autor von 7 Büchern oder Buchbeiträgen und 49 Artikeln und hat bisher 18 Dissertationen sowie 100 Diplom- und Masterarbeiten betreut.
Abstract:
Produktfälschung ist heute kein Kavaliersdelikt mehr, werden doch teure Forschungsaufwendungen nicht in Verkaufsmengen umgesetzt, gehen Nutzeffekte für die Kunden verloren und kommen Arzneimittel mit fehlenden oder minderwertigen Wirkstoffen in Umlauf.
Der Schutz von Produkten gegen Fälschung steht deshalb heute im Mittelpunkt vieler Diskussionen und Entwicklungen. Damit ist sowohl der Schutz eigener Produkte, wie Kreditkarten, elektronische Erzeugnisse oder Tonträger, als auch der Schutz von Produkten vermittels der Verpackung – z.B. wirkungsvolle Pharmaprodukte oder hochwertige Lebensmittel – zu verstehen.
Der Markt fordert deshalb zu Recht einen Fälschungsschutz, der sich auf einfache Weise in das Produkt oder die Verpackung einbringen lässt sowie es erlaubt, die Originalität des Produktes leicht und eindeutig wiederzuerkennen.
Klöckner Pentaplast als der führende Hersteller von innovativen Hartfolien für Verpackungszwecke und technische Anwendungen beschäftigt sich seit mehreren Jahren mit der Aufgabe, Verpackungsfolien so zu kennzeichnen, dass sie wiedererkennbar für den Folienhersteller und nutzbar als Produktschutz für den Verarbeiter werden. Dazu wurden herkömmliche Systeme auf ihre Anwendbarkeit geprüft, eigene Ideen entwickelt und großtechnisch umgesetzt.
Norman Paech (Hamburg):
Das Recht zum Krieg – zu neuen Entwicklungen in der Völkerrechtsdiskussion der BRD
Sitzung der Klasse Sozial- und Geisteswissenschaften
Berlin, Rathaus Tiergarten, Balkonsaal
Prof. Paech ist Rechtswissenschaftler. Nach dem Studium der Geschichte und des Rechts an den Universitäten Tübingen, München, Paris und Hamburg (Promotion 1965) absolvierte er noch ein Zusatzstudium am Deutschen Institut für Entwicklungspolitik Berlin. Das befähigte ihn zur Arbeit im Bundesministerium für Wirtschaftliche Entwicklung in Bonn (1968 bis 1972). Danach war er für zwei Jahre wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Forschungsstelle der Vereinigung deutscher Wissenschaftler (VDW) in Hamburg. 1975 wurde er zum Professor für Politische Wissenschaft an der Einstufigen Juristenausbildung der Universität Hamburg berufen, 1982 zum Professor für öffentliches Recht an der Hochschule für Wirtschaft und Politik in Hamburg.
1969 bis 2001 war er SPD-Mitglied, 1972 bis 1973 gehörte er dem Juso-Landesvorstand Hamburg an. 1977 bis 1986 war er der Vorsitzende der Vereinigung demokratischer Juristen (VDJ) in der BRD. 2007 trat er der Partei DIE LINKE bei, war 2005-2009 Mitglied des Deutschen Bundestages und Außenpolitischer Sprecher der Fraktion DIE LINKE.
Prof. Paech engagiert sich außer in der VDJ in der “Freundschaftsgesellschaft Vietnam-BRD”, im Wissenschaftlichen Beirat von “International Association of Lawyers against Nuclear Armement” (IALANA) und von “International Physicians for the Prevention of Nuclear War” (IPPNW) sowie bei Attac und im Auschwitz-Komitee.
Jüngste Veröffentlichung: Paech, Stuby, Machtpolitik und Völkerrecht in den internationalen Beziehungen, VSA-Verlag, Hamburg 2013.
Abstract:
Die Epoche seit dem Untergang der Sowjetunion und der Auflösung des Machtgleichgewichts zwischen Ost und West wird durch eine stärkere militärische Interventionspolitik der atlantischen Mächte weltweit gekennzeichnet. Die erhoffte „Friedensdividende“ hat sich nicht eingestellt.
Die strenge Eingrenzung staatlicher Gewaltausübung durch Kriegsverbot (Briand-Kellogg-Vertrag 1928) und Gewaltverbot (UNO-Charta 1945) widerspricht den Plänen nach Neuordnung der postkolonialen Welt.
Wissenschaft und Politik arbeiten durch die Wiedereinführung alter (humanitäre Intervention) und Formulierung neuer (responsibility to protect, Antiterrorkampf) Rechtfertigungskonstruktionen daran, die engen Regeln des Kriegsverbots durchlässig zu gestalten, um die Differenz zwischen rüstungstechnologischer Kriegsfähigkeit und juristischer Kriegsmöglichkeit zu überwinden.
