Nekrolog für unser Mitglied Manfred Jähnichen
Die Leibniz-Sozietät der Wissenschaften zu Berlin e.V. trauert um ihr Mitglied,
den international bekannten Slawisten
Prof. Dr. Manfred Jähnichen
der am 19. November 2019 im Alter von 86 Jahren verstorben ist.
Manfred Jähnichen wurde am 26.1.1933 in Ullersdorf bei Dresden geboren. Das Abitur legte er an der Humboldt-Schule in Radeberg ab und begann zunächst ein Jura-Studium an der Humboldt-Universität zu Berlin. 1952 wechselte er an selbiger Universität in das Studium der Slawistik, Romanistik und Philosophie über, welches er 1956 mit einem Diplom in den Fächern Bohemistik/Slowakistik, Russistik und Serbokroatistik abschloss.
Von 1956 bis1970 war Manfred Jähnichen als wissenschaftlicher Assistent bzw. Oberassistent am Slawischen Institut der Humboldt-Universität zu Berlin tätig. Er promovierte 1962 mit der Schrift „Die Vermittlung und Aufnahme der tschechischen Poesie im deutschsprachigen Gebiet von 1815 – 1867. Beiträge zu den deutsch-österreichisch-tschechischen literarischen Wechselbeziehungen“ (publiziert 1967 u.d.T. Zwischen Diffamierung und Widerhall. Tschechische Poesie im deutschen Sprachgebiet 1815 – 1867, Akademie-Verlag Berlin). 1967 habilitierte er sich; die Habilitationsschrift erschien 1972 in überarbeiteter Form im Akademie-Verlag Berlin unter dem Titel Der Weg zur Anerkennung: tschechische Literatur im deutschen Sprachgebiet 1861 – 1918.
In seinem langen Wirken an der Humboldt-Universität zu Berlin, als Dozent (ab 1970) bzw. Professor für slawische Kulturen und Literaturen mit dem Schwerpunkt west- und südslawische Kulturen und Literaturen (ab 1973 bis 1998) hat sich Manfred Jähnichen für Generationen von Studierenden als fordernder und fördernder Hochschullehrer gezeigt. Zahlreiche NachwuchswissenschaftlerInnen verdanken ihm fachliche Impulse und persönliche Begleitung, die von inspirierenden, auch streitbaren Diskussionen geprägt war. Engagiert auch in der akademischen Selbstverwaltung, wirkte er u.a. von 1975 bis 1979 als Direktor der Sektion Slawistik der Humboldt-Universität zu Berlin und wurde für den Zeitraum 1990 bis 1994 zum geschäftsführenden Direktor des sich konzeptionell neu formierenden Instituts für Slawistik gewählt. 2005 wurde er Mitglied der Leibniz-Sozietät, 2006 Mitglied der Serbischen Akademie der Wissenschaften und Künste.
In den letzten Lebensjahren zunehmend durch Krankheit gezeichnet, lebte er zurückgezogen in Berlin, aufopfernd gepflegt von seiner Ehefrau. Er zeigte sich interessiert an wissenschaftlichen Aktivitäten in seiner Umgebung. Mit dem Gefühl mangelnder Anerkennung seines langjährigen Wirkens an ‚seiner‘ Universität kam er schwer zurecht.
Manfred Jähnichen war zeitlebens als leidenschaftlicher Mittler zwischen den Kulturen aktiv, als Fachwissenschaftler, als Herausgeber, Übersetzer, Nachdichter, Essayist und Kritiker. Im Rahmen seiner breit gefächerten wissenschaftlichen Interessen hatten Fragen der slawisch-deutschen kulturellen Wechselbeziehungen, der künstlerischen Übersetzung und Nachdichtung, der literarischen Rezeptionsprozesse besonderes Gewicht. Die von ihm ab Mitte der 1970er Jahre initiierten – zunächst bilateralen – Konferenzen zur Bohemistik/Slowakistik und Jugoslawistik, sein Einsatz für das über viele Jahre realisierte Bohemicum-Slovacicum, seine gesamte grenzüberschreitende Zusammenarbeit mit einer Vielzahl von Kolleginnen und Kollegen gilt es rückblickend unbedingt nochmals zu würdigen. International erfuhr er Anerkennung u.a. durch die Verleihung der Medaille des CSMS Praha für Verdienste um die Entwicklung der Freundschaft und Zusammenarbeit mit der ČSSR (1967), die Friedensmedaille der Karls-Universität Praha (1976), den Hviezdoslav-Preis 1976 des Slowakischen Schriftstellerverbandes (1977), den Nezval-Preis des Tschechischen Schriftstellerverbandes (1978), die Silberne Ehrennadel der J.E. Purkyně-Universität Brno (1983), den Orden des Jugoslawischen Banners mit goldenem Stern am Halsband (1986), die „Ehrennadel in Gold“ für hervorragende Verdienste um die Verbreitung der serbischen Kultur (2009).
Zeitlebens blieb Manfred Jähnichen seiner frühen großen Liebe treu: der Übersetzung, Nachdichtung und Edierung literarischer Werke aus der tschechischen und slowakischen Kultur und mehreren südslawischen Kulturen. Einige Bücher seien hier nochmals ins Gedächtnis gerufen: Der von ihm herausgegebene, eingeleitete und kommentierte Band Jugoslawische Erzähler von Lazarević bis Andrić (1966, 21976) war innovativ schon ob der erstmaligen Präsentation und kulturgeschichtlichen Verortung der dort aufgenommenen Autoren für LeserInnen in der DDR und damit der Möglichkeit eines Einblicks in die Erzählkunst in einem wichtigen Abschnitt ihrer Entwicklung. 1974 folgte Augen voller Sterne. Moderne slowakische Erzählungen, 1978 Die Akrobatin. Moderne tschechische Erzählungen. 1975 stellte er den jüdischen Autor aus Bosnien Isak Samokovlija mit der Erzählungsauswahl Die rote Dahlie erstmalig dem deutschsprachigen Publikum vor. In seiner Übersetzung aus dem Slowenischen erschienen 1965 der Band Am Steilweg, der mit Ivan Cankar den bedeutendsten Vertreter der slowenischen Moderne präsentierte, sowie 1972 Ciril Kosmačs Ballade von der Trompete und der Wolke. In der begehrten Weißen Reihe des Verlages Volk und Welt platzierte Manfred Jähnichen mehrere Gedichtauswahlbände: 1971 Laco Novomeskýs Abgezählt an den Fingern der Türme, 1978 František Hrubíns Romanze für ein Flügelhorn, 1982 Desanka Maksimovićs Der Schlangenbräutigam, 1986 Vilém Závadas Die wahre Schönheit der nackten Worte, 1988 Blaže Koneskis Lied der Weinberge. Mit den umfangreichen Auswahlen Weiße Nächte mit Hahn. Eine Anthologie der slowakischen Lyrik des 20. Jahrhunderts (1996), Das Schlangenhemd des Windes. Eine Anthologie der kroatischen Poesie des 20. Jahrhunderts (2000), Das Lied öffnet die Berge. Eine Anthologie der serbischen Poesie des 20. Jahrhunderts (2004) resümierte er schließlich seine Sicht auf die Lyrik des 20. Jahrhunderts in den Kulturen, in denen er sich besonders zuhause fühlte.
Manfred Jähnichen blickte auf ein bewegtes Leben als Forscher und Hochschullehrer zurück. Mit seinem vielfältigen Wirken, seiner Leidenschaftlichkeit in Disputen und als charmanter und empathischer Gesprächspartner wird er in Erinnerung bleiben.
Berlin, den 29.11.2019
Angela Richter