Bericht zum Kolloquium “DIE ENERGIEWENDE 2.0: IM FOKUS: DIE INFRASTRUKTUR”

Kerstin Becker zur Entwicklung der Wärmenetze (Foto: E.-P. Jeremias)

In der Jahrtausende währenden Entwicklung der Menschheit konnte der Mensch seit dem Beginn des Gebrauchs des Feuers bis zur Mitte des 18. Jahrhunderts im Wesentlichen nur auf die Einkommensenergien Wasserkraft, Windkraft und vor allem Holz zurückgreifen. Erst danach dominierte die Verwendung von Vermögensenergien, wie Kohle und Erdöl. Der sich dadurch ergebende Anstieg der Konzentration von Kohlenstoffdioxid in der Erdatmosphäre mit gravierenden Einflüssen auf das Klimasystem der Erde erzwingt die Rückkehr zur vorrangigen Nutzung von Einkommensenergien, wobei nun die direkte Nutzung der Solarenergie hinzukommt. Diese Rückbesinnung auf die vorrangige Nutzung von Einkommensenergien wird in Deutschland mit dem Begriff Energiewende umschrieben.

Dabei schrieb Werner Siemens bereits 1879:

“Es gehört sogar kein allzu kühner Flug der Phantasie dazu, um sich eine Zukunft auszumalen, in der die Menschheit die lebendige Kraft, welche die Sonnenstrahlen der Erde in ungemessenem Betrag zuführen, und die sich aus zum Theil im Wind- und in den Wasserfällen zur direkten Benutzung zur Verfügung stellt, mit Hülfe des elektrischen Stromes zur Herstellung alles nöthigen Brennstoffs verwendet und die für ihre Kindheit von der Natur vorsichtig aufgestapelten Kohlenlager ohne Nachteil zu entbehren lernt!” [1].

Ausgehend von der 5. Jahrestagung der Leibniz-Sozietät der Wissenschaften zu Berlin e.V. im Jahr 2012 zum Thema “Energiewende – Produktivkraftentwicklung und Gesellschaftsvertrag”, der bereits verschiedene Veranstaltungen und Diskussionen vorausgingen, wurden in den letzten Jahren verschiedene Aspekte der Energiewende systematisch betrachtet. Dafür stehen u.a.:

  • Kolloquium zu Aspekten der Energiewende in Deutschland: Erneuerbare Energieträger – Eigenschaftsprofile, Probleme und realistische Perspektiven ihrer Nutzung unter den Bedingungen Deutschlands am 11. Oktober 2012
  • Kolloquium zum Thema „Energiespeichertechnologien: Notwendigkeiten, Problemspektren, wissenschaftlich-technische Entwicklungen und Perspektiven“ am Dezember 2013
  • Kolloquium zum Thema: “Energiewende 2.0 – Die ambivalente „Wärme“ im Fokus der Wissenschaft und Wirtschaft, der Technik und Technologie” am 19. Mai 2017
  • Öffentliche Disputation zum Thema: „Die Energiewende 2.0: Essentielle wissenschaftlich-technische, soziale und politische Herausforderungen“ am 12. April 2018
  • Öffentliche Disputation zum Thema: „Die Energiewende 2.0 – Im Fokus: Die kardinale Effektivität und Effizienzam 06. Dezember 2018.
  • Kolloquium und Disputation zum Thema: “Die Energiewende 2.0: Im Fokus die Mobilität” am 07. Mai 2021

Mit dem Kolloquium zum Thema: “Die Energiewende 2.0: Im Fokus die Infrastruktur” wurde erneut eine wichtige Komponente der Energiewende beleuchtet.

Das Kolloquium wurde am 13. Mai 2022 in der Archenholdsternwarte als Präsenzveranstaltung mit ca. 20 Teilnehmern durchgeführt. Eine geplante Übertragung in das Internet konnte aus rechtlichen Gründen bedauerlicherweise nicht umgesetzt werden.

Die Begrüßung der Teilnehmer übernahm der Vizepräsident der Leibniz-Sozietät, Lutz-Günther Fleischer. In dieser wies er auf die lange und erfolgreiche Tradition der praktischen und theoretischen Auseinandersetzung mit der Energiewende in der Leibniz-Sozietät – zumeist gemeinsam mit dem Verein Brandenburgischer und Wirtschaftler – hin. Er verband das rezente Thema mit den enormen Herausforderungen an die Energetik Deutschlands und der EU infolge der russischen Aggressionen gegen die ukrainische Zivilgesellschaft.

Anschließend übernahm Wolfgang Methling die Moderation der weiteren Veranstaltung.