Die jahrzehntelange Förderung und Zusammenarbeit mit nachkolonialen korrupten und kriminellen Eliten und Regierungen hat sich nicht als dauerhaft erwiesen. Ihre Beseitigung ruft die alten Kolonialmächte auf den Plan, die ihre nach wie vor bestehenden ökonomischen und strategischen Interessen auch militärisch sichern wollen. Deshalb erklären alle Militärstrategien der atlantischen Mächte die Sicherung ihrer Handels- und Rohstoffinteressen zur legitimen Aufgabe der Streitkräfte.
Das Bemühen, den Entzug des staatlichen Gewaltmonopols und seine Übertragung auf die UNO zu lockern und das alte Recht auf Krieg wieder zu öffnen, spiegelt die alte koloniale Konfrontation wieder. Denn wo der Schutz vor der übermächtigen militärischen Gewalt nur noch durch das Recht möglich ist, zerstört die Erosion dieses Rechts die Sicherheit und Souveränität der schwachen Staaten.
13. Juni 2013:
Ekkehard Diemann (MLS):
Johannes Kunckel und das Gold
Sitzung der Klasse Naturwissenschaften
Berlin, Rathaus Tiergarten, BVV-Saal
Prof. Diemann ist Chemiker und Mitglied der Leibniz-Sozietät seit 2004. Nach Studium in Göttingen und Promotion in Dortmund ist er seit 1977 an der Fakultät für Chemie der Universität Bielefeld tätig (Schwerpunkte: Anorganische und Analytische Chemie, Chemieunterricht). Er ist Gastprofessor an der Fakultät für Exakte Wissenschaften an der Nationaluniversität La Plata (Argentinien) und war Gastwissenschaftler am Dalian Institute of Chemical Physics der Academia Sinica. Seit 2007 ist er Honorarprofessor an seiner Fakultät.
Abstract:
Der Vortrag beschäftigt sich nach einer kurzen Kulturgeschichte des Goldes und Informationen zur Person von Johannes Kunckel (1630 -1703) mit den von Kunckel in seinem Buch „Collegium physico-chymicum experimentale“ 1716 publizierten Vorstellungen über die Prozesse, die sich bei der Herstellung von Goldrubinglas abspielen. Später haben sich dann so bedeutende Wissenschaftler wie J. J. Berzelius, M. Faraday und R. Zsigmondy (Nobelpreis 1925) mit diesem Thema beschäftigt, das bis in die neueste Zeit aktuell geblieben ist. Was wissen wir heute mehr, als Johannes Kunckel schon wusste?
Jörg Roesler (MLS):
Counterfactual History. Ihre Anwendung auf die Erforschung und Darstellung der DDR-Geschichte
Sitzung der Klasse Sozial- und Geisteswissenschaften
Berlin, Rathaus Tiergarten; Balkonsaal
Prof. Roesler ist Wirtschaftswissenschaftler und Mitglied der Leibniz-Sozietät seit 1996. Er studierte ab 1959 Wirtschaftsgeschichte an der Humboldt-Universität, arbeitete am dortigen Institut für Wirtschaftsgeschichte und ab 1974 am von Jürgen Kuczynski gegründeten Akademieinstitut in Berlin. Er hielt Vorlesungen zur Wirtschaftsgeschichte der DDR, Deutschlands und des Auslands, forschte zur Industriegeschichte der DDR und zur Wirtschaftsgeschichte der sozialistischen Länder. Nach 1991 untersuchte er die Transformation in Ostdeutschland und in den osteuropäischen Ländern. Seine Lehrtätigkeit setzte er bis 2006 fort, u. a. an der Universität der Künste, Berlin, und als Gastprofessor in Kanada und den USA.
Abstract:
In den USA entstanden, hat der Zweig der Kontrafaktischen Geschichte, auch als Eventualgeschichte, virtuelle Geschichte oder „Geschichte im Konjunktiv“ bezeichnet, unter deutschen Historikern als Forschungsmethode seit Mitte der 1980er Jahre Anhänger gefunden. Die Eventualgeschichte hat sich zur Aufgabe gemacht, auf Alternativen zur geschehenen Entwicklung, die nicht realisiert wurden, aufmerksam zu machen. Sie kann, sofern sie bestimmte Regeln einhält, die im Beitrag vorgestellt werden, dazu benutzt werden, die durch die traditionelle Historiografie gewonnene Kenntnis über den realen Geschichtsverlauf zu ergänzen und zu bereichern. Die Counterfactual History dient dabei nicht nur zur besseren Ausleuchtung der Realgeschichte, sondern auch der wünschenswerten Korrektur der Realgeschichtsschreibung, da sie geeignet ist, einer der Realgeschichte innewohnenden Schwäche, dem Hang vor allem ihrer Zeitgeschichtsschreibung zur teleologischen Geschichtsbetrachtung wirkungsvoll zu begegnen. Besonders angeraten ist ihre Anwendung auf die DDR-Geschichte, deren „Aufarbeiter“ sie – ausgehend von deren Ende – gern als vierzigjährige Geschichte eines unvermeidlichen „Untergangs auf Raten“ darstellen. Mit Hilfe der Counterfactual History lässt sich begreifen, dass für die DDR durchaus die Möglichkeit bestand, nur einige wenige Jahre, aber auch deutlich weitaus länger als vier Jahrzehnte zu existieren.
