Kapitalismus am Limit? Bericht zum Kolloquium des Arbeitskreises Gesellschaftsanalyse

Dr. Michael Thomas eröffnet die Tagung (Foto Hobohm)

Bericht zum Kolloquium des Arbeitskreises „Gesellschaftsanalyse“ der „Leibniz-Sozietät der Wissenschaften zu Berlin

Kapitalismus am Limit? – Transformation im Stau: Suche nach Auswegen!

am 7. November 2025.

In 8 Stunden von der Achsenzeit vor mehr als 2000 Jahren bis zum Utopisieren mit KI heute, von den USA über Europa bis nach China. Altersdurchschnitt deutlich über sechzig Jahre beim Treff in der Jugendherberge: Transformation heißt, Möglichkeitsräume zu erschließen.  

Der Arbeitskreis „Gesellschaftsanalyse“ hat sich in seinen Sitzungen bzw. Leserunden fast zwei Jahre mit Zeitanalysen befasst. Der Grund dafür war naheliegend: Bisherige Überlegungen zu Ansätzen, Konzepten gesellschaftlicher Transformation (siehe die entsprechenden Bände in den Abhandlungen der Sozietät) waren durch einschneidende gesellschaftliche Veränderungen („Zeitenwende“) unter Druck geraten. So offensichtlich erkennbar krisenhafte Prozesse sind, so wenig sind das mögliche Auswege. Die „dumpfe Aktualität“ (Habermas) lässt sich wieder einmal nur schwer auf den Begriff bringen. Das ist aber erforderlich, will man Ansätze, Konzepte prüfen oder neu justieren. Der Arbeitskreis hat eine Vielzahl von Publikationen diskutiert. Schließlich schien die Öffnung der Debatte und die direkte Einbeziehung von Expertinnen und Experten – ein Kolloquium – folgerichtig.

Die große Zahl von Teilnehmenden (weit über vierzig) am Kolloquium hatte einen prall gefüllten Veranstaltungstag, der trotz zweier kurzfristiger Absagen von Referenten, keine langen Pausen und zum Glück auch keine Langeweile zuließ. Es gab intensive Debatten und zahlreiche Impulse für die weitere Arbeit in den angesprochenen Problemfeldern.

Die Themenrunden waren so konzipiert, dass zunächst übergreifend die Krisenproblematik des dominierenden kapitalistischen Weltmodells behandelt werden sollte. Danach ging es um globale Konstellationen zentraler Akteure in Auseinandersetzung mit diesem krisenhaften Weltmodell. Und schließlich standen Konzeptualisierungen und die Suche nach praktischen Alternativen im Zentrum. Jede der Runden war mit einem relevanten und hinreichend kontroversen Diskursspektrum gesetzt. So sollte sich einerseits an diskutierte Fragestellungen des Arbeitskreises anschließen lassen, andererseits mussten die Expertisen nicht auf abgeschlossene Antworten oder gar erratische Gewissheiten abzielen; sie konnten Anlass und Inspiration für konzeptionell begründete weitere gemeinsame Suche sein. Die Positionen der ausgefallenen Referate wurden jeweils komprimiert eingebracht, der konzeptionelle Anspruch konnte beibehalten werden. Die für Anfang nächsten Jahres vorgesehene Publikation in den Sitzungsberichten der Sozietät wird das belegen. – Ein knapper Überblick zum Kolloquium.

Prof. Dr. Andrea Komlosy, MLS (Foto: Haßler)

Nachdem Michael Thomas (Leiter des Arbeitskreises) einleitend auf die Herangehensweise des Arbeitskreises verwiesen und die konzeptionelle Anlage skizziert hatte, war in der ersten thematischen Runde die umfassende bzw. Poly-Krise der westlich-kapitalistischen Gesellschaften Gegenstand. Während sich diese Krise einerseits als eine Art finale Krise des zerstörerischen Weltmodells fassen lässt – der Kapitalismus ist so oder so „am Limit“ –, ohne damit einen kurzfristigen Zusammenbruch zu postulieren, legte die Wirtschafts- und Sozialhistorikerin Andrea Komlosy (Wien, Professorin i.R., MLS), das konzeptionelle Gewicht stärker auf mögliche Alternativen, die der Kapitalismus auch in dieser Krise wieder finden würde. In ihrem Beitrag (Das Konzept der säkularen Transformation. Wie können wir die Wende der digitalen Akkumulation einfangen?) wurden die mit den technologischen Innovationen verbundenen neuen Akkumulationsmöglichkeiten akzentuiert. Damit könne der Kapitalismus, wie auch konkret und in welcher Region der Welt auch immer, scheinbar gesetzte Grenzen überwinden. Interessanterweise ist dann „Corona“ auch nicht Signatur einer solchen Grenze, sondern Katalysator der Veränderung. – In dieser Spanne, ohne sie aufzuheben, bewegte sich eine intensive Diskussionsrunde: Wo liegen die Wirkungsfaktoren, was „verschiebt“ sich zwischen Ökonomie, Technologie und Politik, und haben wir dafür die ausreichenden analytischen Instrumente, die zutreffende Sprache?

