„Lebensbilder in Briefen“ – eine Neuerscheinung
Alfred Kühn (1885 bis 1968) – Lebensbilder in Briefen, hrsg. v. Reinhard Mocek. Biologia: Leben und Forschen 4, Basilisken-Presse Rangsdorf 2020, 928 S., 41 Abb., Ladenpreis 119 €.
Der Zoologe Alfred Kühn (1885–1968) zählte mit wegweisenden Forschungen, insbes. über das Orientierungsverhalten der Tiere und über Genwirkketten bei der Entwicklung von Insekten, zu den bedeutendsten Biologen seiner Zeit und beeinflusste mit auflagenstarken Lehrwerken zur Allgemeinen Zoologie (1922–69, 17 Aufl.), Vererbungslehre (1939–65, 4 Aufl.) und Entwicklungsphysiologie (1955–65, 2 Aufl.) Generationen von Studenten der Biologie und Medizin. Trotz seiner herausragenden Stellung und weiten Bekanntheit fehlte lange Zeit eine umfassende Lebensdarstellung – ein Manko, das Reinhard Mocek (MLS) mit der ersten Biographie Kühns „Ein Forscherleben“ (Basilisken-Presse Rangsdorf 2012, 296 S.) behob. Er trug dafür unter anderem die verstreute, umfangreiche Korrespondenz Kühns zusammen und zeichnete mit dem Votum und Veto dieser Quellen die rastlose Laufbahn und bewegende Lebensphilosophie eines genialen Experimentators und integren Homo Politicus eindrucksvoll nach.
Die mehr als 2.100 (!) erfassten Briefe von und an Kühn erwiesen sich als eine weit über die Person hinausgehende, neue wissenschafts- und zeithistorische Quelle, die eine separate Edition ausgewählter Korrespondenzen nahe legte. Der nun vorliegende, umfangreiche Band umfasst rd. 700 Schreiben an und von 160 Korrespondenzpartnern und lässt uns an den Umbrüchen einer wissenschaftlich bewegten und politisch unruhigen Zeit (1907 bis 1967) teilhaben. Nach Stationen in Freiburg i. Br., Göttingen und Berlin erwarb sich Kühn besondere Verdienste um den Aufbau eines modernen „Forschungsdorfes“ in Tübingen und um die Entwicklung einer demokratischen Wissenschaftskultur in der Bundesrepublik. Eine lange Freundschaft und intensive Korrespondenz verband ihn mit den Zoologen Reinhard Dohrn, Karl Henke und Otto Koehler, den Botanikern Richard Harder, Joseph Straub und Fritz von Wettstein, den Genetikern Ernst Caspari und Hans Stubbe oder dem Biochemiker Adolf Butenandt. Auffällig ist die große Zahl jüdischer Emigranten und prominenter Fachkollegen des Auslandes, die ihn schätzten.
Es ist das erklärte Ziel des Herausgebers, durch die zusammengestellten Briefe „eine Art persönlicher Begegnung der Leser“ (Einführung, S. 13) mit Kühn und seinen Zeitgenossen aus Wissenschaft und Politik zu ermöglichen und ihre Berichte für sich sprechen zu lassen. Zum besseren Verständnis und leichteren Erschließen der Briefinhalte wurde das seitenstarke Buch freilich mit exklusiven Kurzbiographien und hilfreichen Sach- und Personenregistern ausgestattet. Die Vielfalt, Brisanz und Reichweite der verhandelten Themen, aber auch Persönlichkeit und Stil der Briefeschreiber mögen am besten einige Zitate verdeutlichen:
„In meinem Hauptarbeitsgebiet verknüpfen sich Vererbungsforschung und Entwicklungsphysiologie. … Ich habe mir die Frage gestellt: Wie bewirken die Erbanlagen, welche im Ei enthalten sind, in der Entwicklung die fertigen Merkmale? Wie hängen die einzelnen Entwicklungsvorgänge mit den einzelnen Erbanlagen zusammen? Daneben beschäftigen mich Fragen der vergleichenden Physiologie, z.B. des Farbensinns, der Farbenanpassung.“ (A. Kühn an Arthur Schnell, 17.5.1951)
„Sie sind wohl der letzte Zoologe, der noch das Gesamtgebiet beherrscht, und so hoffen wir alle, daß Sie mit dieser einzigartigen Begabung noch vieles schöpfen werden, das nur Sie können.“ (Richard Goldschmidt an A. Kühn, 15.4.1955)