Den Einführungsvortrag hielt Lutz-Günther Fleischer zum Thema “Die Energiewende 2.0: Herausfordernde holistische Entwicklungen, essentielle Funktionen und sie organisierende komplexe Strukturen im kritischen Fokus.”  In diesem stellte er sechs Thesen auf, die hier zusammenfassend wiedergegeben werden:

Die erste These charakterisiert die Energiewende 2.0 als einen weitgehend unbestrittenen revolutionären, zukunftsbestimmenden, tiefgreifenden und umfassenden, bemerkenswert dynamischen, hochkomplexen Transformationsprozess unseres sozio-technischen Systems. Dieser Prozess wird von dem Ziel, die Gesellschaft von russischen fossilen Brennstoffen unabhängig zu machen stark beschleunigt. Deutschland sieht im Ausbau von Wind- und Solarenergie den wesentlichen Transformationsansatz, sowohl im energetischen als auch im stofflichen Segment.

Die zweite These entwickelt den Optimismus, dass die Gesellschaft die evolutionäre Fähigkeit der Menschen nutzen wird, das komplexe sozio-technische System bewusst im notwendigen Maße einer Energiewende 2.0 zu entwickeln, ausreichende Kommunikation voraussetzend.

Die wesentlichen Veränderungen und grundsätzlichen Neugestaltungen in allen Bereichen der Gesellschaft betreffen jeden Bürger und jede Bürgerin, wird in der dritten These festgestellt. Die bewusste Gestaltung der notwendigen technischen und sozialen Infrastrukturen für eine effektive Energiewende 2.0 mit Nutzung des Instruments der Digitalisierung sind zur Diskussion zu stellen, zu erörtern und zu bewerten.

Die technische und soziale Infrastruktur umfasst alle staatlichen und privaten Einrichtungen, Institutionen, Objekte und Projekte, die für die effektive Funktionsweise und Entwicklung der Gesellschaft notwendig sind. Eine zuverlässig funktionierende, primär gesellschaftsdienlich und bedarfsgerecht weiterentwickelte Infrastruktur gelten daher im internationalen Vergleich als wichtiger Indikator für den qualitativen Zustand sowie die wirtschaftliche Wettbewerbsfähigkeit und die gesellschaftspolitische Attraktivität der jeweiligen Gesellschaft, so der Kern der vierten These.

Die fünfte These wirbt für eine schnellstmögliche Beseitigung aller bestehenden Hindernisse für den Ausbau von Wind- und Solarenergieprojekten, nicht nur in Deutschland, sondern in ganz Europa. Das betrifft insbesondere die Planung und Genehmigung derartiger Projekte.

Die sechste These setzt sich mit den nunmehr konkreten nationalen Aktivitäten zur Umsetzung der Energiewende 2.0, die durch den notwendigen Ersatz von Energieimporten aus Russland noch verstärkt werden müssen. Der Anteil der Einkommensenergieträger am Stromverbrauch soll nun bis zum Ende dieses Jahrzehnts nahezu verdoppelt werden. Zur Orientierung: 2010 betrug er (laut Umweltbundesamt) 17,1%, 2020 45,2 % und 2021 41,1 %. Diese Forderung resultiert u.a. aus dem deutlich höheren Strombedarf für Elektroautos sowie zum Raumheizen mit dafür favorisierten Wärmepumpen. Dringend benötigt werden technisch-technologisch bedeutende Mengen grünen Wasserstoffs. Bis 2030 soll seine Leistung in Deutschland auf 10 Gigawatt gesteigert werden. Eklatant ist jedoch der Gegensatz von Ambition und Wirklichkeit hinsichtlich der Wirtschaftlichkeit, der Wettbewerbsfähigkeit und fehlender Produktionskapazitäten.

Als keynote speech sprach Frank Behrend über die zukünftige Energiebedarfs- und Deckungsstruktur Deutschlands im internationalen Verbund als Basis der komplexen gesellschaftliche Daseinsvorsorge.

Um bis zum Jahr 2045 in Deutschland Treibhausgasneutralität zu erreichen, müssen bis 2040 die Emissionen von Kohlenstoffdioxid um 88% gegenüber dem Jahr 1990 reduziert werden. Da ein Großteil dieser Emissionen energiebedingt verursacht werden, stehen die Energiesektoren im besonderen Fokus. Der Spagat der Zukunft besteht in der Transformation des Energiesystems hin zu einem klimaneutralen System, bei gleichzeitiger Erhaltung der in Deutschland üblichen hohen Versorgungssicherheit. Dafür muss der systemische Einsatz von Speichern neu gedacht, neue Energieträger, wie Wasserstoff, in dem Markt involviert und Sektoren miteinander gekoppelt werden. Damit das gelingen kann, wird nach Aussage des Referenten Deutschland, wie in der Vergangenheit, Energieimporteur bleiben. Das wird hauptsächlich Wasserstoff bzw. abgeleitete Energieträger betreffen.

