Nekrolog für unser Mitglied Gunnar Winkler

 

Prof. Dr. Gunnar Winkler; Foto: privat

Die Leibniz-Sozietät der Wissenschaften zu Berlin e.V. trauert um ihr Mitglied,
den international bekannten Sozialwissenschaftler Prof. Dr. Gunnar Winkler

Er verstarb am 17.07. 2019 im Alter von 88 Jahren.

Prof. Dr. Gunnar Winkler gehörte einer Generation an, deren Werdegang nach dem II. Weltkrieg unmittelbar mit Gründung und Existenz der DDR verbunden war. Berufliche Entwicklung, wissenschaftliche und politische Karriere standen so in einem Verweisungszusammenhang, der Möglichkeiten erschloss und Verpflichtung wurde. Mit dem Ende dieses Staates, welches weitgehend gleichzusetzen war mit dem Ende der beruflichen Karriere, zerbrach dieser Zusammenhang. Für Gunnar Winkler ist dennoch eine Kontinuität in Wissenschaft und politischer Wirkung festzuhalten, die nicht als Verklärung des Vergangenen denunziert werden sollte, sondern vor allem eine aktive Haltung zu den Herausforderungen der Zeit ermöglichte. Gunnar Winkler hat sich und einigen seiner Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter nach der Abwicklung der Akademie der Wissenschaften neue Betätigungsfelder erschlossen. Verbitterter Rückzug war seine Sache nicht, ebenso nicht Anbiederung.

Gunnar Winkler wurde am 21. März 1931 in Hamburg geboren. Sein Vater war Dachdecker, die Mutter Angestellte. Unmittelbar nach dem Krieg trat er in die KPD ein, die wenig später durch den Zusammenschluss mit der SPD zur SED wurde. Während des Krieges hatte er die Volksschule absolviert. 1948 begann er eine Ausbildung als Bergmann im Uranbergbau bei der Wismut und arbeitete zunächst als Hauer und Steiger unter Tage. Bei der Wismut wurde er hauptamtlicher Sekretär der Freien Deutschen Jugend (FDJ). Dem folgte die Delegierung an die Arbeiter-und-Bauern-Fakultät und anschließend von 1952 bis 1956 ein Studium der Wirtschaftswissenschaften in Leipzig und Halle. Es war der für viele seiner Generation prägende soziale Aufstieg.

Die Herkunft aus der Arbeitsklasse, die Erfahrung harter, körperlicher Arbeit blieben für Gunnar Winkler sehr bedeutsam, ebenso gilt das für die enge Bindung an die Gewerkschaft. Von 1956 bis 1967 war er wissenschaftlicher Assistent, danach Dozent an der Gewerkschaftshochschule in Bernau. An dieser Hochschule promovierte er und wurde zum ordentlichen Professor für sozialistische Betriebswirtschaft sowie zum Leiter der Sektion Arbeit und Sozialpolitik berufen. Bernau und auch die Gewerkschaftshochschule blieben für Gunnar Winkler auch späterhin Lebensmittelpunkt wie ein wichtiger Orientierungspunkt. In Bernau lebte er mit der Familie, seiner Frau und den vier Töchtern. All das verweist auf eine Bodenhaftung, mit der wohl erst eine so sichtbare lebensbiografische Kontinuität möglich wird. Und zugleich erklären sich daraus auch seine eigene Art eher zurückhaltender, zumeist pragmatischer Sachlichkeit und eine verschmitzte, humorvolle persönliche Ausstrahlung, die ihm viel Anerkennung gebracht haben.