„Alfred Kühn ist kein Vollendeter, sondern in seinem jugendlichen Arbeitsfeuer, seiner weisen Altersfernsicht und Blickweite, in seiner beispiellosen Produktivität, der Tiefe seiner Problematik und Sicherheit seiner Entscheidungen, in seiner Schaffensfreude und in seinen immer neuen Arbeitserfolgen unser unerreichbares Vorbild, ein unersetzlicher Mann, den wir lieben, verehren und von dem wir noch Entscheidendes erwarten. – Alfred Kühn ist unstreitig der vielseitigste der heute lebenden deutschen Zoologen, der in sehr vielen unvergänglichen Originalarbeiten die Morphologie und Physiologie von Vertretern fast aller Tierstämme von Grund auf kennen gelernt hat, überall Entscheidendes entdeckte und … wichtigste Teile des heute schon fast unübersehbaren Gesamtbereiches der Zoologie meisterhaft lehrbuchmässig zusammengefasst und darüber hinaus eine Schule gegründet hat, die an Grösse und Leistung ihresgleichen sucht.“ (Otto Koehler an Otto Hahn, 7.6.1956)
„Dass ich dies machen konnte, habe ich nur Ihnen zu verdanken. Nicht alleine, dass Sie darauf hielten, dass unsere Grundlage auf sehr breiter Basis aufgebaut war, sondern vor allem das Sehen von Problemen und die Art der Fragestellung. Eine Sache, die viel wichtiger ist als das schablonenmässige Wissen. Ich will mich nicht hervorheben, aber diese Überlegenheit habe ich hier sehr oft andern gegenüber bemerken können. Die Schule, aus der man kommt, ist eben doch mit das Ausschlaggebende, die Tradition.“ (Helmuth O. Wagner an A. Kühn, 20.4.1947)
„Von allen Lehrern unserer Universität habe ich mich keinem so verbunden gefühlt wie Ihnen, der für mich die Verkörperung dessen war und immer dessen gewesen ist, was die oberste Möglichkeit der deutschen Universität ist.“ (Carlo Schmid an A. Kühn, 28.11.1952)
„Als besonders kennzeichnend für die Art, in der Sie schreiben und die auch für uns beispielhaft geblieben ist, sehe ich das Zitat von Droysen an, das Sie an den Anfang des Buches setzen: ,Die Schärfe in der Bezeichnung der Lücken ist das Mass für die Sicherung der Forschung.‘ “ (Friedrich Seidel an A. Kühn, 21.4.1961)
„Ich empfehle übrigens – das muß ich Ihnen doch schreiben – den Grundriß nicht nur denen, die Zoologie lernen und lehren wollen, sondern auch zum Lernen der deutschen Sprache. Was ich als Herausgeber der ,Naturwissenschaften‘ zu lesen bekomme, ist manchmal haarsträubend. Stendhal sagt, er habe, um seinen Stil zu verbessern, täglich im Code Napoleon gelesen. Ich rate meinen Schülern, täglich eine Seite im Grundriß zu lesen, damit sie deutsch lernen. Es hilft.“ (Hansjochem Autrum an A. Kühn, 20.2.1967)
„Aber etwas, wozu ich Sie besonders beglückwünschen möchte, ist Ihre beispielhafte philosophische Ruhe, mit der Sie sich in die Situation des Umsiedlers oder Flüchtlings hier in Tübingen hineingefunden haben und vor allem auch in die notdürftige Unterkunft in meiner Vaterstadt Hechingen. Ein Zoologe von Weltansehen, mit seinem tiefen Einblick in die Welt der Tiere, treibt sehr eingeengt die praktische Zoologie im Ziegenstall und beschäftigt sich eigenhändig mit Heumachen, aus Liebe zum Tier, und passt sich in die einfachen ländlichen Verhältnisse von Hechingen an, als ob das selbstverständlich wäre. Das ist beispielhafte Lebensphilosophie und Anpassungsfähigkeit des Weisen an seine Umgebung, die ja in der Tierwelt auch eine Rolle spielt. Dazu darf man Sie von Herzen beglückwünschen.“ (August Mayer an A. Kühn, 25.4.1955)
„Man darf den Mut nicht verlieren. Ich selbst bin ja ein pessimistischer Optimist, immer aufs Schlimmste gefasst und handelnd, als ob das Beste möglich wäre.“ (A. Kühn an Werner Richter, 19.5.1948)
„Ich bin eigentlich der geborene Calvinist! So wird mir schwer, unentschiedene Menschen zu verstehen.“ (A. Kühn an Karl Henke, 5.7.1938)