Prof. Dr. Hans Joas, Keynote (Foto: Hobohm)

Nach dieser Themenrunde war eine Keynote gesetzt, die unter einer systematischen Fragestellung sowohl diese konkrete zeitgeschichtliche Krise „einordnen“ wie Herausforderungen und Ansätze gestaltenden Handelns aus einer weltgeschichtlichen Konstellation aufzeigen konnte. Ohne andere Beiträge oder auch die Diskussion insgesamt zu schmälern: Diese Keynote des Soziologen Hans Joas (Berlin, Inhaber der Ernst-Troeltsch-Professur) war zweifellos ein Höhepunkt des Kolloquiums. Die tiefe soziologische Analyse und Darstellung von mehr als 2000 Jahren der ambivalenten Geschichte von moralischem und politischem Universalismus (siehe: Hans Joas: Universalismus. Weltherrschaft und Menschheitsethos) führt einerseits bis in die aktuelle Konstellation, in welcher Autokraten wie Trump oder Putin jeglichen Universalismus verachten und auf blanke Macht setzen. Andererseits wird in der anhaltenden historischen Auseinandersetzung zwischen moralischem Universalismus und politischem Universalismus eine Ambivalenz und Kontingenz sichtbar, die das Ringen um den moralischen Universalismus zu einer bleibenden Herausforderung macht. Diese entzieht ihn gleichermaßen einer denunziatorischen Unterstellung und widersetzt sich instrumenteller Vereinnahmung: Moralischer Universalismus ist nicht die Verabsolutierung bestimmter (imperialer) Werte, auch nicht der des liberalen Westens, sondern verlangt Akzeptanz, Respekt partikularer Äußerungen. Darin liegt eine zukunftsoffene Ambivalenz. Auch wenn dem begeisternden Referenten nicht die Zeit eingeräumt werden konnte, dies für den historischen wie den aktuellen Kontext detailliert zu verdeutlichen – eine inspirierende Blicköffnung war erreicht.

Podium zur mulitpolaren Weltordnung (v.l.n.r.): Prod Dr. Dieter Segert (Moderation), Ingar Solty, Dr. Judith Dellheim, Prof. Dr. Michael Brie (Foto: Hobohm)

In der zweiten thematischen Runde zur multipolaren Welt(um)Ordnung) folgten drei Beiträge zu einzelnen globalen Zentren bzw. Akteuren. Dabei wurden neben den erforderlichen allgemeinen Einschätzungen jeweils interessante Akzentuierungen vorgenommen. Bei Michael Brie (Berlin, Dr. phil. habil., MLS) betraf das in seinem Beitrag (Das chinesische Jahrhundertprojekt) die besonders betrachtete Rolle der Kommunistischen Partei. Diese erreiche über eine Art machtpolitischen fundierten Gesellschaftsvertrages die aktive Einbeziehung des Volkes, nicht nur dessen Zustimmung. Das mag ein „systembedingter Preis“ sein – kaum zu akzeptieren aus Sicht westlicher Demokratie –, ermöglicht aber bisher offene Lernprozesse. Ganz anders die USA, auch in dieser Hinsicht gleichsam der Gegenpol zu China. Ingar Solty (Berlin, Referent der Rosa-Luxemburg-Stiftung) widmete sich diesem (Die Vereinigten Staaten im postliberalen Kapitalismus). In einer breiten Analyse kam er insbesondere auf die autoritäre Wende unter Trump. Diese sei keine persönliche Marotte, sondern erkläre sich daraus, dass die bisherigen Strategien der USA zur Bewältigung der Krisenprozesse wie zur „Bändigung“ des neuen globalen Gegenspielers (China) gescheitert sind. China erweist sich als Verteidiger der Welthandelsordnung, kann so den globalen Süden zunehmend einbinden, während die USA diese Ordnung aktiv gefährden und auf Militarismus wie schiere Drohung setzen. In dieser gefährlichen globalen Konstellation wäre ein Akteur wie Europa bzw. die EU zu einer starken vermittelnden Rolle aufgefordert. Judith Dellheim (Berlin, Dr. oec.) konnte hierfür allerdings keine positiven Belege liefern. Vielmehr musste sie die in ihrem Vortrag (Europäische Union – souveräner globaler Akteur?) gestellte Frage verneinen. Die EU (wie eben auch Deutschland) ist in ihrem Agieren weder souverän noch setzt sie progressive Akzente. Die Diskussion auch zu diesem Komplex war intensiv, weitgehend eine Bestätigung und Ergänzung der vorgenommenen Einschätzungen. Verwiesen wurde aber auch auf eine gewisse systematische Leerstelle: Wenngleich in allen Beiträgen auch die Frage nach Russland mitschwang, gab es zu diesem Akteur keinen eigenständigen Beitrag. Das war zwar zeitlich zwingend, aber doch eine konzeptionelle Auslassung.

