Leibniz-Medaille 2020

Verleihung der Gottfried-Wilhelm-Leibniz-Medaille 2020
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n Professor Dr. William F. Martin

 

Die Leibniz-Sozietät der Wissenschaften zu Berlin verlieh an ihrem Leibniz-Tag am 26. November 2020 die Gottfried-Wilhelm-Leibniz-Medaille an den Leiter des Instituts für Molekulare Evolution der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf, Prof. Dr. William F. Martin, für seine bahnbrechenden Forschungen über die Evolution der Zellen und den Ursprung des Lebens auf der Erde.

Die Leibniz-Medaille würdigt satzungsgemäß außergewöhnliche Forschungsergebnisse durch fächerübergreifende Zusammenarbeit und Erschließung neuer Arbeitsgebiete. Das trifft in besonderem Maße auf William Martin zu, der seine Forschungen von der Biochemie der Pflanzen und Bakterien (Energiestoffwechsel) und Molekularbiologie (Genomanalytik und Bioinformatik) über die Ökophysiologie primitiver Lebensformen (Archaeen und Bakterien) und Evolutionsbiologie (Symbiogenese eukaryotischer Zellen) bis zur Geochemie (Entstehung irdischen Lebens) und Astrobiologie (Extraterrestrische Lebensbedingungen) sukzessive ausweitete, dabei ganz verschiedene Fächer, Arbeitsgruppen und Methoden konsequent zusammenführte und sich selbst vom Stoffwechselphysiologen zum Ökophysiologen und schließlich zum Molekularen Evolutionsbiologen wandelte.

1957 in Bethesda (Maryland/USA) geboren, besuchte William Martin die Richardson High School und das Richland College in Dallas (Texas) und studierte an der Texas A&M University in College Station Biologie. Hier weckte der Mikrobiologe Willard A. Taber (1925–2017) sein Interesse an der Evolution der Zellen, als er 1978 in einer Vorlesung auf einen möglichen symbiogenetischen Ursprung der Chloroplasten hinwies. Von 1981 bis 1985 setzte Martin sein Biologiestudium an der Universität Hannover fort, wo er sich Rüdiger Cerff (1940–2020) am Institut für Botanik anschloss, um schließlich bei Heinz Saedler (* 1941) am Max-Planck-Institut für Züchtungsforschung in Köln genetisch zu arbeiten. Nach der Promotion (Köln 1988) kehrte er zu Cerff zurück, der inzwischen am Institut für Genetik der TU Braunschweig forschte, und habilitierte sich 1992 für Botanik. 1999 folgte er einem Ruf auf die C4‑Professur für „Ökologische Pflanzenphysiologie“ an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf, die 2011 in „Molekulare Evolution“ umgewidmet wurde.

 

Die von Taber in College Station (Texas) geweckte Neugier auf den Ursprung der Plastiden fand bei Cerff in Hannover einen fruchtbaren Nährboden, als hier Isoenzyme des Calvin-Zyklus der CO2-Assimilation kloniert und sequenziert wurden. Der Calvin-Zyklus läuft bei den Pflanzen im Stroma der Chloroplasten, bei den Bakterien hingegen im Cytosol ab. Die Sequenzanalyse der Isoenzyme bot damit die Möglichkeit einer experimentellen Überprüfung der Endosymbiosetheorie und belegte schon 1986 die Existenz eines endosymbiotischen Gentransfers zum Zellkern. Der Nachweis ursprünglicher Chloroplastengene in den Zellkernen stützte klar die Theorie eines endosymbiotischen Charakters der Plastiden und Mitochondrien und erklärte, warum diese Organellen, die rezenten Prokaryoten so stark ähnelten, nur noch wenig eigene DNA enthalten. Sodann fragte William Martin nach der Herkunft der Mitochondrien und der Natur ihres Wirts und entwickelte 1998 gemeinsam mit Miklós Müller (* 1931) in New York ein Modell zur Entstehung der Eucyte, das weltweit Beachtung fand: die Wasserstoffhypothese der primären Endosymbiose, der zufolge in einer noch O2-freien Umwelt ein methanogenes Archaeon ein anaerobes Eubakterium, das H2 und CO2 produziert, aufnahm.

Die Überzeugung, dass es sich bei den eukaryotischen Zellen um phylogenetische Chimären handelt, warf die Frage nach dem Ursprung der Symbiosepartner, d.  h. der geochemischen Entstehung der ersten Prokaryoten (Archaeen und Bakterien), auf. Entscheidende Anregungen erhielt Martin dabei von dem britischen Geochemiker Michael J. Russell, mit dem er 2003 die hydrothermale Evolutionshypothese der Herausbildung eines präbiotischen Stoffwechsels formulierte. Die Stoffe und Reaktionsbedingungen, wie sie bestimmte Tiefsee-Hydrothermalquellen bieten, korrespondierten dann auch mit dem hypothetischen archaischen Energiestoffwechsel eines Urahnen aller Lebewesen, wie ihn aufwändige, bioinformatische Genomanalysen von rd. 2.000 Prokaryoten durch William Martin und seine Gruppe nahe legten. Die Aufsehen erregenden Forschungen, die erste Einblicke in den Lebensraum und die Lebensweise des letzten universellen gemeinsamen Vorfahren aller Lebewesen, des Last Universal Common Ancestor (LUCA), gaben, waren Gegenstand eines beeindruckenden Vortrags von Professor Martin im Plenum der Leibniz-Sozietät am 12. Dezember 2019.

