Nekrolog auf unser Mitglied Prof. Dr. Helga Schultz

Prof. Dr. Helga Schultz; Foto: privat
Prof. Dr. Helga Schultz; Foto: privat

Prof. Dr. Helga Schultz
* 16.08.1941, † 07.03.2016
Mitglied der Leibniz-Sozietät seit 1997

Die Leibniz-Sozietät der Wissenschaften zu Berlin e.V. trauert um ihr Mitglied, die Historikerin Prof. Dr. Helga Schultz, die am 07. März 2016 im Alter von 74 Jahren verstorben ist.

Helga Schultz, eine der wenigen Frauen in der Leibniz-Sozietät, bleibt ihren Mitgliedern in bester Erinnerung als Referentin und Debattenrednerin, die – stets bestens auf das jeweilige Thema vorbereitet – so manche kontroverse, wissenschaftlich äußerst produktive Diskussion anstieß. Sie förderte so, über den traditionellen Begriff von Geschichtswissenschaft hinausgehend, das Aufgreifen wissenschaftlicher Fragestellungen aus anderen Disziplinen für die interdisziplinäre Beantwortung historischer und aktueller Probleme der Gesellschaftsgeschichte in all ihren Aspekten. Mit Helga Schultz verliert die deutsche Geschichtswissenschaft eine ihrer produktivsten und stets anregenden Vertreterinnen.

Nach dem Abitur studierte Helga Schultz von 1960-1965 Geschichte, Germanistik und Pädagogik an der Universität Rostock und schloss das Studium mit Staatsexamen und Diplom ab. Ihre wissenschaftliche Laufbahn begann sie an dieser Universität, promovierte 1969 bei ihrem verehrten Lehrer Karl-Friedrich Olechnowitz mit einer Arbeit zur Geschichte Rostocks in der frühen Neuzeit („Soziale und politische Auseinandersetzungen in Rostock im 18. Jahrhundert“, Weimar 1974) und schloss ihre Habilitationsschrift über Landhandwerk („Landhandwerk im Übergang vom Feudalismus zum Kapitalismus. Vergleichender Überblick und Fallstudie Mecklenburg-Schwerin“, Berlin 1984) bei Gerhard Heitz noch 1978 in Rostock ab, nachdem sie bereits 1977 als wissenschaftliche Mitarbeiterin an das Institut für Geschichte der Akademie der Wissenschaften in Berlin gewechselt war. Zunächst an dessen Bereich Feudalismus tätig, leitete sie von 1983-1991 die Forschungsstelle Regionalgeschichte und wurde 1986 zur Professorin ernannt.

Mit Stadt- und Handwerks- sowie Agrargeschichte sind die beiden ersten Schwerpunkte ihrer frühneuzeitlichen Forschungen umrissen, die sie weiter auffächerte. Untersuchungen zu Verlag, Manufaktur und Protoindustrialisierung mündeten in die große Synthese einer vergleichenden Wirtschaftsgeschichte Europas zwischen 1500 und 1800 („Handwerker, Kaufleute, Bankiers“, 2 Auflagen Frankfurt am Main 1997 und 2002 und eine spanische Ausgabe Madrid 2001) – ein auch für größere Kreise interessantes Buch, in dem sich die hohe Formulierungskunst der Autorin zeigte. Angeregt durch das Berlin-Jubiläum, legte Helga Schultz 1987 ihre mit der Anwendung quantitativer Methoden neue Wege beschreitenden Untersuchungen „Berlin 1650-1800. Sozialgeschichte einer Residenz“ (2. Aufl. 1992) vor. In deren Umkreis entstanden weitere Arbeiten zur Geschichte Berlins, so „Der Roggenpreis und die Kriege des großen Königs. Chronik und Rezeptsammlung des Berliner Bäckermeisters Johann Friedrich Heyde 1740 bis 1786“ (1888) und „Das ehrbare Handwerk. Zunftleben im alten Berlin zur Zeit des Absolutismus“ (1993).

