Sitzung des Arbeitskreises „Prinzip Einfachheit“ am 20. November 2014; Bericht
Eine Sitzung des Arbeitskreises „Prinzip Einfachheit“ fand am am 20. November 2014 statt mit dem Vortrag von
Prof. Dr. Charles Coutelle (MLS):
Die verführerische Illusion „einfacher“ Konzepte
– Kritische Betrachtungen zum Prinzip Einfachheit an Hand von Beispielen aus Molekularbiologie und Medizin –
Im Rahmen einer wissenschaftlichen Mitteilung stellte Prof. Dr. Lutz-Günther Fleischer (MLS) zu Beginn der Sitzung thesenhaft einige Leitgedanken zu einem von ihm vorgeschlagenen Systematisierungsansatz zu exponierten Charakteristika und Beziehungen vor, die für die Interpretation und Realisierung des Prinzips Einfachheit wesentlich sind. Diese Ausarbeitung enthält definitionsnahe Charakterisierungen der Systemeigenschaften „elementar“, „einfach“, „komplex“ und „kompliziert“ (als Synonym für unbegrenzt komplex) und detaillierte Überlegungen zu faktischen und logischen Relationen zwischen ihnen sowie einige ontische und kognitive Beispiele. Der Systematisierungsansatz liefert Ansatzpunkte für die weitere Diskussion im Arbeitskreis.
Anfragen zur skizzierten PPP bitte über fleischer-privat@gmx.de direkt an den Autor.
Prof. Dr. Herbert Hörz (MLS) von der Leitung des Arbeitskreises moderierte die Diskussion zum Vortrag von Charles Coutelle.
Prof. Dr. Charles Coutelle (MLS) beschreibt die Thematik seines Vortrages in der Kurzfassung wie folgt: „Einleitend erläutert der Autor sein Begriffsverständnis von „einfach“ und „Einfachheit“ als subjektive, kognitive Beschreibungen der objektiven Realität, und er schließt daraus, dass Einfachheit kein objektives „universelles Prinzip in Natur und Gesellschaft“ sein kann. „Vereinfachung“ ist eine notwendige Methode des Menschen, sich die objektive Realität zu erschließen und Wirkprinzipien zu erkennen. Durch Vereinfachung reduzieren wir die Ganzheit der objektiven Realität auf den Teil, den wir für den untersuchten Gegenstand oder Vorgang, entsprechend unserem subjektiven Vermögen, als das Wesentliche zu erkennen meinen. Wir vernachlässigen dabei bewusst die objektiven komplexen Zusammenhänge in neben-, über- und untergeordneten Ebenen. Diese Reduktion setzt der Gültigkeit des erkannten Wirkprinzips entsprechende Grenzen: Es ist nur in diesen Grenzen gültig und „einfach“. Die Missdeutung einer durch Vereinfachung gewonnenen und durch sie begrenzten Erkenntnis als objektiv existierende Einfachheit der Natur (Illusion) kann zu erheblichen Fehlern sowohl hinsichtlich des daraus abgeleiteten Wirkprinzips als auch seiner Nutzung als Gestaltungsprinzip (Konzept) führen. Diese Thesen werden nachfolgend an Hand der Entwicklung unserer Erkenntnisse über die Genexpression in Bakterien und Eukaryonten sowie an den Wegen und Irrwegen der Gentherapie beispielhaft vertieft.“
Herr Coutelle gab den Zuhörern in seinem Vortrag einen sehr guten Einblick in das umfassende Forschungsgebiet und machte an Beispielen sowohl die Bedeutsamkeit als auch Gefahren von Vereinfachungen im Erkenntnis- und Gestaltungsprozess deutlich. Dabei verwies er auch auf die oft schwierigen und langen Wege zur Einfachheit, z.B. auf den „mühsamen Weg zum einfachen Operon-Modell“ oder auf den „schweren Weg, den das einfache Konzept ´Gentherapie` noch zu gehen hat“. Wie bereits aus dem obigen Abstract zu ersehen ist, stellte der Vortragende Einfachheit als objektives Wirkprinzip infrage.
Für die anschließende Diskussion lieferte der informative Vortrag über das insbesondere auch praktisch bedeutsame Forschungsgebiet eine Reihe von Anregungen.
Es wurde, wie auch bereits bei vorangegangenen Vorträgen, deutlich gemacht, dass Vereinfachungsprinzipien im Erkenntnis- und Gestaltungsprozess über die Disziplingrenzen hinaus immer wieder aufgezeigt werden. Analog zu im Vortrag dargestellten Problemen in der Entwicklung der Gentherapie (z.B. als Folge voreilig geschlossener Universalität) spielen dabei jedoch neben wissenschaftlich berechtigten Vereinfachungen insbesondere auch wissenschaftlich nicht berechtigte Vereinfachungen eine Rolle.
Das Infragestellen des Prinzips Einfachheit als objektives Wirkprinzip im Vortrag löste eine kontroverse Diskussion aus. Für Einfachheit als objektives Wirkprinzip wurden in der Diskussion Argumente mit Bezug zu anderen Disziplinen geliefert. Dabei ist insbesondere auf Beispiele aus der Physik verwiesen worden, z.B. E=m*c2, Fermatsches Prinzip.
Als eine notwendige Voraussetzung für präzise Antworten auf die Frage nach Wirksamkeit und Grenzen des Prinzips Einfachheit wurden exakte Definitionen von Einfachheit gefordert – in Verbindung mit Anforderungs- und Situationsparametern, spezifischen Restriktionen usw. Dabei sollte auch ein besonderes Augenmerk auf Prinzipien gelegt werden, die zu Vereinfachungen führen.
Zusammenfassend wurde durch Herbert Hörz hervorgehoben, dass das Ziel des Arbeitskreises weiterhin darin besteht, danach zu forschen, ob komplexe Systeme einfache Strukturen aufweisen, die das Wesen des Systems ausdrücken. Dabei geht es darum, auf der Grundlage von Gesetzmäßigkeiten das Wesen solcher Systeme zu erkennen und zu beschreiben. Ausgehend von den drei Kategorien „Einfachheit als Wirkprinzip“, „Einfachheit als Erkenntnisprinzip“, „Einfachheit als Gestaltungsprinzip“ ist zu fragen, ob das Prinzip Einfachheit wirksam ist, und wenn ja, unter welchen Bedingungen und in welchen Disziplinen.
Die Diskussion machte deutlich, wie notwendig eine exakte Definition von Kriterien für Einfachheit ist, einschließlich ihrer Maße und Restriktionen. Dafür könnte der von Lutz-Günther Fleischer entwickelte Systematisierungsansatz eine interessante Grundlage sein.
Die Diskussion unterstrich zugleich das Bedürfnis, sich mit der Existenz und Wirksamkeit des Prinzips Einfachheit in den verschiedensten Disziplinen auseinandersetzen zu wollen.
Der zehnte Vortrag im Arbeitskreis findet am Donnerstag, dem 26. März 2015 statt. Es spricht Prof. Dr. Dieter B. Herrmann (MLS) zum Thema „Sind die Standardmodelle der Kosmologie und Elementarteilchenphysik falsch, weil sie nicht einfach genug sind?“.
Erdmute Sommerfeld