„Ich klammere mich nicht an Situationen, habe es nie getan, z.B. bei der Aufgabe meiner Göttinger Stelle und des Instituts, an dem ich so hing, und bei dem Aufbruch aus Dahlem in eine Improvisation. Ich kann auch das Institut, das ich hier geschaffen habe, wie einen Sonderdruck einer fertigen Arbeit betrachten, den man aus der Hand gibt.“ (A. Kühn an Otto Koehler, 2.6.1956)
„Die Tübinger Fakultäten laden ihre Emeriti als voll Zugehörige zu allen Sitzungen ein. Nur haben sie kein Stimmrecht, was ich auch für ganz sinnvoll halte; denn wenn das gesprochene Wort nicht überzeugt, kommt es auf die Einzelstimme ja nicht an. … [ich] sage auch manchmal ein Wort dazu, wenn ich mir auch immer den Spruch unserer alemannischen Bauern vor Augen halte: ,s’fünft Rad quietscht immer am ärgschte‘, und deshalb manchmal schweige.“ (A. Kühn an Otto Koehler, 15.4.1961)
„60 Jahre sind ja keine biologische oder biblische Wegmarke, aber sie sind in einem glücklichen Leben wie auf einer Gebirgswanderung ein Platz, wo eine Tafel ,Schöne Aussicht‘ steht. Man schaut zurück auf einen guten Weg mit erinnernswerten Rastpunkten, und man schaut vorwärts auf weitere Wegstrecken, die locken. Es ist ein besonderes Glück, wenn in dieser Aussicht voraus Höhenzüge liegen, welche einen Anspruch auf die Kraft des Wanderers verheißen.“ (A. Kühn an Adolf Butenandt, 22.3.1963)
„Die Botanische und Zoologische Gesellschaft sollte einen Altersstop für namhafte Professoren einführen, nicht der Emeritierung, aber den Alterszahlen nach. So viel kann man gar nicht produzieren, daß es für alle Dedikationen zu 65., 70., 75., 80. … Geburtstagen langt. Zwischenbemerkung: in einem Blatt, das solche Personalien bringt, fand ich die feine Abstufung: ,Ihren 70. Geburtstag feierten …, ihren 75. Geburtstag begingen …, ihren 80. Geburtstag erlebten …‘.“ (A. Kühn an Joseph Straub, 12.3.1960)
„Aber vor einer wirklichen Persönlichkeits- oder Erlebnisschilderung schrecke ich. Es tut mir eigentlich fast leid; denn ich hätte ein so schönes, etwas mokantes Motto, – wie für das Vorwort meiner ,Vorlesungen über Entwicklungsphysiologie‘, – dafür: den Wortlaut des Originals in Elliots ,Cocktailparty‘ habe ich nicht zur Hand, aber es heißt sinngemäß: ,Erinnerungen lassen sich nicht in Kampfer legen, die Motten kommen doch hinein‘. Ich habe ordentlich Mottenlöcher im Teppich meiner Erinnerungen gefunden, als ich ihn kürzlich einmal etwas aufgerollt habe.“ (A. Kühn an Kurt Mothes, 10.3.1960)
„Wir kannten Süditalien zu dieser Jahreszeit noch nicht, und erleben diesen wundervollen Herbst mit großem Genuß. Im Garten unseres Albergo, des Überrests eines Palazzo aus der Normannenzeit, blühen Astern, Salvien, andere Blumen in Fülle. Die Berghänge sehen aus wie in Kupfer getrieben von dem braunen Laub der Kastanien. In dem terrassenartig abfallenden Anbauland leuchtet das Weinlaub gelb und rot. Dazwischen stehen die Ölbäume silbergraugrün, und an den Bergkuppen zieht oben unter dem unbewachsenen Fels ein Saum immergrüner Steineichen entlang. Vierhundert Meter hinunter sieht man auf das Meer, das meist leuchtend blau und spiegelglatt ist. Ich habe seit meiner Freiburger Zeit den Herbst nicht mehr als eine wunderschöne Jahreszeit erlebt wie hier.“ (A. Kühn an Karl Henke, 15.11.1938)
Es gibt eine historische Filmaufnahme Alfred Kühns aus dem Jahr 1961, die auf Betreiben und Kosten des Verlags digitalisiert und durch die Technische Informationsbibliothek (TIB) in Hannover dauerhaft online zugänglich gemacht wurde.
Interessenten finden den direkten Zugang unter https://av.tib.eu/media/21354.
Der Film vermittelt ein eindrucksvolles, lebendiges Bild des damals 76-jährigen Biologen in seinem Tübinger Arbeitszimmer bei Ausführungen zu einem dringlichen Anliegen: der notwendigen interdisziplinären Zusammenarbeit der Spezialisten eingedenk der rasanten Vereinzelung ihrer Fachgebiete.
Ekkehard Höxtermann