Bericht über das Ehrenkolloquium für Karl-Friedrich Wessel

Karl-Friedrich Wessel, MLS, anlässlich des Kolloquiums zu seinen Ehren (Foto Segert)

Dieter Segert

Karl-Friedrich Wessel – der „Ganze Mensch“

Bericht über ein Ehrenkolloquium in der Humboldt-Universität

Am 21. Juni fand das Ehrenkolloquium für Karl-Friedrich Wessel (MLS) zu dessen 90. Geburtstag im Senatssaal der Humboldt-Universität statt. Es wurde von der Gesellschaft für Humanontogenetik organisiert. Die Leibniz-Sozietät der Wissenschaften zu Berlin e.V. war durch ein Grußwort von Dieter Segert, des Sekretars der Klasse für Sozial- und Geisteswissenschaften, der die Grüße der Präsidentin überbrachte, repräsentiert. Einige Mitglieder der Sozietät waren unter den Festrednern und den zahlreichen Anwesenden. Die Veranstaltung wurde durch Musikdarbietungen des Aurelia Streichquartetts aus Weimar eingeleitet und umrahmt.

Nach einer Begrüßung durch Klaus-Peter Becker überbrachte Dieter Segert die Grüße der Präsidentin und der Klasse Sozial- und Geisteswissenschaften und berichtete von persönlichen Begegnungen mit dem Jubilar. Er betonte, dass Karl-Friedrich Wessel es durch Mut und Beharrlichkeit geschafft hatte, ein 1990 vor der deutschen Einheit gegründetes Institut an der Humboldt-Universität gegen politischen Widerstand lange Jahre zu erhalten und noch heute als von ihm geleitetes Forschungsprojekt weiterzuführen. Auch die Tatsache, dass das Ehrenkolloquium im Senatssaal der Humboldt-Universität stattfinden konnte, spricht von dieser Leistung eines Wissenschaftlers, der sich selbst als Humboldtianer sieht, seit 1957 der Universität in Studium und Arbeit verbunden.

Der emeritierte Sportpädagoge Albrecht Hummel hielt eine kenntnisreiche Laudation, in der er den wissenschaftlichen Werdegang und persönliche Qualitäten Wessels lebendig darstellte und dessen Anstöße auch für die Sportwissenschaft unterstrich. Er wählte jeweils eine Publikation des „frühen, mittleren und späten Wessel“ aus und würdigte die von ihr ausgehenden Anregungen. Und er machte deutlich, welche große Hilfe die Familie des Jubilars, v.a. seine Frau Anne, für Arbeit und Leben leistet.

Der vollbesetzte Senatssaal der HU zu Ehren des Jubilars (Foto Segert)

Es folgten drei Beiträge, in denen jeweils die Anstöße benannt wurden, die Wessel durch die interdisziplinäre Forschung zum Thema der biopsychosozialen Einheit Mensch, aus der später die Humanontogenetik hervorging, gegeben hat. Heinz-Elmar Tenorth, emeritierter Professor der Humboldt-Universität für Historische Erziehungswissenschaft, Mitglied der Leopoldina sowie der Österreichischen Akademie der Wissenschaften, hob die innovative Leistung dieser interdisziplinären Forschung und ihren Einfluss auf die Pädagogik hervor. Der Direktor des Instituts für Sexualwissenschaft und Sexualmedizin an der Charité, Prof. Klaus Michael Beier, widmete seinen Vortrag der sozialen und medizinischen Bedeutung von Zweisamkeit, gewissermaßen als Ergänzung zur These von der Bedeutung des Selbstbewusstseins des Menschen in der Humanontogenetik. Er erinnerte auch an den Beitrag des Verhaltensforschers Günter Tembrock, eines Weggefährten und Anregers von Karl-Friedrich Wessel. Schließlich sprach Prof. John Erpenbeck (MLS) über das sich selbst bewertende Selbst.

Nach einer Pause traten dann Schüler von Wessel mit persönlichen Beiträgen auf. Ein wichtiger Punkt ihrer kurzen Reflexionen waren Erfahrungen in der praktischen Anwendungen der Thesen der Humanontogenetik, v.a. auf Grundlage des Alterswerks von Wessel „Der ganze Mensch“ von 2015 (2021 in zweiter Auflage erschienen). Es berichtete ein Praktiker aus der Wirtschaft, ein Sozialarbeiter, der mit obdachlosen Suchtkranken arbeitet, eine Direktorin für das Pflegepersonal eines Krankenhauses, die bei Olaf Scupin (MLS), einem der Organisatoren der Tagung und Student bei Wessel, heute Prof. der Ernst-Abbe-Hochschule Jena für Pflegemanagement, der ebenfalls mit persönlichen Erinnerungen an die Zusammenarbeit mit dem Geehrten auftrat. Er hob die Ermutigung hervor, die Wessel ihm beim Schreiben seiner Dissertation angedeihen ließ, ihm half, seien eigenen Weg in die Forschung zu finden. Genau das, die Empathie, die Wessel den von ihm Betreuten angedeihen ließ, wurde noch mehrfach betont. Klaus-Detlef Hass, einer der Initiatoren des Eiszeitkomitees und satirischer Kommentator von Politik seit den 1990er Jahren, vervollständigte den Reigen der ehemaligen Studenten Wessels.

Zum Schluss bedankte sich der Jubilar und ergänzte aus seiner Sicht das Gesagte. Es wurde dabei – ebenso wie auf dem Ehrenkolloquium für Horst Klinkmann am Vortag – deutlich, dass diese Generation, die zur zweiten DDR-Generation, die auch als „Aufbaugeneration“ bezeichnet wird, gehört, eine noch zu erledigende Aufgabe uns Jüngeren gerne übertragen würde: Die Defizite und Fehler, die den Umgang mit den akademischen Institutionen der DDR und ihrem Personal in der Anfangsphase der deutschen Einheit 1990-1992 belastet haben, wirken noch heute nach. Sie bedürften einer gründlichen politischen Aufarbeitung. Dabei geht es nicht nur um die Ehrung jener wichtigen Persönlichkeiten, sondern auch darum, ein Bewusstsein zu schaffen, welche Möglichkeiten einer innovativen Entwicklung der Wissenschaften in Deutschland damals liegen gelassen wurden. Und darum, auf diesem Weg in Zukunft eine Blindheit für Andersartiges, welche aus dem Hochmut erwächst, alles besser zu wissen, und welcher so den Blick auf andersartige Wege und Antriebe des Handelns verbaut, zu überwinden.