Nekrolog für unser Mitglied Valery Vassiljevič Lunin

Professor Dr. Valery Vassiljevič Lunin;        Foto: ru.wikipedia.org/Sergej Soboljew

Die Leibniz-Sozietät der Wissenschaften zu Berlin e. V. trauert um ihr Mitglied, den Physikochemiker Prof. Dr. Valery Vassiljevič Lunin

Am 09.03.2020 ist der Physikochemiker Professor Dr. Valery Vassiljevič Lunin, Mitglied der Leibniz-Sozietät, im Alter von 80 Jahren verstorben

Wer die Chemie nicht kennt, versteht das Leben nicht.
Valery V. Lunin

Valery V. Lunin wurde am 31. Januar 1940 in der Ortschaft Bogdanowka des Urickij-Rayons im Orlowsker Gebiet geboren. Die Kindheit verbrachte er auf dem Lande, im Dorf Krasnij Rog des Gebietes Brjansk. Im Jahre 1957 begann er ein Chemie-Studium an der Lomonossov-Universität Moskau (MGU), das er nach Verzögerungen – verursacht durch Erkrankung als Folge eines Unfalls und sich anschließenden Dienst in der Sowjetarmee (1960-1963) – im Jahre 1967 als Diplomchemiker abschloss. Zu seinen akademischen Lehrern gehörten weltbekannte Wissenschaftler wie A.N. Nesmejanow, P.A. Rehbinder, V.I. Spitzyn, A.A. Balandin, N.I. Kobozjew und A.V. Kiseljew. Nach dem Abschluss seines Studiums verblieb Valery V. Lunin als Diplomchemiker an der Chemischen Fakultät der MGU. Er promovierte im Jahre 1972 bei Alexander E. Agronomow am Lehrstuhl für Organische Katalyse zum Kandidaten der Chemischen Wissenschaften, ein wissenschaftlicher Grad, der dem deutschen Dr. rer. nat. entspricht. Die Promotionsschrift trägt den Titel „Untersuchung der katalytischen Aktivität von Metallen der IV. und VI. Nebengruppen des Periodischen Systems der Elemente mit Wasserstoff in ihren Kristallgittern in Reaktionen der Hydrierung-Dehydrierung und Isomerisierung von Kohlenwasserstoffen“. Aufgrund seiner Forschungen auf dem Gebiet „Struktur und Eigenschaften von Katalysatoren basierend auf Hydriden von Intermetalliden“ erlangte Valery V. Lunin im Jahre 1982 den Grad eines Doktors der Wissenschaften. Die Leitung des Laboratoriums für Katalyse und Elektrochemie von Gasen wurde ihm 1987 übertragen.

Der weitere Werdegang von Valery V. Lunin als Wissenschaftler und Wissenschaftsorganisator erscheint geradlinig. Doch er war in hohem Maße von den grundsätzlichen Wandlungen, Schwierigkeiten und Mühen in einer sich nach der Auflösung der Sowjetunion schnell verändernden Gesellschaft geprägt. Speziell Wissenschaft und Erziehung einer neuen Generation von Fachleuten erfuhren damals über Jahre hinweg wenig Förderung. Zahllose hochqualifizierte Spezialisten verließen das Land. Nach seinen Berufungen zum Professor am Lehrstuhl für Petrolchemie und Organische Katalyse (1986) sowie am Lehrstuhl für Physikalische Chemie (1987) – nur wenige Jahre später im Jahre 1992 auch zum Dekan der Chemischen Fakultät – begann eine Zeit immens gestiegener Verantwortung. Als Dekan und Lehrstuhlinhaber für Physikalische Chemie (seit 1993) gelang es Valery V. Lunin, Lehre, Forschung und Entwicklung der Fakultät im Sinne ihrer großen Traditionen zu verknüpfen. Das Amt des Dekans hatte er bis zu seinem Ausscheiden aus Altersgründen im Jahre 2018 inne. Anschließend nahm er bis zu seinem Tode die neu geschaffene Position eines Ehrenpräsidenten der Chemischen Fakultät ein.

Die Russische Akademie der Wissenschaften (RAN) hatte Valery V. Lunin im Jahre 1991 zu ihrem Korrespondierenden Mitglied berufen. Von diesem Zeitpunkt an hatte er auch den Lehrstuhl für Elektrochemie von Gasen an der Chemischen Fakultät inne. Im Jahre 2000 wurde er Ordentliches Mitglied der RAN.

Über all die Jahre seines langen Arbeitslebens übte Valery V. Lunin eine überaus umfangreiche Lehr- und Forschungstätigkeit aus. Er vertrat im Rahmen des studentischen Ausbildungsprogramms der Chemischen und der Biologischen Fakultäten vor allem die Lehre zu den Themen Wissenschaftliche Grundlagen der Herstellung von Katalysatoren, Chemie katalytischer Prozesse, Experimentelle Methoden in der Katalyse-Forschung und Moderne Probleme von Katalyse und Elektrochemie in Gasphasen.