12. September 2013:
Jörg Matschullat (TU Freiberg):
Geochemie und Klimaforschung. Prozesse auf verschiedenen Zeit- und Raumskalen
Sitzung der Klasse Naturwissenschaften
Berlin Rathaus Tiergarten, BVV-Saal
Prof. Matschullat ist Geowissenschaftler. Früh kam er mit Menschen diverser Kontinente in Berührung und war u.a. motiviert, Fremdsprachen zu lernen und die Welt kennenzulernen. Das Geologiestudium, zunächst in Clausthal-Zellerfeld, später bis zum Abschluss in Tübingen (1983) unterstützte beides. Teilweise längere Arbeitsaufenthalte in Brasilien, den Kapverdischen Inseln, Ghana, Griechenland und Südindien prägten ihn zum Teil wesentlich. Neben den Geowissenschaften faszinierten jedoch auch andere Fachbereiche, und so suchte er sich ein eigenes interdisziplinäres Studium zusammen.
Seit dem Promotionsstudium an der Universität Göttingen (1984 bis 1989) und den anschließenden Jahren als Post-Doc, wiederum an der TU Clausthal und in Heidelberg standen umweltgeochemische Arbeiten in stark interdisziplinären Projekt(verbünden) im Vordergrund.
Nach Habilitation in Geologie und Mineralogie (1995) und der Berufung (1999) auf den neugeschaffenen Lehrstuhl für Geoökologie an der TU Bergakademie Freiberg (heute Geochemie und Geoökologie) weitete sich das Forschungsfeld nochmals und umfasst heute auf den ersten Blick so heterogen anmutende Bereiche wie Atmosphären- und (regionale) Klimaforschung, Analytische und Umweltgeochemie sowie Nachhaltigkeitsfragen. Neben nach wie vor laufenden Arbeiten in Brasilien sind Aktivitäten vor allem mit Kollegen in Australien, Japan und Kanada hinzugekommen.
Dekan der Fakultät für Geowissenschaften, Geotechnik und Bergbau war er von Dezember 2009 bis März 2013. Er ist Mitglied im Klimanetzwerk Sachsen.
Abstract:
Das vielleicht bislang klügste Buch zum Thema Kimawandel wurde 2009 von Mike Hulme veröffentlicht: „Why we disagree about climate change …“ („Warum Klimawandel für Streit sorgt. Kontroversen, Tatenlosigkeit und Chancen verstehen“). Nach einer kurzen und wohl ungewöhnlichen Einführung zum Thema Klimawandel wird an mehreren konkreten Beispielen gezeigt, wie der Fokus auf einzelne Raum- oder Zeitskalen schnell den Blick zu trüben vermag, wenn es darum geht, Prozesse im System Erde richtig zu verstehen. Dabei liegt der Schwerpunkt eindeutig auf naturwissenschaftlichen Aspekten, andere wichtige Sichtweisen der Wirklichkeit werden allenfalls gestreift.
Nebel- und Regentropfen werden dabei ebenso eine Rolle spielen wie Partikel in der Atmosphäre, ein kleines Bundesland wie Sachsen ebenso wie ein Blick auf Mittelosteuropa und die ganze Nordhemisphäre. Und zur Illustration der Bedeutung von Skalen im Verständnis von Prozessen, die auch uns Menschen zum Teil intensiv betreffen, werden schließlich gar ressourcenbezogene Beispiele diskutiert – wie finden wir Lagerstätten und wie finden wir heraus, ob Berlin eine saubere oder eine von Schadstoffen belastete Stadt ist? Auch hier geht es von der lokalen Raumskale bis zur kontinentalen – und am Ende hofft der Vortragende, der Zuhörerschaft einige Anregungen gegeben zu haben, dass es sich lohnt, dieselben Gegenstände bzw. Fragen und Herausforderungen mit unterschiedlichen Brillen zu betrachten.
Arne Heise (MLS):
Governance without government oder die Eurokrise und was mit dem europäischen Gouvernance-System nicht stimmt
Sitzung der Klasse Sozial- und Geisteswissenschaften
Berlin, Rathaus Tiergarten; Balkonsaal
Prof. Heise ist Wirtschaftswissenschaftler und Mit¬glied der Leibniz-Sozietät seit 2007. Er hat eine Professur für VWL, insbesondere Finanzwissenschaft und Public Governance, an der Universität Hamburg inne. An der Universität Bremen wurde er promoviert und habilitierte er sich, hatte Professuren an der Wirtschaftsuniversität Wien, der Universität zu Köln inne, ist affiliierter Professor an der Izmir University of Economics und Visiting Fellow am St. Edmund’s College der Cambridge University.
