Kurzbericht zur Sitzung des Arbeitskreises Gesellschaftsanalyse am 22.9.2023

Mit der Sitzung am 22.9. des Jahres hat der Arbeitskreis mit zwölf Teilnehmenden seine thematische Reihe „Zeitdiagnosen: Gesellschaften im Umbruch – Analysen und transformatorische Chancen“ im Rahmen der vereinbarten Vorgehensweise fortgesetzt: Vorgestellt und diskutiert werden sollen einzelne Publikationen, die für sich einen Erkenntniswert für die Fragen nach transformatorischen Chancen bieten, und die zudem ein breiteres, relevantes Themenfeld erforderlicher Zeitdiagnosen öffnen können. Dass über diesen Weg angestrebte Ziel einer in absehbarer Zeit erfolgenden Systematisierung von Lese- und Diskussionseinsichten und einer Verständigung zum Kanon vorliegender Zeitdiagnosen, wurde auf der Sitzung am 22.9. nochmals unterstrichen und verabredet.

Gegenstand des Austausches war das Buch von

Andrea Komlosy: Zeitenwende, Big Data und die kybernetische Zukunft, Wien 2022.

Da dieses Buch in seinen grundlegenden Aussagen und auch seinem konzeptionellen Design bereits im Plenum der Leibniz-Sozietät diskutiert worden war, wurde für die Sitzung am 22.9. eine systematische Eingrenzung vorgenommen – im Mittelpunkt sollten die konkreten Aspekte der Zeitenwende mit Konzentration auf die Abschnitte zum „kybernetischen Kapitalismus“, wie er durch das „Corona-Moment“ beschleunigt wurde, stehen. Damit wurde zwar ein durchaus gewichtiger Teil abgeschnitten bzw. nur knapp als Ausblick angeführt, es blieb aber noch hinreichend „Stoff“. Entsprechend wurde vorab neben einer Besprechung zum Buch durch Ulrich Busch ein einführender Text verschickt und wurden Textauszüge aus dem Buch zur Verfügung gestellt. Diese Konzentration konnte und sollte natürlich die zu weiteren und eben auch zu grundlegenden Aussagen der Publikation nicht unterbinden (was auch nicht erfolgte); die Eingrenzung erwies sich aber für die Strukturierung der Diskussion als sinnvoll.
Nach einem kurzen Rückblick auf die vorangegangene Sitzung des Arbeitskreises am 9. Juni (Nancy Fraser: Der Allesfresser. Wie der Kapitalismus seine Grundlagen verschlingt“) und einer knappen „Einbettung“ in einige übergreifende Fragen (etwa zur Thematik „Zeitenwende“) durch Michael Thomas erfolgte die Einführung in die genannte Themenstellung durch Dieter Segert, der vor seiner Pensionierung als Professor an der Universität zudem mit der Autorin die Wirkungsstätte geteilt hatte, sie kannte und so auch über die unmittelbare Publikation hinaus vorstellen konnte.
Dieter Segert konzentrierte sich in der Einführung entlang der ausgewählten Texte auf ein Herausarbeiten der zentralen Argumentation von Andrea Komlosy und benannte einige der damit aufgeworfenen Fragen, ohne schon vorab in Interpretation oder auch Kritik zu überziehen. Auch dieses Vorgehen konnte die folgende – sehr lebendige und zum Teil kontroverse – Diskussion sehr gut strukturieren und stimulieren. Nahezu alle der Anwesenden beteiligten sich an dieser. Da Querbezüge zu anderen Arbeiten bzw. auf den Stand der Debatte angesichts der allein mit dieser Publikation direkt verbundenen Fragen kaum vorgenommen werden konnten, wurde abschließend die Absicht einer breiteren (Workshop, Konferenz) Zusammenführung und Systematisierung der einzelnen Reflexionsrunden nochmals unterstrichen.