Nach der Abwicklung der Akademie der Wissenschaften der DDR nahm Helga Schultz ab September 1992 für ein halbes Jahr eine Gastprofessur an der Universität Göteborg wahr. 1993 erhielt als eine der wenigen DDR-Historiker die Chance einer Universitätslaufbahn im vereinigten Deutschland. Die Europa-Universität Viadrina in Frankfurt (Oder) berief sie auf den Lehrstuhl für Wirtschafts- und Sozialgeschichte der Neuzeit, den sie bis zu ihrer Pensionierung im August 2006 innehatte. Nach Rostock und Berlin wurde Frankfurt ihre dritte Wirkungsstätte, in der als neuer Forschungsschwerpunkt die Geschichte Ostmitteleuropas bis ins 21. Jahrhundert hinzukam. Sie gehörte zur Gründergeneration der 1991 wiedererstandenen Viadrina und wird dort bis heute dank ihrer Leistungen in Forschung und Lehre hoch geschätzt. Mehr als 40 Dissertationen und zahlreiche Abschlussarbeiten betreute sie während ihrer Tätigkeit als Hochschullehrerin. Ihre interdisziplinären und in europäischer Kooperation betriebenen Forschungen schlugen sich vor allem in der von ihr begründeten und herausgegebenen Reihe „Frankfurter Studien zur Grenzregion“ nieder. Die ab Band 9/2003 als „Frankfurter Studien zur Wirtschafts- und Sozialgeschichte Ostmitteleuropas“ bis heute weitergeführten Bände bringen die regionale und inhaltliche Erweiterung des Forschungsansatzes zum Ausdruck. Vergleichende Geschichte von Grenzregionen, deutsch-polnische Beziehungen im 19./20. Jahrhundert, Wirtschaftsnationalismus in Mittel- und Osteuropa waren nur einige der darin und in zahlreichen Zeitschriftenaufsätzen angepackten Themen. Keinen geringen Platz nahmen Arbeiten zu geschichtstheoretischen und methodologischen Problemen sowie zur Geschichte der Geschichtswissenschaft in der DDR ein.

Hohe Anerkennung wird ihrer Fähigkeit gezollt, Faktenreichtum und synthetisierende theoretische Betrachtungen miteinander zu verknüpfen. Gerade dadurch befruchtete sie historische Debatten, zumal Diskussionsfreude und Streitlust, dabei Sprachkultur und Redekunst ihr Auftreten kennzeichneten. Stets gefragt war ihr Rat in wissenschaftlichen Gremien. So gehörte sie seit 1985 der Commission Internationale de Démographie Historique im Comité International des Sciences Historiques an. In komplizierter Situation 1990/1991 war sie gewählte Vorsitzende des Wissenschaftlichen Rates am Institut für deutsche Geschichte der Akademie der Wissenschaften in Berlin und bis 2011 Mitglied des Johann Gottfried Herder-Forschungsrats.

Ihre Emeritierung verstand Helga Schultz als Versetzung in den Unruhestand. Von 2007 bis 2009 wirkte sie als Gastprofessorin am Institut für Angewandte Linguistik der Adam-Mickiewicz-Universität Poznań. Ihre Veröffentlichungsliste nach 2006 zeugt von ununterbrochen hoher wissenschaftlicher Produktivität.

Was sie aus eigener Befindlichkeit und Sorge besonders beunruhigte, waren Ursachen und Folgen des Zusammenbruchs eines mit der Arbeiterbewegung verbundenen Sozialismus und die seither neuartigen Herausforderungen für linkes Denken und Handeln in einer vom Neoliberalismus dominierten kapitalistischen Welt. Daraus erwuchs ihr 2014 erschienenes Buch „Europäischer Sozialismus – immer anders“, in dem sie in Biogrammen von 13 Sozialisten des 19./20. Jahrhunderts nach Anknüpfungspunkten für künftige sozialistische Konzeptionen suchte. Das Buch schrieb sie in Zeiten sich zuspitzender schwerer Krankheit, sie trotzte Krankenhausaufenthalten und Schwächeperioden immer wieder Momente des Glücks beim Forschen und Schreiben ab. Seit Sommer 2015 hatte sie mit dem Schreiben eines neuen Buches begonnen: „Neue Weltordnung und soziale Bewegung“, von dem ein Kapitel dank des großen Engagements ihres Verlages noch als Essay „Neoliberalismus und Neue Linke“ (Berliner Wissenschafts-Verlag 2016) kurz vor ihrem Tod vorlag. Es wurde ihr Vermächtnis.

Evamaria und Gerhard Engel

s.a.
Nachruf der Europauniverstität Viadrina