Abstract:
Die Weltfinanzkrise von 2008 – 2010 wird als tiefste weltweite Depression seit der Weltwirtschaftskrise Anfang der 1930er Jahre betrachtet. Wenn sie letztlich nicht ganz so einschneidend war wie die Weltwirtschaftskrise, dann deshalb, so die Europäische Kommission, weil man die Lektion der 1930er Jahre gelernt und deren Lehren insbesondere in das Europäische Governance-System institutionell eingebaut habe.
In dem Vortrag wird argumentiert, dass diese Einschätzung der Kommission allzu positiv erscheint. Im Gegensatz dazu muss festgestellt werden, dass die institutionellen Vorkehrungen des Europäischen Governance-Systems wesentlich mit dazu beigetragen haben, dass die Weltfinanzkrise in einigen EU-Mitgliedsstaaten daraus vergleichbare Dimensionen mit der Weltwirtschaftskrise angenommen hat und deshalb eine Reform des EU-Governance-System unausweichlich ist.
10. Oktober 2013:
Dieter Volk (MLS):
Personalisierte Immuntherapie – von Phase 1 bis zur Patientstratifikation
Sitzung der Klasse Naturwissenschaften
Berlin Rathaus Tiergarten, BVV-Saal
Prof. Volk ist Mediziner und Mitglied der Leibniz-Sozietät seit 2013. Nach Promotion (1982) und Habilitation (1987) lehrt er seit 1994 an der Humboldt-Universität. Seitdem ist er Direktor des Institutes für Medizinische Immunologie der Charité; seit 2006 auch des Berlin-Brandenburg Centrums für Regenerative Therapien. Zu Gastaufenthalten weilte er an der Freien Universität Berlin sowie in Rostock, Leipzig und Innsbruck. Er ist Associate Editor des Amer. J. Transplant, gehört bzw. gehörte dem Editorial Board von “Transplantation and Frontiers of Tolerance“, dem Scientific Advisory Board der Pluristem Inc., dem Aufsichtsrat der ProBioGen AG, dem SAB ITN des NIH(JDF) sowie dem Beirat der Deutschen Gesellschaft für Immunologie an. Aus seiner Feder stammen mehr als 500 Publikationen.
Abstract:
Unkontrollierte Immunreaktionen können zu zahlreichen chronischen, manchmal lebensbedrohenden Erkrankungen mit hohem gesundheitsökonomischen Impact führen, wie rheumatische Erkrankungen, Multiple Sklerose u.a. Autoimmunerkrankungen. Akute und chronische Abstoßungen sind auch das große Problem der Transplantationsmedizin. Dank moderner Technologien wurden in den letzten Jahren eine Vielzahl neuer Therapeutika, zumeist Biologics, entwickelt, die jedoch im allgemeinen nicht zur Heilung führen. Eine dauerhafte Immunsuppression hat jedoch zahlreiche Nebenwirkungen, so dass ein hoher Druck zur Optimierung dieser Therapieansätze besteht, um
• neue immunmodulatorische Ansätze zu entwickeln, die eher das Immunsystem reprogrammieren als nur einfach zu supprimieren;
• eine verbesserte Nutzen/Kosten-Ratio zu erzielen.
Daher besteht ein hoher Bedarf an der Entwicklung, Validierung und Anwendung von Biomarkern für die Begleitung immunmodulatorischer Therapien, um
– neue Therapien zu monitoren (Safety, Pharmacodynamics, Mode-of-Action);
– die richtigen Patienten und den richtigen Zeitpunkt zu identifizieren für einen bestimmten therapeutischen Ansatz (Stratifizierung);
– die individuelle Sicherheit sowie Erfolg/Misserfolg neuer Therapien zu erfassen;
– neue “Targets” zu identifizieren auf der Basis der genauen Analyse von Patienten, bei denen therapeutische Maßnahmen versagten.
Wir berichten über die Erfahrungen eines umfangreichen Biomarkprogramms in zahlreichen Studien bis hin zur täglichen Routine.
Hans-Otto Dill (MLS):
Die Globalisierungs- und Modernisierungskonzepte Alexander von Humboldts als Komplementärbegriffe der Natur- und Sozialgeschichte
Sitzung der Klasse Sozial- und Geisteswissenschaften
Berlin, Rathaus Tiergarten; Balkonsaal
Prof. Dill ist Romanist – Spezialist für spanische, lateinamerikanische, karibische und französische Literatur und Mitglied der Leibniz-Sozietät seit 1995, in der er seit Januar 2009 als Secretar der Sozial- und Geisteswissenschaftlichen Klasse wirkt.
1982-1991 hatte er eine Professur für Lateinamerikanische Literaturen an der Humboldt-Universität inne, 1989-90 eine Gastprofessur an der Georg-August-Universität Göttingen und anschließend eine ebensolche an der Universität Sao Paulo, Brasilien. Zu Gastvorlesungsreihen und Kurzdozenturen weilte er an Universitäten in Mexiko, Peru und Argentinien. Als Emeritus nahm er von 2002-2005 Lehraufträge an der Universität Hamburg wahr.