Die Stringenz des Weges von den Isoenzymen des plastidären Stoffwechsels bis zur Entstehung des Lebens ist bestechend. Dabei erwies sich William Martin als vielseitiger und ideenreicher Experimentator und attraktiver Moderator, der umfassenden Konzepten folgte und dafür immer wieder interdisziplinäre Bünde zu schmieden wusste. Er zählt heute zu den weltweit führenden Vertretern der Molekularen Evolutionsbiologie, der bisher mehr als 270 wissenschaftliche Originalmitteilungen veröffentlichte.

Die Attraktivität und Originalität der Forschungen zeigt sich nicht zuletzt in der Zahl der akademischen Schüler und Auszeichnungen von William Martin, der seit seiner Habilitation 1992 mehr als 50 Doktoranden zur Promotion führte und begehrte Forschungspreise erhielt, wie den Miescher-Ishida-Preis der International Society of Endocytobiology (1998) und den Preis der Klüh-Stiftung für Innovation in Wissenschaft und Forschung (2018). Seit 2008 ist er Mitglied der Nordrhein-Westfälischen Akademie der Wissenschaften, und 2008 und 2015 erhielt er den Advanced Grant des Europäischen Forschungsrates für Spitzenforscher.

Mit der Verleihung der Gottfried-Wilhelm-Leibniz-Medaille ehrt die Leibniz-Sozietät der Wissenschaften zu Berlin einen herausragenden Biologen und Hochschullehrer, der bei der Bearbeitung komplexer Themen auf beispielhafte Weise die Kompetenzen und Techniken verschiedener Fachgebiete integrierte und neue Forschungsfelder eröffnete.

 

Erwiderung und Widmung

In seiner Erwiderung auf die Laudatio des Vizepräsidenten Prof. Dr. Lutz-Günther Fleischer erinnerte William Martin daran, wie unerwartet manche Zusammenhänge ausfallen. So verdanke er als gebürtiger US-Amerikaner und Texaner seine Ehrung mit der Leibniz-Medaille just … einem Russen, und zwar dem Begründer der heute allgemein anerkannten Endosymbiosetheorie, Konstantin S. Mereschkowsky, der vor ziemlich genau 100 Jahren, am 9. Januar 1921, starb. Als Person in der Geschichte umstritten, war er unbestritten ein mutiger Forscher und Freigeist, der sich brennend für die Entstehung der komplexen Zellen mit echten Zellkernen und den Ursprung des Lebens interessierte und darüber bahnbrechende, seiner Zeit weit vorauseilende Arbeiten (1905 und 1910) verfasste. Und Bill Martin führte weiter aus:

„Heute haben wir den Vorteil, über massenhafte Datenberge zum Verlauf der frühen Evolution zu verfügen. Das sind die Daten des Erbguts, in dem die Geschichte des Lebens eingeschrieben ist. Wir müssen die Botschaft nur richtig entschlüsseln. Mereschkowsky hatte diesen Vorteil nicht. Er musste ohne solche Daten mit scharfem Verstand arbeiten, um der Natur ihre Geheimnisse zu entlocken, und kam zu Erkenntnissen, die heute von den meisten Forschern als neu angesehen werden. Die Relativität des Neuen ist eine der wenigen Konstanten in der Wissenschaft.

Doch eines habe ich in meiner wissenschaftlichen Arbeit mit unvorstellbaren Bergen an Genom-Daten gelernt: Daten sind kein Ersatz für den klaren Verstand, weil sie niemals von allein erzählen werden, was sie bedeuten. Dafür müssen wir die richtigen Fragen stellen, und die Antworten sind nur so gut wie diese Fragen. Also liegt es an uns, unsere Denkvermögen stets zu schärfen, uns nicht von den neuesten Forschungstrends überrollen zu lassen und immer die Geschichte im Auge zu behalten. Wer von uns kann schon sagen, was die Wissenschaft in ferner Zukunft für wahr halten wird?

In diesem Sinne möchte ich die Leibniz-Medaille des Jahres 2020 dem vor 100 Jahren verstorbenen russischen Wissenschaftler Konstantin Mereschkowsky widmen, dem zeitlebens jedwede Anerkennung seiner Arbeit verwehrt wurde, zu Unrecht. Durch die heutige Würdigung meiner Forschungen in den Bahnen Mereschkowskys mag jenes Versäumnis nachgeholt werden – damit können wir etwas Gutes für die Zukunft tun.“

 

Quellen

Bei den beiden wegweisenden Veröffentlichungen von Konstantin S. Mereschkowsky (1855–1921) handelt es sich um:

Über Natur und Ursprung der Chromatophoren im Pflanzenreiche. Biologisches Centralblatt 25:593–604, 689–691 (1905).

