Luan A. Starova – octogenario multam salus!

Luan Starova zum Leibniztag 2016 in Berlin (Foto: D. Linke)

Prof. Dr. Luan A. Starova, Mitglied der Makedonischen Akademie der Wissenschaften und Künste (MANU), wurde am 14. August 1941 im südöstlichen Europa, im albanischen Pogradec am Ochridsee, in ein Gebiet mit einer Jahrtausende alten kulturellen Tradition hinein geboren, in ein Völkergemisch, das einerseits friedlich, tolerant und einverständlich miteinander zusammenlebte, das aber andererseits auch Hass und Bruderkriege, Flucht und Vertreibung kannte, oft genug Spielball der europäischen Großmächte war und nicht frei blieb von regionalem Hegemonialstreben. In der sprachlichen wie ethnischen Vielfalt gab es eine starke slawische Komponente, die für den Balkan, und davon ist hier die Rede, sehr prägend war. Das politische und persönliche Schicksal sollte den Albaner Starova und seine große, weitverzweigte, türkische und jüdisch-sephardinische Wurzeln aufweisende Familie in die Nähe dieses slawischen Konglomerats rücken und dort sogar heimisch werden. Daraus entwickelte sich für ihn von der Herkunft her und durch die äußeren Lebensumstände eine Mehrfachidentität und, stärker eingegrenzt, eine durch die Flucht aus Albanien nach Makedonien bedingte, so Starova selbst: „’Dualität’: Bildung erwarb ich auf Makedonisch… und zu Hause lebte ich mit der albanischen Sprache“. Im Laufe der Jahre, sich dieser Tatsachen immer stärker bewußt werdend, begann er seine eigene Einordnung und die seiner Familie in ein sich veränderndes gesellschaftliches Umfeld und soziales Geflecht zu hinterfragen, also nach den Ausgangspunkten zu forschen und das „Wie“ dieser Entwicklung aufzudecken, Einflüssen nachzugehen und die jeweils eigenen Positionen zu bewerten.

Es dauerte einige Zeit, ehe Luan Starova reif genug war, sich dieser großen Problematik zu widmen und sie literarisch aufzuarbeiten, ihr psychologisch, philosophisch und historisch gerecht zu werden. Er schrieb mit Ehrfucht über das Balkanische hinweg, über das so eigenartige Balkanische mit seiner erstaunlichen Kultur, mit seinen Zwiespältigkeiten, die manches Mal kleingeistig-kleinlich waren, oder manches Mal aus nationalistisch-überheblicher Selbstgefälligkeit oder religiöser Rechthaberei heraus für den Einzelnen wie für das politisch-ethnische Gemeinwesen bedrohlich werden konnten. „Entschlüsselung“ nannte er den Vorgang dieser verästelten Gesellschaftsanalyse, die ihm auch den Blick auf die Geschichte der eigenen Familie weitete und Unbekanntes zutage brachte.

Erst mit 50 Jahren nahm er seine „Balkansaga“ in Angriff, einen Romanzyklus sui generis, der ihn als Schriftsteller europaweit bekannt und berühmt machte. Inzwischen umfasst die Reihe zwanzig Bände. Die meisten von ihnen, von der französichen Literaturkritik aufgenommen in die Reihe der „großen europäischen Romane“, wurden in fast alle europäischen Sprachen übersetzt, darunter auch ins Deutsche (z. B. „Das Buch der Mutter“, 2010, „Zeit der Ziegen“, 2021).

Erinnert sei  an die Romane „Die Liebe des Generals“ (2008) und „Der General und der Schmetterling“ (2018), deren Handlungen im Ersten Weltkrieg an der bulgarisch-makedonischen Front angesiedelt sind, wo sich französische und deutsche Truppen auf das Heftigste  bekämpften, und das etwas absurde Aufeinandertreffen zweier Offiziere, eines in Gefangenschaft geratenen deutschen und eines französischen, zum Inhalt hat. Im Vordergrund steht dabei die Menschlichkeit. Beide Offiziere waren militärische Feinde, zugleich aber auch als Schmetterlingskundler wissenschaftlich Gleichgesinnte. Der Sinn beider Romane, die Überwindung des Krieges, bleibt auch künftig ein hohes, leider aber, ein unerreichbares Ziel. 2014 erschien das Buch „Balkanvavilonci“ (Balkanbabylonier). Darin wird  die Geschichte zweier Bibliotheken und zweier Intellektueller behandelt. Starovas Vater und sein Freund Kliment Kamilski, die Besitzer der Büchersammlungen, trafen sich wechselseitig Nacht für Nacht in ihren Bücherburgen, um ihre Gedanken auszutauschen, um über die balkanische Geschichte und die Bedeutung der Sprachen nachzudenken: über ihre Reinheit, über den Unterschied zwischen Lehnwörtern und in die Sprache hereindrängenden  -ismen, über  Präzision und Ausdruckskraft der Sprache und ihre Rolle als Identitätsmerkmal. Starovas Vater brachte sogar den Gedanken eines Sprachenkrieges ins Spiel. Ein Ende der „Balkansaga“, nach Starovas eigenen Worten, „ist nicht in Sicht, es sei denn, eine höhere Macht geböte Einhalt“.