Er hat ca. 200 Abhandlungen, meist in spanischer Sprache, in wissenschaftlichen Zeitschriften Deutschlands, Frankreichs, Spaniens, Italiens, Tschechiens, der USA und vieler Länder Lateinamerikas sowie ein halbes Dutzend Sammelbände (mit)herausgegeben.
1975 erhielt er den lateinamerikanischen Literaturpreis Casa de las Américas für eine Monographie über den kubanischen Dichter José Martí. Seiner umfangreichen Veröffentlichungsliste fügt er gegenwärtig die Herausgabe der Akten der von ihm organisierten Leibniz-Konferenz zum 300. Geburtstag von Jean-Jacques Rousseau zu.
Abstract:
Der Vortragende widerlegt anhand von biographischem und wissenschaftlichem Material die weitverbreitete Meinung, Alexander von Humboldt sei im Unterschied zu seinem Bruder, dem Geisteswissenschaftler Wilhelm von H., ein reiner Naturwissenschaftler gewesen. Er zeigt, dass Humboldts Schriften zur Naturwissenschaft wie zu Geographie und Geologie sowie seine lateinamerikanischen Tagebücher und der dem Weltall wie dem Planeten Erde gewidmete Kosmos eine große ´Menge von Aussagen über den Menschen, seine Geschichte und Kultur enthalten, die über bloßes humanistisches Bildungsgut, Alltagsweisheit und politisch-moralische Bekenntnisse weit hinausgehen. Humboldt sieht die Entwicklung der Menschheit und ihre irdische Existenz nicht als gewissermaßen zwangsläufiges Produkt der Naturgeschichte, sondern betrachtet letztere lediglich als ein vorgegebenes Bedingungsgefüge der Sozial- und Kulturgeschichte und relativ freien Handlungsspielraum des Menschen. Dieses nicht nur allgemeine und politische, sondern auch wissenschaftliche Interesse des Berliner Forschers für menschliche Gesellschaft, Geschichte und Kultur datiert Dill auf die Ankunft Humboldts in Südamerika. Humboldt formuliert genuine sozial- und kulturwissenschaftliche Erkenntnisse, die besonders in der heutigen gegenwärtigen Etappe der Globalisierung von grundlegender Bedeutung für die Menschheitsentwicklung sind. Im Mittelpunkt von Humboldts gesellschaftspolitischen Erörterungen stehen vor allem Ausbeutung, Unterdrückung und Herrschafts- und Knechtschaftsverhältnisse.
14. November 2013:
Petr Holota (MLS):
Boundary Problems of Mathematical Physics in Earth’s Gravity Field Studies
Sitzung der Klasse Naturwissenschaften
Berlin Rathaus Tiergarten, BVV-Saal
Dr. Holota is geodesist and mathematician. Since 2013 he is a member of the Leibniz Society. In 1969 he graduated in geodesy (geodetic astronomy) at the Czech Technical University, Prague. In 1976 he graduated in mathematics at the Charles University, Prague and here he got his RNDr. (Rerum naturalium doctoris) degree in 1982. His DrSc. (Doctor scientiarum) degree he received at the Czechoslovak Academy of Sciences in 1987. In 1970 he started his career at the Research Institute of Geodesy, Topography and Cartography. The area of his research is theoretical and physical geodesy and mathematical methods for studies of the Earth’s gravitational field. He is the secretary of the Czech National Committee of Geodesy and Geophysics and is also engaged in university teaching. In 1987-1999 he was elected the secretary and then the president of the IAG (International Association of Geodesy) section on General theory and methodology. In 1995-1999 he was a member of the IAG Executive Committee and in 1999-2003 the president of the IAG special commission on Mathematical and physical foundations of geodesy. Within the IAG he organized several scientific symposia and a number of scientific sessions. Since 2008 under the umbrella of the EGU (European Geosciences Union) he annually convenes sessions on Recent developments in geodetic theory. In 1989-2005 he was subsequently a member of the Editorial Boards of Manuscripta geodaetica, Bulletin Géodésique and Journal of Geodesy published by the IAG. In addition he is an Associate Editor in Studia Geophysica et Geodaetica, Bolletino di Geofisica Teorica ed Applicata and zfv – Zeitschrift für Geodäsie, Geoinformation und Landmanagement. In 1985-1986 he was awarded the Alexander von Humboldt research fellowship at the Department of Geodetic Science, University of Stuttgart. In 2003 he was an external examiner at the University of Calgary. In 1991 he was awarded the honorary title ‘a Fellow of the IAG’. He is also a member of EGU and AGU (American Geophysical Union). His biography is included in several Czech and international ‘Who’s Who’ publications.
