Plenarsitzung am 10. 10. 2013: Wissenschaftliche Mitteilung
Auf der Plenarsitzung vom 10.10.2013 erfolgte zusätzlich zum offiziellen Programm eine kurze wissenschaftliche Mitteilung unseres Mitgliedes Martin Hundt. Sie hatte den folgenden Wortlaut:
Der Bitte des Präsididenten unserer Sozietät folgend, in gebotener Kürze über eine Podiumsdiskussion an der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften zu informieren, die am 3. September dieses Jahres anlässlich der Aufnahme des Kommunistischen Manifests und des ersten Bandes des Kapitals von Karl Marx in das Weltdokumentenerbe der UNESCO stattfand, komme ich gern nach. (Sie sind aber nicht allein auf meinen Bericht angewiesen, da alle Beiträge der Veranstaltung auf der home page der BBAW nachgelesen werden können).
Zunächst ist festzuhalten, dass diese öffentliche Veranstaltung ein überwältigendes Echo fand. Der große Saal war übervoll, und noch vor Beginn musste der Präsident der BBAW die Türen des Einstein-Saals schließen lassen, weil die statische Belastungsgrenze der Decke erreicht war.
Am Beginn berichtete der Vorsitzende des deutschen Nominierungskomitees für das UNESCO-Programm „Memory of the world“, Prof. Joachim-Felix Leonhard, über die in Südkorea stattgefundene Sitzung des Komitees. Er konnte mitteilen, daß es keinerlei Ablehnung des deutschen Vorschlags gab, dass er problemlos wie kein andrer durch das Verfahren lief, dass völliger internationaler Konsens über die Bedeutung der vorgeschlagenen Werke herrschte und die Aufnahme einstimmig erfolgte.
In der von Dr. Gerald Hubmann, Leiter der MEGA-Arbeitsstelle bei der BBAW, geleiteten Debatte traten mit kurzen statements auf: Frau Prof. Beatrix Bouvier, langjährige Leiterin des Karl-Marx-Hauses Trier, Birger Bridatt, Prof. für Politische Ökonomie an der Universität Witten/Herdecke, Harald Bluhm, Prof. für Politikwissenschaft in Halle, sowie Marcel van der Linden, Forschungsdirektor am – der niederländischen Akademie der Wissenschaften angeschlossen – Internationalen Institut für Sozialgeschichte in Amsterdam (wo bekanntlich ein großer Teil der Originalmanuskripte von Marx und Engels aufbewahrt wird). Sie alle sind oder waren bereits auf diese oder jene Weise mit der Herausgabe der historisch-kritischen Marx-Engels-Werkausgabe, der MEGA, befasst.
Prof. Pridatt bezeichnete Marx als den größten deutschen Ökonomen, Prof. Quandt schilderte anschaulich, wie er seine Studenten anhand Marxscher Texte zum wissenschaftlichen Denken anregt, Prof. Bluhm, derzeit MEGA-Projektleiter, erklärte, Marx habe mit seiner Kapitalismus-Kritik auch die tendenzielle Demokratiefeindlichkeit des Kapitalismus erkannt.
Als ein älterer Herr im Saal erklärte, der Satz des Manifests über den Klassenkampf sei doch längst überholt und der Marx-Schüler Lenin der Initiator schrecklicher Verbrechen gewesen, antwortete van der Linden, der „Marxismus-Leninismus“ sei eine Erfindung Stalins und habe nichts mit dem Forschungsansatz von Marx zu tun.
Als eindeutiges Fazit der Veranstaltung kann festgehalten werden, dass sich alle Referenten zur wissenschaftlichen und aktuellen Bedeutung des Marxschen Werkes bekannten. Das ist um so hervorhebenswerter, wenn man sich in Erinnerung ruft, welch Häme und Ablehnung vor zwei Jahrzehnten denen entgegenschlug, die sich weiterhin mit Marx und Engels und der Edition ihrer Werke befassen wollten, in jener sog. Wendezeit, als ein Minister der Bundesregierung mit dem Satz hausieren ging „Marx ist tot.“
Allerdings ist hierzu auch zu bemerken, dass die in Deutschland zur Zeit zu konstatierende Aufgeschlossenheit für das Werk von Marx in Engels von der andrer Länder, vor allem Brasilien und Indien, weit übertroffen wird. In einem sehr distanzierten Bericht über die hier zur Rede stehende Veranstaltung in der Süddeutschen Zeitung hieß es: „… so frei, wie die Wissenschaft sein müsste, um tatsächlich wissenschaftlich mit Karl Marx umzugehen, ist sie offenbar bis auf Weiteres nicht.“
An dieser Stelle sei daran erinnert, dass die Akademie der Wissenschaften der DDR sich von Beginn, d.h. von 1975 an für die MEGA engagierte. Bei der Edition der Marxschen Frühschriften war uns Hansulrich Labuske mit seinen großen Kenntnissen der Antike unersetzlich. Band I/29, der Engels’ Werk Der Ursprung der Familie, des Privateigentums und des Staats enthält, wurde unter Leitung von Akademiemitglied Joachim Herrmann erarbeitet. Von existenzieller Bedeutung aber war im Frühjahr 1990 die Bildung einer MEGA-Kommission der Akademie unter Leitung von Akademiemitglied Walter Schmidt, die in den folgenden Monaten eine unerlässliche Rolle bei der Gründung der IMES in Amsterdam als neuem Herausgeber der MEGA spielte.
Unsere Sozietät hat sich stets für die Weiterführung der MEGA interessiert. Ich durfte zweimal, im November 1994 und im Dezember 2010, vor der Klasse für Sozial- und Geisteswissenschaften ausführlich über den Stand der Edition berichten (letzterer Vortrag kann in Bd. 110 der Sitzungsberichte nachgelesen werden). Ergänzend zum dort vorgetragenen Stand der Edition kann mitgeteilt werden, dass inzwischen zwei weitere Bände – III/12 mit Briefwechsel aus den 1860er Jahren sowie vor allem Bd. IV/26 mit Marx’ geologischen Exzerpten von 1878 (seiner letzten größeren Arbeit) erschienen sind. Es war vereinbart, dass die Leiterin dieses Bandes, Frau Prof. Anneliese Griese, vor unsrer Sozietät über die wissenschaftliche und wissenschaftshistorische Bedeutung dieser Exzerpte spricht, doch verhinderte eine Erkrankung bisher leider dieses Vorhaben.
Es interessiert vielleicht, dass im nächsten Jahr ein weiterer Briefband, und zwar aus den späteren Jahren von Friedrich Engels erscheint, und 2014 ein Band mit einem Teil der berühmten Londoner Exzerpte von Marx aus dem Jahr 1850 sowie endlich der Band mit der Deutschen Ideologie.
Von geplanten 114 Bänden der MEGA liegen zur Zeit 59 vor d.h. etwa 57%. Abt. II mit den ökonomischen Werken ist abgeschlossen, von der I. Abt., den Werken und Entwürfen, fehlen noch 11 Bände, von den Briefen 22, von den Exzerpten 21 Bände.
Die Aufnahme der eingangs genannten Werke in das Kulturerbe der Menschheit – als Beispiele für das Gesamtwerk von Marx und Engels – wird von Insidern als starkes Argument bei künftigen Anträgen an den Wissenschaftsrat verstanden. Denn es gibt keinen belastbaren Beschluss über die Zuendeführung der Edition, sondern nur etappenweise Zustimmungen zur Weiterarbeit.
(Martin Hundt)