Wissenschaftliches Kolloquium aus Anlass des 85. Geburtstages von Herbert Hörz, Ehrenpräsident der Leibniz-Sozietät der Wissenschaften – Bericht

Herbert Hörz (links) neben seiner Frau Helga Hörz, John Erpenbeck und Heike Hörz, der Tochter von Herbert und Helga Hörz
Gerhard Banse, Präsident der Leibniz Sozietät

Am 29. November 2018 fand aus Anlass des 85. Geburtstages des Ehrenpräsidenten der Leibniz-Sozietät, Herrn Herbert Hörz, das Kolloquium „Philosophie und Naturwissenschaften“ statt. Im Plenarsaal des Rathauses Berlin-Tiergarten begrüßte der Präsident der Leibniz-Sozietät, Herr Gerhard Banse, über 60 Mitglieder und Freunde der Sozietät sowie Weggefährten und Familienmitglieder des zu Ehrenden. In seiner Laudatio würdigte der Präsident das wissenschaftliche Wirken von Herbert Hörz, zunächst an der Humboldt-Universität zu Berlin, dann an der Akademie der Wissenschaften der DDR und schließlich in der Leibniz-Sozietät der Wissenschaften, deren Gründung auf eine Initiative von Herbert Hörz zurückgeht. Er betonte, dass der Jubilar stets mit interessanten neuen Fragestellungen die wissenschaftliche Debatte innerhalb wie außerhalb seiner unmittelbaren Wirkungsstätten angeregt und beeinflusst hat. Seine Problembestimmungen und -lösungen basierten dabei auf dem von ihm entwickelten konzeptionellen Verständnis der Funktionen der Philosophie für die Einzelwissenschaften und umgekehrt der Einzelwissenschaften für die Philosophie sowie deren Präzisierung, Konkretisierung und Weiterentwicklung.

Davon gingen die nachfolgenden vier Vortragenden dann auch in je spezifischer Weise aus oder knüpften daran an. Bei der Auswahl der Referentinnen und Referenten ging es nicht nur um inhaltliche, sondern auch um persönliche Beziehungen zum Jubilar. Bei den Inhalten ist das offensichtlich: „Heuristik“, „Verantwortung“, „Dialektik“ und „Zufall“ sind zentrale Topoi des wissenschaftlichen Wirkens von Herbert Hörz. Das Persönliche wurde aber auch offensichtlich:

  • Der Astronomie-Historiker und Altpräsident der Leibniz-Sozietät Dieter B. Herrmann war ab 2006 Nachfolger von Herbert Hörz als Präsident der Leibniz-Sozietät,
  • die Physikerin und Philosophin Nina Hager war ab 1973 wissenschaftliche Mitarbeiterin im von Herbert Hörz geleiteten Bereich „Philosophische Fragen der Wissenschaftsentwicklung“,
  • der Mathematiker Rainer Schimming ist ein langjähriger Diskussionspartner von und zweimaliger Ko-Autor mit Herbert Hörz und
  • der Chemiker Lothar Kolditz war von 2000 bis 2008 Vizepräsident der Leibniz-Sozietät und somit sechs Jahre lang (von 2000 bis 2006) Stellvertreter von Herbert Hörz.
Dieter B. Hermann

Den ersten Vortrag hielt Dieter B. Herrmann zu „Heuristik im Meinungsstreit“. Sein Ausgangspunkt war die Aussage von Albert Einstein, dass es keinen logischen Weg von den Wahrnehmungen zur Theorie gibt. Damit verweise er auf die bedeutende Rolle heuristischer Prinzipien im wissenschaftlichen Forschungsprozess. Als solche fungierten seit langem u.a. „Einfachheit“, „Harmonie“ und „Symmetrie“. Neuerdings fordere die Physikerin Sabine Hossenfelder in ihrem Buch „Das hässliche Universum“ eine Abkehr von den ihrer Ansicht nach subjektiven Leitprinzipien, denn diese hätten die Physik in eine Sackgasse geführt. Herrmann untersuchte, inwieweit diese Vorwürfe aus seiner Sicht berechtigt sind und inwieweit der Meinungsstreit um dieses Problem dazu beiträgt, die erkenntnistheoretischen Hintergründe von Wissenschaft neu in den Fokus zu rücken.