Abstract:
Studies on Earth’s gravity field enable to learn more about our planer. The motivation considered here comes primarily from geodetic applications. We particularly focus on the related mathematics and mathematical tools that form the basis for this research. Historical milestones and famous figures of science in this field are briefly recalled equally as the notion of potential and its first definition. The theory of boundary value problems for elliptic partial differential equations of second order, in particular for Laplace’s and Poisson’s equation, offer a natural basis for gravity field studies, especially in case they rest on terrestrial measurements. Various kinds of free, fixed and mixed boundary value problems are considered. Concerning the linear problems, the classical as well as the weak solution concept is applied. Free boundary value problems are non-linear and are discussed separately. The complex structure of the Earth’s surface makes the solution of the boundary problems rather demanding. Some techniques, that may solve these difficulties, are shown. Also an attempt is made to construct the respective Green’s functions, reproducing kernels and entries in Galerkin’s matrix for the solution domain given by the exterior of an oblate ellipsoid of revolution. The integral kernels are expressed by series of ellipsoidal harmonics and their summation is discussed. Possibilities of using the concept of boundary-value problems for studies that rest on terrestrial gravity measurements in combination with satellite data on gravitational field are considered too. An optimization approach is applied together with the methods above, as the problems to be solved are overdetermined by nature. Finally some questions and stimuli are discussed that are related to physical and mathematical models of the problems mentioned in this contribution.
Wolfgang Weiß (MLS):
Demografie als Prozess, Wissenschaft und Politik (Beitrag zum Wissenschaftsjahr “Demografischer Wandel als Chance”)
Sitzung der Klasse Sozial- und Geisteswissenschaften
Berlin, Rathaus Tiergarten; Balkonsaal
Dr. Weiß ist Geograph und Demograph sowie Mitglied der Leibniz-Sozietät seit 2004. Nach dem Studium der Pädagogik, Mathematik und Geographie in Greifswald wurde er ebendort 1984 mit einer methodologischen Arbeit zur Bevölkerungsprognose promoviert und habilitierte sich 1989 mit einem regional-demographischen Thema zur Entwicklung ländlicher Räume.
Beruflich unterlag er in den 1980er Jahren formal begründeten Restriktionen, die zwar seit 1990 eine andere Farbe haben, aber letztlich die Etablierung in klassischen Wissenschaftsstrukturen verwehrten. Weiß lehrt und forscht als Privatdozent am Institut für Geographie und Geologie der Universität Greifswald. Er tritt seit Jahren in der Literatur immer wieder mit kritischen Positionen und Versuchen zur Weiterentwicklung des Faches in Erscheinung. Ein großes Gewicht hat dabei die Verknüpfung von Theorie und Praxis in der Angewandten Geographie sowie in der Raumordnung und Landesplanung. Im Zentrum stehen u.a. selektive Migrationsprozesse, insbesondere sexualspezifische Abwanderungen aus benachteiligten Räumen, die Herausbildung einer Residualbevölkerung sowie die Rückkopplung der Migration auf Fertilität und Mortalität.
Er ist korrespondierendes Mitglied der Akademie für Raumforschung und Landesplanung sowie Gründungsmitglied der Deutschen Gesellschaft für Demographie.
Abstract:
Wer heute von Demographie spricht, folgt oftmals lediglich dem Zeitgeist, verwendet den Begriff als Keycode für politische Positionierungen oder die Akquisition von Fördermitteln. Nur wenige sind sich darüber im Klaren, dass sie dabei mit ihren Aussagen vielfach falsch liegen, und diese Feststellung betrifft nicht nur die Semantik.
Da wird „die Demographie Deutschlands“ bemüht. – Die demographische Entwicklung? Oder die Wissenschaft Demographie? Da werden bestimmte demographische Entwicklungen der Gegenwart angesprochen, sollen gar bestimmte Entwicklungen „abgemildert“ oder sogar „bekämpft“ werden, ohne Kenntnis der Gesetzmäßigkeiten, als wenn man etwa gegen die Gravitation kämpfen könnte, oder gegen die Brechung des Lichtes durch ein Prisma.
Besonders bedenklich jedoch ist die Beschwörung alter, malthusianistischer Formeln. Die Politik bedient sich dabei einer willfährigen Vulgär-Demographie, für die es immer nur zu viele, zu wenige oder die falschen Menschen gibt. Die soziale Frage hingegen bleibt auf der Strecke. Dabei gibt es aktuell durchaus genug Anlass, Malthus ernst zu nehmen.