Nicht nur im Rahmen dieser Themen, sondern weit darüber hinaus war Valery V. Lunin wissenschaftlich wirksam. So umfassten seine Aktivitäten auch die Synthese und Rolle intermetallischer Verbindungen und ihrer Hydride in der Kohlenwasserstoff-Chemie, deren Eigenschaften sowie ihre praktische Nutzung. Gleichermaßen waren Phasenübergänge in polymetallischen Systemen von Interesse wie auch die Darstellung und Verwendung hochtoxischer stickstoffhaltiger organischer Verbindungen, u.a. für Raketentreibstoffe auf der Grundlage des asymmetrischen Dimethylhydrzins. Auch die Arbeiten zur Ozon-Chemie mit der Entwicklung von vielseitig einsetzbaren Ozon-Generatoren sind hier zu nennen. Ausgehend vom Einfluss der Energie von Elektronenstrahlen auf physikalisch-chemische Eigenschaften von festen Katalysatoroberflächen gelang es Valery V. Lunin und seinen Mitarbeitern, ein technologisches Schema für die Regenerierung industriell verbrauchter Katalysatoren zu entwickeln. In jüngerer Zeit nahmen auch Themen der angewandten Chemie mit ökologischer Zielsetzung, z.B. auf dem Gebiet der Kohlenstoff-Nanomaterialien, einen breiten Raum seiner Forschungen ein. Ein Beispiel hierfür ist die Aufarbeitung von industriell anfallenden Fluiden unter Einsatz spezifischer Katalysatoren. Bemerkenswert sind auch die Arbeiten zur Aufarbeitung hochsiedender industrieller Rückstände der chlororganischen Chemie, wobei auch Rückstände mit sehr hohem Chlorgehalt erfasst werden können.

Resultate der genannten Forschungen sowie weiterer Arbeitsrichtungen sind von Valery V. Lunin und Mitarbeitern in mehr als 700 wissenschaftlichen Publikationen veröffentlicht worden. Dazu gehören auch einige Lehrbücher und Monographien, z.B. Osnovy fizitsheskoj chimii. Teorija i zadatshi (Mitautor, 2005), Химия XXI века (Mitautor, 2006), Primenenije i polutshenije ozona (Mitautor, 2006) und Praktikum po fizitsheskoj chimii (2017) sowie etwa 70 Patente.

Eine umfangreiche, weit über den Rahmen seiner Verpflichtungen an der MGU hinausgehende Verantwortung nahm Valery V. Lunin für die RAN wahr, so als Stellvertreter des Akademischen Sekretärs ihrer Abteilung für Allgemeine und Technische Chemie. Er war zudem Vorsitzender des Wissenschaftlichen Rates der RAN für die Chemie fester fossiler Brennstoffe und Stellvertretender Vorsitzender des Wissenschaftlichen Rates der RAN für Katalyse und ihre industrielle Nutzung. Auch war Valery V. Lunin Ehrenmitglied des A.W. Toptshijew-Instituts der RAN für petrolchemische Synthese. Weiteren vielfältigen Verpflichtungen kam er in der Verantwortung der Wissenschaften für die gesellschaftliche Entwicklung seines Landes nach. Herausragend sind Leistungen und Erfolge von Valery V. Lunin bei seinem Einsatz für die Entwicklung neuer Lehrmethoden im Fach Chemie an den Universitäten Russlands sowie seine leitende Mitwirkung in zentralen Kommissionen für die Prüfung und Zueignung wissenschaftlicher Grade auf dem Fachgebiet Chemie. Insbesondere war er als Mitglied einer Kommission des Präsidenten der Russischen Föderation für die Vergabe hoher staatlicher Auszeichnungen in Wissenschaft und Technik tätig. Starke Impulse gingen von Valery V. Lunin als einem langjährigen Präsidiumsmitglied der Russischen Chemischen Gesellschaft namens D.I. Mendelejew sowie als Vize-Präsident des Bundes wissenschaftlicher Gesellschaften Russlands aus.

Über viele Jahre war Valery V. Lunin Chefredakteur namhafter wissenschaftlicher Fachzeitschriften wie des Журнал Физическoй Xимиu sowie des Вестник Московского университета. Серия “Химия” (seit 2018 erscheint die elektronischce Version als Open Access Journal) und der Zeitschrift Сверхкритические флюиды: Tеория и практика. Er diente des Weiteren als Mitglied der Redaktionskollegien von Кинетика и катализ, Химия твердого топлива, Химическая промышленность und Катализ в промышленности. In diesen Funktionen trug er Sorge um die Wahrung hoher Standards wissenschaftlicher Publikationen und ihre Verbreitung in Fachwelt und nutzenden Industrien.