 Thoralf Uebach sprach als stellvertretender Vorsitzender der Landesgruppe Berlin/Brandenburg des VKU Verband Kommunaler Unternehmen zum Thema “Energieinfrastruktur als Daseinsvorsorge – globale Probleme, lokale Lösungen”.

Am Beispiel der Stadtwerke Neuruppin, einem kommunalen Energieversorgungsunternehmen, dass in den Sparten Elektroenergieversorgung, Gasversorgung, Fernwärmeversorgung und Wasser/Abwasser öffentliche kommunale Netze betreibt, zeigte er die Herausforderungen, die auf dem Weg zur Umsetzung der Energiewende bestehen. Sehr deutlich beschrieb der Praktiker in seinem Vortrag die Hemmnisse auf dem Weg bei der Transformation vom bisher dominierenden Energieträger Erdgas in der Fernwärmeversorgung der Stadt Neuruppin zur Nutzung der Einkommensenergien Sonne, Wind, Geothermie und Biomasse.

Barbara Saerbeck führte in ihrem Vortrag “Strom, Wasserstoff und Wärmenetz der Zukunft” aus, dass die Bundesregierung die Stromerzeugung bis zum Jahr 2035 vollständig auf Erneuerbare Energien umstellen will. Damit die weitreichende Elektrifizierung, die zu einem rund doppelt so hohen Strombedarf führen wird, gelingen kann, sind erhebliche Effizienzsteigerungen notwendig. Gleichzeitig wird der Anteil dezentraler Erzeugungstechnologien in den Verteilnetzen steigen und die Sektorenkopplung verstärkt zu Wechselwirkung mit Wärme- und Wasserstoffnetzen führen. Diese zum Teil grundlegenden Veränderungen sind in der bisherigen Netzplanung nicht ausreichend berücksichtigt – eine konsistente Verzahnung im Sinne einer integrierten Systementwicklungsstrategie fehlt. Eine an langfristigen Bedarfen ausgerichtete Netzplanung in den Strom-, Gas- und Wärmenetzen ist aber unerlässlich, um den erforderlichen Aus- und Umbau kosteneffizient und rechtzeitig durchführen zu können. Darüber hinaus ist die stärkere Koordinierung von Planungen über Sektoren hinweg erforderlich, um eine insgesamt bedarfsgerechte Infrastruktur zu ermöglichen. Im Rahmen des Vortrags wird die Notwendigkeit einer integrierten Netzplanung thematisiert und die möglichen Auswirkungen auf die aktuelle Planung werden.

Kai Strunz wies in seinem Vortrag “Smart Grid als Grundlage der Energiewende: Leitansätze für Europa” darauf hin, dass neben der Fähigkeit, elektrische Leistung zu übertragen und zu verteilen, eine Kerneigenschaft eines Netzes der elektrischen Energieversorgung darin besteht, zu jedem Zeitpunkt Einspeisung und Entnahme elektrischer Leistung in Einklang zu bringen. Die Einspeisung erfolgt hierbei durch thermische Kraftwerke, erneuerbare Erzeuger und sich entladende Speicher. Auf der anderen Seite entsteht die Entnahme durch Lasten sowie Speicher, die gerade geladen werden. Auch in einem Netz mit 100 % erneuerbaren Energien muss diese Kerneigenschaft zukünftig gegeben sein. Darauf zielen auch die Forschungs- und Entwicklungsarbeiten des Fachgebiets Sustainable Electric Networks and Sources of Energy (SENSE) der TU Berlin ab. In diesem Zusammenhang wurden fünf Leitgedanken entwickelt, um den Weg zu einer klimafreundlichen Energieversorgung in Europa erfolgreich umzusetzen.

Erstens, eine europaweite Kooperation ist angesagt. In Europa gibt es eine Vielzahl einander komplementärer Potentiale erneuerbarer Energien.

Zweitens, bei der Realisierung der passenden Netze muss interdisziplinär gedacht werden um synergetische Infrastrukturen zu ermöglichen. Dazu gehören etwa Stromautobahnen in Gleichstromtechnik zur Integration in Drehstromnetze wie auch die Sektorenkopplung.

Drittens, es sind mehrskalige Modelle zu bilden, um die Zukunft der Energieversorgung basierend auf Fakten planen zu können. Zu den Skalen gehören die geographische Ausdehnung, die zu betrachtenden Zeithorizonte und die möglichen Technologiespektren.