Gunnar Winkler wechselte 1977 als wissenschaftlicher Mitarbeiter an das Zentralinstitut für Philosophie der Akademie der Wissenschaften der DDR und wurde dort 1978 Direktor des neu gegründeten Instituts für Soziologie und Sozialpolitik. Dieser Gründung ging seine langjährige Beschäftigung mit der Sozialpolitik voraus, die nicht nur die wissenschaftliche an der Gewerkschaftshochschule war, sondern zu politischer Verantwortung führte. So war er beispielsweise von 1974 bis 1990 Vorsitzender des Wissenschaftlichen Rates für Sozialpolitik und Demografie der DDR. Die damit verbundende Erwartung oder Verpflichtung einer praktischen Politikberatung war Gunnar Winkler durchaus eigenes Anliegen. In einer späten Veröffentlichung von diesbezüglichen Studien hat er dabei Erreichtes und mehr noch Nicht-Erreichtes dokumentiert. Ob und wann er die Vergeblichkeit solcher Beratung durchschaut hatte, ist mir nicht bekannt. Aber gut erinnern kann ich mich noch daran, wie fasziniert einflussreiche westdeutsche Sozialwissenschaftler von den scheinbar gegebenen Möglichkeiten direkter politischer Intervention durch die Wissenschaft waren.

Die Institutskonstruktion von Soziologie und Sozialpolitik war gewiss nicht einfach. Gunnar Winkler hat sie mit beachtlichem Leitungsgeschick und eben den angeführten persönlichen Eigenschaften über die Jahre gebracht. In den Monaten der Wende stellte er sich erfolgreich zur Wahl als Institutsdirektor. Über die Jahre war sein Schwerpunkt eindeutig die Sozialpolitik, aber auch Anderes hat er zugelassen. So konnte sich in seinem Institut ein beachtliches Niveau empirischer Sozialforschung durchsetzen, die von ihm herausgegebenen Publikationen, wie insbesondere das „Jahrbuch für Soziologie und Sozialpolitik“, waren anerkannt. Das Institut avancierte in den späten 1980er Jahren zum Gastgeber international sehr gut besuchter und wissenschaftlich produktiver, offener Veranstaltungen, beispielsweise der Tagungen am Linow-See.

In den Umbrüchen 1989/1990 übernahm Gunnar Winkler unmittelbar politische Verantwortung. So war er Mitglied des Wissenschaftlichen Rates für Grundsatzfragen der Forschung und Entwicklung beim Ministerrat der letzten Regierung der DDR. 1992 wurde er Mitbegründer des Sozialwissenschaftlichen Forschungszentrums Berlin-Brandenburg e.V., von 1993 bis 2004 dann dessen Geschäftsführer. Dieses Forschungszentrum konnte sich mit seinen Sozialreports zur sozialen Lage in den neuen Bundesländern einen anerkannten Platz in der Sozialberichterstattung zu Ostdeutschland erarbeiten. Neben den veröffentlichten Studien und Berichten dokumentieren dies die von Gunnar Winkler noch kurz vor seinem Tod herausgegebenen zusammenfassenden Auswertungen der 25 Wellen der repräsentativen Befragung „Leben in den neuen Bundesländern“.

Nicht zufällig hatten diese Untersuchungen immer wieder die sozialen Widersprüche und Verwerfungen in den ostdeutschen Ländern nach 1989 zum Gegenstand; der kritische sozialpolitische Blick auf die Gestaltung der deutschen Einheit wurde für Gunnar Winkler zum Kern seines wissenschaftlichen und politischen Wirkens über die letzten Jahrzehnte. Insbesondere war dies mit seiner Rolle und Verantwortung als Präsident des Bundesverbandes der Volkssolidarität von 2002 bis 2014 verbunden. Gunnar Winkler hat diesen Verband deutlich in seiner sozialpolitischen Verantwortung geprägt. Sein Wirken hier war untrennbar mit dem am Sozialwissenschaftlichen Forschungszentrum verbunden; er strebte wissenschaftlich fundierte politische Wirksamkeit an. Das ist notwendigerweise immer eine Gratwanderung, die ihm (und gelegentlich dem Institut) auch einige Kritik eingebracht hat, angesichts der wirtschaftlichen, politischen und eben auch sozialen Umbrüche aber höchste Anerkennung verdient. Für Gunnar Winkler war auch diese Tätigkeit ein Stück lebensbiografischer Kontinuität, denn Mitglied der Volkssolidarität war er seit 1963.

Seit dem Jahr 2000 war Gunnar Winkler Mitglied der Leibniz-Sozietät der Wissenschaften zu Berlin.

Dr. Michael Thomas, MLS