Große Verdienste erwarb sich Valery V. Lunin bei der Förderung des studentischen Nachwuchses durch die Mitautorenschaft und Herausgabe schulischer Lehrbücher für das Fach Chemie, die Organisation von außerschulischen Arbeitsgemeinschaften, sowie – last but not least – von nationalen und internationalen Chemie-Olympiaden, bei denen russische Oberschüler vielfach vordere Plätze belegten. In diesem Zusammenhang gab er die Zweitschrift Химия в школе heraus. Die Chemische Fakultät der MGU wurde so zu einer Leitinstitution des Fernunterrichts von Abiturienten zur Vorbereitung auf das Chemie-Studium: Дистанционная подготовка абитуриентов на Химическом факультете МГУ имени М.В. Ломоносова. Den Namen Lunin kennen alle Chemie-Lehrer Russlands und der früher zur Sowjetunion gehörenden Länder Europas und Mittelasiens. Aufgrund der Initiative von Valery V. Lunin war die MGU dreimal Gastgeber der Internationalen Olympiade junger Chemiker. Die hier von Valery V. Lunin und seinen Kollegen der Chemischen Fakultät erbrachten Leistungen – insbesondere während der für Russland schweren 1990er Jahre – können nicht hoch genug bewertet werden. Er war stets auf der Suche nach talentierten Kindern und Jugendlichen, die er sodann nach Kräften unterstützte. Auf seine Initiative hin entstand eine Vereinigung der Lyzeen Zentralrusslands, deren Bildungsarbeit von der MGU hervorragend unterstützt wurde.

Die gesellschaftliche, wissenschaftliche und wissenschaftsorganisatorische Arbeit sowie erzieherische und Lehrtätigkeit von Valery V. Lunin erfuhren hohe Anerkennungen von Seiten des russischen Staates und seiner wissenschaftlichen Fachkreise. So wurde er im Jahre 1999 mit dem Orden der Ehre ausgezeichnet. Im Jahre 2005 erhielt er den Verdienstorden für das Vaterland, IV. Klasse. Seine Arbeiten zu Synergie-Effekten in industriellen Prozessen der Hydrierung und Hydrodechlorierung wurden mit dem M.V. Lomonossow-Preis ausgezeichnet. Für die Arbeiten zu neuen heterogenen Katalysatoren auf der Basis von intermetallischen Verbindungen und ihren Hydriden wurde Valery V. Lunin mit dem A.A. Balandin-Preis des Präsidiums der RAN geehrt. Die Ausarbeitung und mehrfache industrielle Nutzung einer Zweistufigen Oxidationstechnologie für Ammoniak in der Produktion von Salpetersäure mi Hilfe eines oxidischen Waben-Katalysators wurde mit einem Preis der Russischen Föderation anerkannt. Für die Untersuchungen der physikochemischen Grundlagen der Synthese von Ozon und seiner breiten Anwendung in einer prinzipiell neuen Therapie wurde eine Arbeitsgruppe um Valery V. Lunin mit dem Preis des Präsidenten der Russischen Föderation für Wissenschaft und Technik ausgezeichnet. Auch sein Einsatz und die Erfolge in den Bereichen der schulischen, universitären und allgemeinen Volksbildung erfuhren vielfach Anerkennung und Auszeichnung.

Valery V. Lunin war ein hervorragender Wissenschaftler und hochtalentierter Pädagoge, ein leidenschaftlicher, energischer Lehrer und Leiter, voller Ansprüche an sich und an seine Mitarbeiter und Weggefährten. Dabei war er warmherzig, hilfreich und immer um seine Mitmenschen feinfühlig besorgt. Er hielt stets gegebene Versprechen ein. Zugleich aber war er beharrlich und willensstark, seine Ziele über lange Zeiträume konsequent verfolgend. Die Tätigkeit von Valery V. Lunin war vom Gedanken für das Allgemeinwohl durchdrungen. Unvergessen werden sein Lächeln und sein stets humorvolles Wesen bleiben, mit denen er selbst in schwierigsten Momenten Optimismus und Hoffnung verbreitete.

Valerij V. Lunin, der am 9. März 2020 an den Folgen einer Krebserkrankung in Moskau verstorben ist, hinterlässt zwei Kinder, seine Tochter Anna und seinen Sohn Alexej, beide aus erster Ehe mit der Chemikerin Dr. Jelena Vadimovna Kavalerova, die an den Spätfolgen eines Autounfalls bereits im Jahre 1999 verstorben war, und seine Gattin aus kinderloser zweiter Ehe, die Chemikerin Dr. Natalja Nikolajevna Kuznetzova. Der Familie Lunin gehören zehn Enkelkinder an, ihnen seien Wohlergehen sowie der Humor und Optimismus ihres Großvaters gewünscht.

Wir verlieren mit Valery Vassiljevič Lunin, einen großen Chemiker, ein ehrenvolles Mitglied der Leibniz-Sozietät, der er seit 2006 angehörte. Wir werden ihm ein würdiges Andenken bewahren. Den Hinterbliebenen bekunden wir unser tief empfundenes Beileid.

Martin Bülow und Gerhard Pfaff