12. Dezember 2013:
Fritz Scholz (MLS):
Wechselwirkungen von Oberflächen mit Sauerstoffradikalen — Möglichkeiten der gezielten Modifizierung und Charakterisierung von Elektrodenoberflächen
Sitzung der Klasse Naturwissenschaften
Berlin Rathaus Tiergarten, BVV-Saal
Prof. Scholz ist Chemiker und Mitglied der Leibniz-Sozietät seit 2013. Nach dem Studium der Chemie an der Humboldt-Universität zu Berlin, der Promotion zum Dr. rer. nat (1982) und zum Dr. sc. nat. (1987) ebendort wurde er 1989 zum Dozenten und 1993 zum Professor berufen. Seit 1998 besetzt er die Professur für Analytische Chemie und Umweltchemie an der Universität Greifswald. Seine Hauptinteressen liegen auf den Gebieten Elektrochemische Analytik und Elektrochemie. Er hat 307 wissenschaftliche Publikationen, darunter 16 Bücher als Autor bzw. Autor und Herausgeber. Unter den Buchpublikationen sei das „Electrochemical Dictionary“ hervorgehoben, das 2012 in zweiter Auflage erschienen ist und zu den meistverkauften Springer-Publikationen gehört. 1997 hat er das Journal of Solid State Electrochemistry gegründet, das er seitdem beim Springer-Verlag herausgibt. Er ist ebenfalls Herausgeber der Buchreihe „Monographs in Electrochemistry“ (bisher 9 Bände erschienen). Prof. Scholz unterhält umfangreiche internationale Kooperationsbeziehungen zu Wissenschaftlern in Australien, Brasilien, Chile, China, England, Kroatien, Mazedonien, Mexiko, Russland und Spanien. Neben den elektrochemischen Fachgebieten interessiert ihn auch die Geschichte der Naturwissenschaften, und er arbeitet zur Zeit gemeinsam mit osteuropäischen Kollegen an einer Buchpublikation mit dem Titel „Electrochemistry in a Divided World“, in dem die Schicksale osteuropäischer Elektrochemiker einer breiten Öffentlichkeit bekannt gemacht werden sollen.
Abstract:
OH•-Radikale wechselwirken mit Metalloberflächen in sehr spezifischer Weise. Im Fall von Gold und Silber lösen sie Oberflächenunebenheiten auf, sofern diese aus mechanischer Bearbeitung (Polieren) resultieren. Dabei werden auch die elektrokatalytischen Eigenschaften verändert. Bei Platin und Palladium werden diese Effekte nicht beobachtet. Die Behandlung einer Goldoberfläche mit OH•-Radikalen führt auch zu einer deutlichen Abnahme der Zahl an Keimbildungszentren für die Abscheidung von Platin. Aus diesen Untersuchungen lassen sich Schlüsse ziehen über die Natur der elektrokatalytischen und Keimbildungszentren auf den Oberflächen: Auf Gold und Silber sind dies wahrscheinlich teilweise oxidierte Oberflächenatome mit einer d9-Elektronenkonfiguration, und sie sind auf der Oberfläche von Unebenheiten in der Form von „Nichtgleichgewichtsatomen/ionen“ lokalisiert.
Im Fall von Glaskohlenstoff bewirken die OH•-Radikale eine Erosion der Oberfläche, eine Aufrauhung und eine Verminderung der Keimbildungszentren für die Abscheidung von Silber.
Wenn man blockierende Arylschichten auf Gold und Glaskohlenstoff mit OH•-Radikalen angreift, so kommt es zu einer kontinuierlichen Abtragung der Schicht auf Glaskohlenstoff, während die Schicht auf Gold einer Lochkorrosion unterliegt.
OH•-Radikale sind ein vielversprechendes Werkzeug zur Untersuchung der Eigenschaften von Oberflächen und auch für die gezielte Oberflächenmodifizierung.
Literatur:
An electrochemical system to detect free radicals and radical scavengers in solution: F. Scholz, G. López de Lara González, L. Machado de Carvalho, M. Hilgemann, Kh. Z. Brainina, H. Kahlert, R. S. Jack, D. T. Minh: Angew. Chem. Int. Ed. 46 (2007) 8079-8081
Hydroxyl radicals attack metallic gold: A. M. Nowicka, U. Hasse, M. Hermes, F. Scholz: Angew. Chem. Int. Ed. 49 (2010) 1061-1063
Selective knock-out of gold active sites: A. M. Nowicka, U. Hasse, G. Sievers, M. Donten, Z. Stojek, S. Fletcher, F. Scholz: Angew. Chem. Int. Ed. 49 (2010) 3006-3009
Activity changes of glassy carbon electrodes caused by their exposure to OH• radicals
T. Rapecki, A. M. Nowicka, M. Donten, F. Scholz, Z. Stojek Electrochem. Commun. 12 (2010) 1531-1534
The treatment of Ag, Pd, Au and Pt electrodes with OH• radicals reveals information on the nature of the electrocatalytic centers: A. M. Nowicka, U. Hasse, M. Donten, M. Hermes, Z. Stojek, F. Scholz: J. Solid State Electrochem. 15 (2011) 2141–2147