Übereinstimmend wurde die Auswahl des Buches für den übergreifenden thematischen Kern unserer Fragestellung im Arbeitskreis begrüßt und bestätigt – das Buch ist unstrittig ein gewichtiger Beitrag. In vielen seiner analytischen Erkenntnisse über die kapitalistische Gesellschaft schließt es an Nancy Fraser an, ohne deren Schlussfolgerung hinsichtlich des Charakters oder der Tiefe anstehender transformatorischer Umbrüche zu folgen. Wenn sozusagen für Fraser „Ende des Kapitalismus“ wie „Sozialismus“ wieder zeitgemäßes Thema sind und die Entwicklung markieren, so bleibt Andrea Komlosy hier skeptisch und offen. Ihr geht es eher um einen Neuanfang des Kapitalismus, eine Ablösung des neoliberalen Kapitalismus durch einen „Corona-Keynesianismus“ (S. 11) Das führte zu einem größeren und eben kontroversen Diskussionsprozess, in dem es dann auch darum ging, ob und inwieweit hinreichend über konkrete Auseinandersetzungen zu den Umbrüchen, über wichtige Debatten und alternative Bewegungen geredet bzw. diese systematisch aufgenommen wurden. Für einige der Teilnehmenden besteht darin eine ähnliche Schwäche, wie sie auch schon bei Nancy Fraser so angemerkt worden war. Für andere weist das auf erforderliche Ergänzungen hin oder/und bestätigen sich darin tatsächliche gesellschaftliche Befunde hinsichtlich der Schwächen von Debatten und Bewegungen.
Die von der Autorin unter dem thematischen Leitgedanken „kybernetischer Kapitalismus“ bzw. für ein „kybernetisches Zeitalter“ aufgedeckten analytische Befunde in den betrachteten zentralen Sektoren und den von ihr herausgearbeiteten hochgradig widersprüchlichen, ambivalenten Trends sich vollziehender Disruptionen zeigten sich für die Teilnehmenden als aufschlussreiche zeitdiagnostische Bestandsaufnahme (untersetzt mit Konzepten und Positionen wichtiger Akteure). Die Trends im Medizinbereich etwa, die mehr und mehr sich vollziehende Verschränkung von „Big Data“ und „Big Pharma“ (S. 235ff.) haben gravierende Konsequenzen. In systematischer Analyse und aufgezeigten Konsequenzen liegen wesentliche Vertiefungen zur bisherigen Debatte. Der Terminologie „kybernetisches Zeitalter“, dies eher nebenbei, wurde allerdings kaum gefolgt – zu wichtig sei eine Unterscheidung von „Kybernetisierung“ und „Digitalisierung“, wobei inhaltlich eben letztere auch bei der Autorin gehaltvoll im Zentrum der Analysen stand bzw. steht. Was schließlich dies alles für eine anstehende, durchzusetzende Transformation bedeutet, wie also die hierzu im diskutierten Kapitel wie dann auch im nur erwähnten folgenden (Der neue Mensch) aufgezeigten tiefen und vielfach dramatischen Veränderungen aufzunehmen wären bzw. wie sie eine erforderliche Transformationsgrammatik beeinflussen, sollte Gegenstand weiterer Arbeit und Debatte im Arbeitskreis sein. Welche alternativen Optionen gibt es? Ein sich etablierender Transhumanismus wäre eine erhebliche Transformationsblockade. Die Publikation bietet für diese Fragen Substanzielles; nur einiges konnte diskutiert werden.
Neben einzelnen Aspekten, die noch kontrovers diskutiert wurden (die Auseinandersetzungen um „Corona“, die Konzeption der „Zeitenwende“), gab es eine größere Kontroverse noch zum konzeptionellen Instrumentarium bzw. übergreifend zum Konzept der Kondratieff-Zyklen, dem doch außerhalb der Wirtschaftswissenschaften immer wieder zu stark deterministische Verkürzungen unterstellt werden (das war also auch im Arbeitskreis ein „Pro“ und „Contra“), während eher übereinstimmend eine weitgehend nicht erfolgende Auseinandersetzung mit der Klimaproblematik angemerkt wurde. In der Tat scheint es so, dass sich für eine Zeitanalyse die übergreifenden Krisenmomente (also etwa Klima, Soziales, Digitalisierung …) deshalb nicht voneinander trennen lassen, weil eine solche Trennung unmittelbare konzeptionelle Konsequenzen hat (z.B. auch hinsichtlich der Einschätzung dieser Kondratieffs bzw. damit jeweils verbundener „Kontinuitätsgewinne“). Die systematische Akzentuierung der Klimafrage stellt so die Aussichten auf einen neuen (5.) Kondratieff-Zyklus in Frage und vor allem Erwartungen, „produktive Impulse in ein neues Wachstum zu übersetzen“ (S. 42). Zumindest dann, wenn diese Klimafrage auf vermarktbare Lösungen oder technologische Machbarkeit reduziert wird. Darauf weist die Autorin selbst nach einem interessanten Exkurs über geopolitische Umbrüche und globale Hegemonie hin. „Wie die neue, in Formierung befindliche Weltordnung, aussehen wird, steht noch nicht fest.“ (S. 272) Das unterstreicht zugleich wieder ihr Bestreben zu „dynamischen Interpretationen“, die dem angeführten ökonomischen Determinismus entgehen sollen (vgl. S. 28f.) Das wurde unterschiedliche gesehen. Die Kontroverse war so nicht aus der Luft gegriffen, ist aber vor allem ein offenes Angebot.
Das Buch bzw. die Diskussion haben den Arbeitskreis ein gutes Stück voran gebracht in seiner thematischen Aufarbeitung von Zeitdiagnosen. Die hochgradige Ambivalenz unserer Zeit, in der sich eben – wie die Autorin aufzeigt (S. 133) – das „Utopische vom Dystopischen“ nur schwer unterscheiden lassen, erweist sich als eine herausfordernde Motivation.

AK Gesellschaftsanalyse (Septembersitzung 2023)