Nina Hager hatte den Vortrag „Verantwortung aus Wissen – Wissenschaft und Weltraumrüstung“ vorbereitet. Da sie erkrankt war, wurde der Beitrag verlesen. Sie stellte folgende Aussage von Herbert Hörz aus dem Jahr 1988 an den Anfang ihrer Überlegungen: „Verantwortung ist die Forderung an den Menschen, Konsequenzen seiner möglichen Entscheidungen zu überschauen, nützliche humane Folgen zu fördern und schädliche antihumane Folgen zu verhindern, Ergebnisse des Handelns auszuwerten und Konsequenzen daraus zu ziehen“. Verantwortung wahrnehmen bedeute also auch – so Hager –, Humanität zu verteidigen. Sie erörterte zunächst die nach dem verheerenden Zweiten Weltkrieg unter den weltweit anerkannten Wissenschaftlern im Allgemeinen und den in der Weltraumforschung Tätigen im Besonderen geführten Diskussionen über die Wertfreiheit von wissenschaftlichen Erkenntnissen und über die Bemühungen zur Verhinderung der militärischen Nutzung des Weltraums. Sodann verwies sie darauf, dass sich in den achtziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts die Debatte um die Verantwortung des Wissenschaftlers zugespitzt habe. Konkreter Anlass waren in jener Zeit vor allem die Pläne der US-Administration zur Militarisierung des Weltraums und die daraus entstehenden Bedrohungen. Auch wenn SDI damals nicht verwirklicht werden konnte, eine Reihe von Arbeiten wurden fortgesetzt. Weitere Länder rüsteten inzwischen in diesem Bereich auf. Heute drohen – nicht nur mit den Planungen von US-Präsident Donald Trump für „Space Forces“ und durch entsprechende Reaktionen – weitere Schritte zur Militarisierung des Weltraums. Internationale Regelungen wie der Weltraumvertrag reichten nicht bzw. würden missachtet bzw. ausgehebelt. Erinnert werden müsse auch deshalb heute dringend an frühere Argumente und Positionen von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern in den vergangenen Jahrzehnten, denn es sei festzustellen, dass – anders als in den 1980er und teilweise noch 1990er Jahren – der Protest gegen die Weltraumrüstung kaum noch hörbar ist. Die aktuelle Situation sollte aber nicht als „normal“ betrachtet oder hingenommen werden: Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler müssten ihre Verantwortung wahrnehmen, auch hier weiter auf mögliche Gefahren aufmerksam machen, aufklären bzw. Konsequenzen für eigenes Handeln ziehen.

Rainer Schimming

Daran schloss sich Rainer Schimmings Vortrag an, der Antworten auf die Frage „Wozu Dialektik?“ gab. Einer materialistischen Weltanschauung werde – so Schimming – zuweilen unterstellt, dass sie das „Bunte“ und „Bewegte“, d.h. die Komplexität und die Dynamik der Welt nicht erfassen könne. Dagegen stellte er die These: Materialistische Dialektik leistet dieses! Zusammen mit Herbert Hörz vertrete er folgende (modifizierte) Definition: „Materialistische Dialektik ist eine philosophische System-, Determinismus- und Entwicklungstheorie.“ System sei dann ein universaler und dabei einfacher Begriff für ein Ganzes.