The effects of pretreatment of polycrystalline gold with OH• radicals on the electrochemical nucleation and growth of platinum: G. Sievers, U. Hasse, F. Scholz: J. Solid State Electrochem. 16 (2012) 1663–1673
Grain boundary corrosion of the surface of annealed thin layers of gold by OH• radicals: U. Hasse, K. Fricke, D. Dias, G. Sievers, H. Wulff, F. Scholz: J. Solid State Electrochem. 16 (2012) 2383-2389
OH• radical degradation of blocking aryl layers on glassy carbon and gold electrodes 2 leads to film thinning on glassy carbon and pinhole films on gold; E. Kibena , K. Tammeveski, L. Matisen, U. Hasse, F. Scholz Electrochem. Commun. 29 (2013) 33-36
Wolfdietrich Hartung (MLS):
Wege des Erkennens – am Beispiel unseres Wissens über Sprechen und Sprache
Sitzung der Klasse Sozial- und Geisteswissenschaften,
Berlin Rathaus Tiergarten, Balkon-Saal
Prof. Hartung ist Sprachwissenschaftler und Mitglied der Leibniz-Sozietät seit 1996. Nach dem Studium der Germanistik und Nordistik begann er 1955 seine Tätigkeit an der Akademie der Wissenschaften der DDR. Dort war er bis 1969 Mitarbeiter der Arbeitsstelle Strukturelle Grammatik, danach bis 1991 Leiter des Bereichs Sprachliche Kommunikation am Zentralinstitut für Sprachwissenschaften. 1992/93 arbeitete er am Institut für deutsche Sprache in Mannheim, danach an einem DFG-Projekt mit. Zahlreiche Publikationen auf folgenden Gebieten: Syntax des Deutschen, Grammatiktheorie, Kommunikation und Gesellschaft, Soziolinguistik, Sprachnormen, Gesprächsanalyse, Geschichte der Sprachwissenschaft, Sprache und Kultur, deutsch-deutsche Kommunikation. Mitarbeit an Wörterbüchern; (Mit-)Herausgabe mehrerer Zeitschriften; (Mit-)Veranstalter zahlreicher internationaler Tagungen, zuletzt 2000 „Kulturen und ihre Sprachen. Die Wahrnehmung anders Sprechender und ihr Selbstverständnis“. Gegenwärtige Arbeits- und Interessengebiete: Sprache und Kultur, Geschichte der Sprachwissenschaft, Sprache in der DDR.
Abstract:
Da (fast) jeder ohne größere Mühen mindestens eine Sprache so weit beherrscht, dass er sie für seine Zwecke hinreichend effektiv verwenden kann, mag die Frage nach den Wegen, sie zu erkennen, etwas in den Hintergrund rücken. Das ist aber deshalb erstaunlich, weil Sprache – unsichtbar für uns – nur in den Köpfen von Individuen „lebt“; wahrnehmbar sind erst die Produkte dieses Lebens, die „zwischen“ den Individuen, also außerhalb von ihnen existieren und uns zu vielerlei Schlüssen über Individuelles und Überindividuelles anregen. Diese unvermeidlichen Übergänge werfen naturgemäß Fragen nach der Verlässlichkeit des Wahrgenommenen und der Brauchbarkeit des Gedachten auf, sie berühren also wesentliche Fragen des Mensch-Seins, die niemand umgehen sollte.
Im 1. Teil des Vortrags wird ein Überblick über die sehr unterschiedlichen Arten der uns zur Verfügung stehenden Daten und über auf dieser Basis formulierbare Erkenntnisfragen gegeben.
Im 2. Teil wird an drei Beispielen erläutert, welche Probleme sich aus mangelnder Beachtung der divergierenden Existenzformen von Sprache ergeben können: Wo beginnt die Verschiedenheit von Sprachen? Was sind Bedeutungen „wirklich“? Wieweit lässt Sprachgebrauch auf verinnerlichte Verhaltensmuster schließen?
Der 3. Teil des Vortrags widmet sich der Frage nach der Herkunft der Sprachfähigkeit des Menschen. Im Mittelpunkt steht ein Blick auf das Lebenswerk von Noam Chomsky, auf seinen Begriff der im Kern angeborenen Language Faculty, auf die Idee einer teilweise ähnlichen Science Forming Faculty sowie auf seine Unterscheidung von problems und mysteries, die Schranken auch für die Erkennbarkeit der Sprache zulässt. Chomsky, der am 7. Dezember seinen 85. Geburtstag begeht, hat entscheidenden Anteil daran, dass (natur)wissenschaftliches Denken in einige Bereiche der Linguistik Eingang fand, und er hat wesentliche Anstöße für die aufkommenden Neurowissenschaften gegeben. Seine bisweilen auch polarisierende Wirkung hat die Fragilität eines verbreiteten Erkenntnis-Optimismus zumindest deutlich werden lassen.
Im Augenblick werden Versuche, die Sprachfähigkeit evolutionär zu erklären, auf jeden Fall bevorzugt und sind dank der Verzweigtheit möglicher Erklärungswege auch zugänglicher. Von stichhaltigen Erkenntnissen sind auch sie jedoch noch weit entfernt.