Viertens lebt das Smart Grid von der Interaktion verschiedener Akteure, deren Möglichkeiten der Partizipation zu fördern ist. So kann die Akzeptanz des Smart Grids erhöht werden.

Fünftens, dafür sind auch Innovationen an der Grid Edge notwendig, um Flexibilität zu schaffen. Die Grid Edge versteht sich als Schnittstelle von Netz und mit diesem in Wechselwirkung stehenden Technologien. Dazu gehören etwa über Wärmepumpen klimatisierte Gebäude oder Ladestationen und Batteriewechselstationen für Elektrofahrzeuge.

In der Gesamtheit soll über diese Leitgedanken der Weg zu einer 100 % erneuerbaren Energieversorgung erreicht werden.

Kerstin Becker und Ernst-Peter Jeremias gingen in ihrem Vortrag ” Entwicklungstendenzen bei der Wärmeversorgung mit Wärmenetzen”, der von Kerstin Becker gehalten wurde, auf die geschichtliche Entwicklung der Wärmenetze innerhalb der letzten ca. 150 Jahre ein. Dabei zeigten sie auf, dass sich die Fernwärmenetze im Laufe der Entwicklung in ihrer Struktur und Technik bis heute deutlich verändert haben. Wärmenetze gewinnen im Zuge der notwendigen Maßnahmen zum Klimaschutz zunehmend an Bedeutung. Als Wärmeverteilsystem können sie effizient Einkommensenergien aufnehmen und verteilen, durch die Einbindung von Langzeitwärmespeichern aber auch speichern. Als ein wichtiges Element der Sektorenkopplung werden sie Überschussstrom aus Wind- und Photovoltaikanlagen für die Umwandlung in Wärmeenergie nutzen.

Dazu müssen die Wärmenetze aber in Verbindung mit den Wärmeabnehmeranlagen thermodynamisch angepasst und modifiziert werden. Insbesondere die Netztemperaturen müssen aus physikalischen Gründen von den bislang üblichen Vorlauftemperaturen > 100 °C und < 70 °C Rücklauftemperatur auf mindestens < 70 °C / < 50 °C reduziert werden. Das ist eine große aktuelle Herausforderung und bedarf einer komplexen ingenieurtechnischen Durchdringung. Durch Simulationsberechnungen können dafür die konkreten Maßnahmen ermittelt und begründet werden. Die Praxis zeigt aber, dass die Komplexität der ingenieurtechnischen Aufgabe zwingend durch ein Monitoring der Prozessdaten ergänzt werden muss. Sowohl für Bestands- als auch für Neubaunetze erfolgt durch die regelmäßige Auswertung der Daten eine Optimierung des Anlagenbetriebes in den Bereichen Energieerzeugung, Wärmeverteilung und insbesondere Wärmenutzung.

In seinem Vortrag “Speicher in der Energieinfrastruktur” ging Norbert Mertzsch auf die Notwendigkeit ein, beiEnergiebereitstellung aus stark fluktuierenden bzw. saisonalen Quellen zum stabilen Betrieb der Energieversorgung Speicher einzusetzen um Verbrauch und Erzeugung ausgleichen zu können.

Im Vortrag wurde auf aktuelle Speichertypen für Elektroenergie, Gase und Wärmeenergie und mögliche Entwicklungen eingegangen.

Der Referent ging auf Probleme der Festlegung einer ausreichenden Speichergröße für die Zeit nach der Nutzung von Vermögensenergieträgern und Schlussfolgerungen für Besitz und Betrieb von Speichern aus dem Blickwinkel der Daseinsvorsorge ein.

Im Schlusswort dankte der Vorsitzende des Vereins Brandenburgischer Ingenieure und Wirtschaftler e.V., Norbert Mertzsch, allen Vortragenden und Teilnehmern der Diskussion für ihre Beiträge. Es ist vorgesehen die Vorträge in einem Band der „Sitzungsberichte der Leibniz-Sozietät der Wissenschaften“ zu publizieren.

Sehr große Veränderungen werden durch die Energiewende auch auf die Stoffwirtschaft zukommen. Mit einem Kolloquium “Energiewende 2.0: Im Fokus die Stoffwirtschaft” wird der Arbeitskreis “Energie, Mensch und Zivilisation”2023 diese Problematik thematisieren.

Ernst-Peter Jeremias und Norbert Mertzsch

[1]      Witzlau, Reinhard (2016): Werner von Siemens Ideen & Ansichten. Gransee. Edition Schwarzdruck