Theorie der zwei Plasmaarten als Grundlage der Symbiogenesis, einer neuen Lehre von der Entstehung der Organismen. Ebenda 30:278–288, 289–303, 321–347, 353–367 (1910).

Die Tragweite dieser alten Arbeiten wurde lange Zeit verkannt und erst im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts zögerlich anerkannt. Es war das Anliegen eines umfangreichen Sammelbandes, mit faksimilierten Reproduktionen der frühen Pionierarbeiten, biographischen und biologiehistorischen Essays und neueren Forschungsberichten die vergessenen und verschütteten Wurzeln und abseitigen Wege der Endosymbiosetheorie aufzuzeigen und die historischen Kontexte und Leistungen ihrer Wegbereiter in Erinnerung zu rufen.

 

Evolution durch Kooperation und Integration – Zur Entstehung der Endosymbiosetheorie in der Zellbiologie. Hrsg. von Armin Geus und Ekkehard Höxtermann, Basilisken-Presse Marburg an der Lahn 2007, 751 S. – Mit Faksimiles und einer Bibliographie der Schriften Konstantin S. Mereschkowskys.

Die nur wenigen Spezialisten bekannten Schriften Mereschkowskys wurden von Klaus Kowallik und William Martin ins Englische übersetzt und finden erst jetzt die verdiente, weltweite Beachtung:

Martin WF, Kowallik KV: Annotated English translation of Mereschkowsky‘s 1905 paper ‘Über Natur und Ursprung der Chromatophoren im Pflanzenreiche’. Eur J Phycol 34:287–295 (1999).

Kowallik KV, Martin WF: The theory of two plasma lineages as the foundation of symbiogenesis, a new principle for the origin of organisms. By Prof. Dr. C. Mereschkowsky (1910). BioSystems, 28 pp., in press (2020).

Zu den weithin beachteten Arbeiten William Martins zur molekularen Evolution der Zellen zählen:

Martin W, Brinkmann H, Savona C, Cerff R: Evidence for a chimaeric nature of nuclear genomes: Eubacterial origin of eukaryotic glyceraldehyde-3-phosphate dehydrogenase genes. Proc. Natl. Acad. Sci. USA 90: 8692–8696 (1993).

Martin W, Stoebe B, Goremykin V, Hansmann S, Hasegawa M, Kowallik KV: Gene transfer to the nucleus and the evolution of chloroplasts. Nature 393: 162–165 (1998).

Martin W, Müller M: The hydrogen hypothesis for the first eukaryote. Nature 392: 37–41 (1998).

Martin W, Rujan T, Richly E, Hansen A, Cornelsen S, Lins T, Leister D, Stoebe B, Hasegawa M, Penny D: Evolutionary analysis of Arabidopsis, cyanobacterial, and chloroplast genomes reveals plastid phylogeny and thousands of cyanobacterial genes in the nucleus. Proc. Natl. Acad. Sci. USA 99: 12246–12251 (2002).

Martin W, Russell MJ: On the origins of cells: A hypothesis for the evolutionary transitions from abiotic geochemistry to chemoautotrophic prokaryotes, and from prokaryotes to nucleated cells. Phil. Trans Roy. Soc. Lond. B 358: 59–85 (2003).

Timmis JN, Ayliffe MA, Huang CY, Martin W: Endosymbiotic gene transfer: Organelle genomes forge eukaryotic chromosomes. Nature Rev. Genet. 5: 123–135 (2004).

Embley TM, Martin W: Eukaryote evolution: changes and challenges. Nature 440: 623–630 (2006).

Martin W, Baross J, Kelley D, Russell MJ: Hydrothermal vents and the origin of life. Nature Rev. Microbiol. 6: 805–814 (2008).

Lane N, Martin W: The energetics of genome complexity. Nature 467: 929–934 (2010).

Lane N, Martin WF: The origin of membrane bioenergetics. Cell 151: 1406–1416 (2012).

Nelson-Sathi S, Sousa FL, Röttger M, Lozada-Chávez N, Thiergart T, Janssen A, Bryant D, Landan G, Schönheit P, Siebers B, McInerney JO, Martin WF: Origins of major archaeal clades correspond to gene acquisitions from bacteria. Nature 517: 77–80 (2015).

Ku C, Nelson-Sathi S, Roettger M, Sousa FL, Lockhart PJ, Bryant D, Hazkani-Covo E, McInerney JO, Landan GL, Martin WF: Endosymbiotic origin and differential loss of eukaryotic genes. Nature 524: 427–432 (2015).

Weiss MC, Sousa FL, Mrnjavac N, Neukirchen S, Röttger M, Nelson-Sathi S, Martin WF: The physiology and habitat of the last universal common ancestor. Nature Microbiology 1:16116 (2016).

Ekkehard Höxtermann (MLS),
im Auftrag des Präsidiums der Leibniz-Sozietät