Lothar Kolditz

„Leukipp und der Zufall“ war das Vortragsthema von Lothar Kolditz. Der von dem Vorsokratiker Leukipp stammende Lehrsatz „Nichts geschieht zufällig, sondern alles aus einem Grund und mit Notwendigkeit“ bedarf nach Kolditz der Diskussion, und die nahm er mit einer naturwissenschaftlichen Analyse aus heutiger Sicht vor. Zunächst jedoch verwies er darauf, dass die Literatur über den Zufall von der Antike bis in die Neuzeit sehr reichhaltig sei. In der Antike etwa hätten Demokrit als Schüler von Leukipp, später Aristoteles und Epikur darüber geschrieben. In der Neuzeit hätte u.a. der Jubilar Herbert Hörz das Buch „Zufall. Eine philosophische Untersuchung“ verfasst und in einem Plenarvortrag in der Leibniz-Sozietät die Grundzüge einer dialektischen Theorie des Zufalls behandelt. Die umfangreiche Literatur über den Zufall hänge wohl eng mit der allgemeinen Betroffenheit von der Erscheinung des Zufalls zusammen. Ein zufälliges Ereignis könne nicht mit Sicherheit vorausgesagt werden, nur eine Wahrscheinlichkeit für sein Eintreten kann angegeben werden. Bei dieser Analyse solle nur eine Voraussetzung gelten, nämlich die, dass im Bereich des betrachteten Zufalls die einschlägigen Naturgesetze uneingeschränkt gelten. Die Erscheinung des Zufalls wurde an drei Beispielen untersucht, den Ergebnissen des Würfelns, der Überschneidung von Ereignisketten zweier Autofahrer, die sich begegnen, und am Beispiel der Radioaktivität. Es stelle sich heraus, dass alle Vorgänge als deterministisches Chaos charakterisiert werden können. Der Ablauf der Einzelabschnitte sei durch die geltenden Zwischenbedingungen determiniert, aber diese Zwischenbedingungen sind nicht durch die Anfangsbedingungen kontrollierbar. So betrachtet, sollte – nach Kolditz – der Lehrsatz von Leukipp aus heutiger Sicht durch die Wörter „absolut“ und „bedingt“ erweitert werden: „Nichts geschieht absolut zufällig, sondern alles aus bedingten Gründen und mit Notwendigkeit.“

Herbert Hörz

Abschließend nahm der mit diesem Kolloquium Geehrte das Wort. Er dankte dem Präsidenten der Leibniz-Sozietät Gerhard Banse für die Laudatio und allen, die mit der inhaltlichen und organisatorischen Vorbereitung und Durchführung des Kolloquiums befasst waren. Die Vortragenden hätten wesentliche Probleme seines Wirkens aufgegriffen und viel Stoff zum Nach- und Weiterdenken geboten. Es sei für ihn wichtig, Außenansichten zu seinen Innenansichten zur Kenntnis zu nehmen, da sie zwingen, Problemstellung und -lösung, Argumentation und Wirkung kritisch zu überprüfen. Das gehöre zur kritisch-konstruktiven Zusammenarbeit, die in der Leibniz-Sozietät gepflegt werde. In den Mittelpunkt stellte er das aktuelle Verhältnis von Naturerkenntnis und Gesellschaftsgestaltung, das im Titel seines gerade erschienenen Buches „Ökologie, Klimawandel und Nachhaltigkeit. Herausforderungen im Überlebenskampf der Menschheit“ zum Ausdruck komme. Kritisch setzte er sich mit aktuellen Tendenzen der Unterschätzung der Naturdialektik für die humane Gestaltung der Zukunft in aktuellen marxistischen Publikationen auseinander. Er verwies darauf, dass im philosophischen Prozess der Verallgemeinerung es zu falsifizierbaren Aussagen kommen kann, die wissenschaftlichen Erkenntnissen widersprechen. Da es sich um präzisierte philosophische Aussagen handelt, die dem konkret-historischen Wissensstand geschuldet sind, könne die entsprechende Philosophie sich auf die allgemeinen Grundsätze zurückziehen und sie neu präzisieren. Insofern seien die weltanschaulichen Grundaussagen gewissermaßen gesetzte Axiome mit gesellschaftlichen Werten und Verhaltensnormen. Mit zeitgenössischem Wissen würden sie präzisiert und mit neuen Erkenntnissen korrigiert. Er dankte am Schluss noch einmal herzlich dem Präsidium, den Organisatoren, den Vortragenden und allen Teilnehmerinnen und Teilnehmern an dem Kolloquium.

Ein sich anschließender Empfang gab die Möglichkeit, nicht nur Glückwünsche zu überbringen, sondern vielmehr in einen intensiven Gedankenaustausch über das Gehörte zu treten.

Es ist vorgesehen, die Vorträge zeitnah in einem Band der „Sitzungsberichte der Leibniz-Sozietät der Wissenschaften“ zu publizieren.

Gerhard Banse, Heinz-Jürgen Rothe

Fotos: D. Linke