Bericht zur Sitzung des Arbeitskreises „Gesellschaftsanalyse“ am 6. Mai 2022
Am 6. Mai 2022 traf sich der Arbeitskreis „Gesellschaftsanalyse“ nach langer Zeit wieder in Präsenz. Mit einer so langen Unterbrechung, angesichts aktueller politischer Konstellationen und zudem mit einigen krankheitsbedingten Absagen, musste der Kreis der Teilnehmenden begrenzt bleiben, letztlich waren es 9 Personen. Dennoch kam es zu einer dreistündigen intensiven und interessanten Debatte.
Die Grundlage dafür bot das unlängst erschienene Buch von Frank Adler (Chorin) „Wachstumskritik, Postwachstum, Degrowth. Wegweiser aus der (kapitalistischen) Zivilisationskrise“, in welches der Autor zunächst einführte. Der Einführung schloss sich ein vorbereiteter kritischer Kommentar von Frank-Thomas Koch (BISS e.V./Berlin) an. Mit beiden Ausführungen war hinreichender Diskussionsstoff auch für diejenigen gegeben, die sich dem umfangreichen Buch (über 600 Seiten) von Adler noch nicht widmen konnten.
Nachdem der Autor in zwei Publikationen in den letzten Jahren erste Überblicke zu Konzepten und Politiken von Wachstumskritik vorgelegt hatte – die Ausarbeitungen wurden gleichfalls im Arbeitskreis diskutiert –, liefert er nunmehr einen gleichsam enzyklopädischen Überblick sowohl über die Geschichte von Wachstumskritik und alternativen Ansätzen wie über diese Ansätze selbst. Ihm geht es um Diskurse und aktive Bewegungen oder Szenen, die vor allem auch in ihrer internationalen Ausprägung (nach kultur-geografischen Räumen) umfassend dargestellt werden. Für den einigermaßen kundigen Leser geben die historischen Zäsuren und die detaillierten Beschreibungen der unterschiedlichen Konzepte viele neue Einblicke. Sympathisch und zu unterstützen ist sein Bestreben, in der gegenseitigen (nicht selten scharfen) Kritik der einzelnen Strömungen nicht die Abgrenzung stärker zu machen, sondern nach gemeinsamen Schnittmengen zu suchen. Vor allem damit sollen die Chancen zur Durchsetzung aufgezeigter Alternativen gegenüber einer scheinbar „ewigen“ Wachstums- und Beschleunigungslogik moderner (kapitalistischer) Gesellschaften erhöht werden.
Zugleich liegt in einer solchen politischen Durchsetzung nicht der Schwerpunkt des Buches, ist der Autor selbst diesbezüglich nur gebremst optimistisch. Zudem würden sich einem solchen Ziel Umfang und wohl auch die Form der Darstellung (keinerlei Grafiken, Tabellen o.ä.) sperren. Dies wurde in der Diskussion kritisch angemerkt, ist aber wohl eher unvermeidlich. Der hohe Informations- und Erklärungswert wiegt das auf. Auf Langsamkeit oder Trägheit einer Umsetzung solcher Konzepte weist Adler übrigens mit dem Cover des Buches selbst hin: Geduld ist gefragt, wie die Schnecke als Symbol der internationalen Dewgrowth-Bewegung zeigt, sie sich hier aus einem Ariadnefaden wickelt.
Ausgehend von der Einführung wie auch bereits mit dem Kommentar wurden einige Fragen intensiver diskutiert oder zumindest aufgeworfen. Das betraf z.B. die Frage nach den Trägerschichten der Postwachstumsbewegung, nach den Konflikten und den Auseinandersetzungen im „globalen Süden“. Das betraf weiter die erforderlichen Differenzierungen zwischen gesellschaftlichem und technischem Fortschritt, die nach den unterschiedlichen Zeitkonzepten (linear, zyklisch) gesellschaftlicher Entwicklung oder auch konkret die nach den Folgen des Krieges in der Ukraine für Postwachstumskonzepte. Kann man hier etwa angesichts des Zwanges staatlichen Handelns sogar eine raschere Durchsetzung erwarten? Das war eine der anregenden Fragen aus dem Kommentar. Diese fand allerdings kaum Zustimmung.
Zwar sind einige der angeführten Fragen offen und zu einem großen Teil in der Kontroverse geblieben. Das ist bei der Problematik nicht ungewöhnlich. Es wäre kaum angemessen, für eine solche umfassende Darstellung wie die vorliegenden einzelnen Auslassungen anzumerken. Aus Sicht des Arbeitskreises seien aber doch zwei solche festgehalten, mit denen sich systematische Fragen verbinden, ausdrücklich über den Arbeitskreis hinaus. Frank Adler geht in seinen Ausführungen auch auf Konzepte östlicher Dissidenten, etwa von Bahro, Harich und Havemann ein, denen er eine gewisse, eher verdeckte Wirkung zuschreibt. Ansonsten kommt der Osten nach 1989 mit Blick auf die Resonanz und auf Umsetzungschancen für Postwachstumskonzepte ausschließlich negativ bzw. als Hindernis vor. Das ist nicht falsch, so aber ist es zu einseitig und scheint es eher den verwendeten Befragungsmethoden geschuldet. Alltägliche Erfahrungen, kulturelle und soziale Praktiken, die ihre eigenständigen Anschlüsse an nachhaltige Entwicklungen besitzen, kommen nicht in den Blick. Hier zeigt sich ein wichtiges und weitgehend offenes Forschungsfeld; erste Überlegungen dazu sind im Arbeitskreis diskutiert und publiziert.
Ein zweites Forschungs- oder Diskussionsfeld ist damit verbunden, dass Frank Alder zwar immer wieder die Umsetzung von Postwachstum an eine erforderliche Gesellschaftstransformation bindet, diese selbst aber nicht weiter ausführt oder wenigstens hinlänglich diskutiert. Zugespitzt erscheint es dann so, dass seine berechtigte Kritik an der Schwäche vieler Konzepte von Gesellschaftstransformation bezüglich der Wachstumsproblematik zum Anspruch führt, mit seinem Konzept zugleich hinreichend eine solche Gesellschaftstransformation begründet zu haben. Dies wirft doch einige Skepsis auf – vielleicht ist auch das wieder nur ein blinder Fleck? So oder so zeigt sich ein weiteres offenes Feld für die Debatte.
Der Arbeitskreis wird voraussichtlich im Herbst einen Workshop durchführen, auf dem Perspektiven und Erfahrungen transformativer Forschungen zum Strukturwandel in der Lausitz diskutiert werden sollen. Die weitere Entwicklung, auch im offenen Feld der Postwachstumsdebatte, ist offen. Thematische Anregungen liegen auf dem Tisch.
Michael Thomas
Ltr. des Arbeitskreises