Was Luan Starova in seiner halb-biographischen und damit bedingt subjektiv geprägten „Balkansaga“ aufgeschrieben hat, zeichnet sich durch tiefen Humanismus, Feinfühligkeit und durch die genaue Darstellung völkerübergreifender Menschenschicksale aus. Auf den ersten Blick möchte es scheinen, als ob die „Balkansaga“ allein auf den Balkan eingegrenzt sei. Dem ist nicht so. Inhaltlich und mit ihren Aussagen über Toleranz und Völkerverständigung, ja Völkerfreundschaft und ihrem Antibellizismus geht sie weit über den balkanischen Raum hinaus und besitzt eine allgemeinmenschliche, europaweit akzeptierte Dimension. Heute ist sie bereits Gegenstand wissenschaftlicher Graduierungsarbeiten und literaturwissenschaftlicher Forschungen.

Seine Schulbildung erhielt Luan Starova in Skopje. Das Abitur (Matura) legte er am 1961 am Josip-Broz-Tito-Gymnasium ab. Anschließend studierte er in Zagreb und Paris Romanistik, einschließlich französisches Schrifttum, im Zweitfach Geschichte der Kunst. Nach dem Studium (Diplom 1967) arbeitete er als Journalist bei Radio Skopje und nach 1968 beim makedonischen Fernsehen als verantwortlicher Redakteur für die Sendungen in albanischer Sprache. Seine akademische Ausbildung setzte er mit der Magisterarbeit zum Thema „Der Balkan in der Prosa von Guillaume Apollinaire“ fort. 1972/1973 war er Stipendiat an der Pariser Neuen Sorbonne. 1974 wurde er Assistent an der Philogischen Fakultät der Universität Skopje. 1975 war er wieder Stipendiat in Paris, wo er seine Dissertation vorbereitete, die er 1978 in Zagreb vorlegte und mit Erfolg verteidigte. Sie erschien 1998 unter dem Titel „Faїk Konitza et Guillaume Apollinaire. Une amitié éuropéenne“. 1990 wurde Starova als ordentlicher Professor an die Universität Skopje berufen, wo er den Lehrstuhl für romanische Sprachen und romanisches Schrifttum leitete. 2003 wurde er zum Mitglied der Makedonischen Akademie der Wissenschaften und Künste (MANU) gewählt und ist seit Januar 2016 ihr Vizepräsident. Er ist darüber hinaus Mitglied der Mittelmeerischen Akademie in Neapel (seit 1998), der Albanischen Akademie der Wissenschaften (seit 2006, als externes Mitglied), der Europäischen Akademie der Wissenschaften in Salzburg (seit 2014) und der Leibniz-Sozietät der Wissenschaften (2016).

Luan Starova erhielt für sein wissenschaftliches und literarisches Schaffen zahlreiche nationale wie internationale Auszeichnungen und, besonders hervorzuheben, 2003 in Frankreich den hohen staatlichen Titel eines „Commandeur de l`Ordre des Arts et des Lettres“, eine Ehrung, die nur Wenigen zuteil wird. Starova hat über 200 wissenschaftliche Arbeiten verfasst, war als Übersetzer (u.a. von Jean-Paul Sartre, Pablo Neruda, Georg Lukács) und Herausgeber tätig. Er referierte auf Kongressen und Symposien u.a. in New York, Barcelona, Quebec, Beijing, wo er kurzzeitig in Lehrveranstaltungen an der dortigen Universität in die Literatur der Balkanländer einführte.

Luan Starova übte über Jahre verschiedene Funktionen im staatlichen und diplomatischen Dienst der Republik Jugoslawien und der Republik Makedonien/Nordmakedonien aus. Er war außerordentlicher und bevollmächtigter Botschafter in Tunis und jugoslawischer Botschafter in Palästina. Nach der Unabhängigkeit Makedoniens wurde er der erste ordentliche und bevollmächtigte Botschafter seines Landes in Paris und zugleich dessen ständiger Vertreter bei der UNESCO. Er war außerdem Botschafter in Spanien und Portugal.

Für die Leibniz-Sozietät ist es eine große Ehre, Prof. Dr. Luan Starova unter ihren Mitgliedern zu wissen.

Armin Jähne