Die dritte thematische Runde fragte nach gesellschaftlichen Leitbildern, nach möglichen Visionen und Gestaltungschancen. Dabei ist für zeitanalytische Diskurse und ideologische wie politische Ansätze offenbar bestimmend, ob diese eher auf eine Revitalisierung vergangener Konzepte (etwa den „Fossilismus“) oder zumindest auf Anpassung und Ausharren im status quo setzen, oder angesichts anhaltender Krisenprozesse doch nach transformatorischen Öffnungen suchen. Soziologisch lässt sich diese Spanne anhand des Resilienz-Konzeptes festmachen. Der Soziologe Martin Endreß (Trier, Prof. Dr., MLS) begründete in seinem Referat (Transformationsperspektive „Resilienzen“) zunächst die erforderliche Lösung des Resilienzkonzept aus Engführungen, die sich seiner disziplinären Herkunft (Psychologie) verdanken. Erst mit einer hinreichenden soziologischen Reflexivität lasse sich das Konzept aus naiven (linearen) Fortschrittsunterstellungen lösen – weshalb man besser von Resilienzen als von Resilienz sprechen solle – und so auch für den Dreischritt „Bewältigung, Anpassung und Transformation“ öffnen. Das war zugleich ein produktiver Anschluss an den Kommentar von Michael Thomas, der sich mit Schwierigkeiten, Vorbehalten aus kritischer Gesellschaftsanalyse mit bzw. gegenüber dem Konzept „Resilienz“ befasste. Vor allem dürfe man dessen modernisierungstheoretische Vereinnahmung nicht für „bare Münze“ nehmen. Denn das hieße, alles an einem individualistischen Subjektmodell festzumachen. Damit würden sich ähnlich einseitige Sichtweisen ergeben wie Joas solche umfassend anhand der Auseinandersetzungen um den Universalismus aufgezeigt hatte. Endreß stellte die sozialen Voraussetzungen dar und konnte so mit diesem Konzept Prozesse der Ermöglichung in den Blick nehmen.

Neben der fachspezifischen Debatte war das der direkte Übergang zu einigen, nur noch knapp zu behandelnden, praktischen Fragen. Erwähnt sei hier nur Janas Gebauer (Berlin, Freelance, Facilator): Angesichts einer dystopischen Gegenwart, einer so „total besetzten Gegenwart“ (Heiner Müller), müsse man sich durch gemeinsames, praktisches Utopisieren dieser entziehen. „Was wäre, wenn“-Fragen können Räume eröffnen, wo transformatives Agieren wieder in den Blick kommt.

Gerda Haßler und Michael Thomas (Foto: Hobohm)

Nochmals eine spannende Diskussionsrunde. Mehr aber führte das zu einer übergreifenden Konsequenz, die sich bereits in den vorangehenden Runden angedeutet hatte: Während sich in diesen, eher theoretischen, Diskursen zeigte, dass sozialwissenschaftliche Expertise angesichts der vielfältigen Umbrüche dringend der interdisziplinären Erweiterung bedarf, zeigte der Exkurs in transformative Praxis das Erfordernis transdisziplinärer Verständigung. Es war insofern konsequent und inspirierend, dass die Präsidentin der Sozietät, Gerda Haßler (Prof. Dr.), ihre abschließende Intervention genau auf diese Aspekte ausrichtete. Ihr Plädoyer, zum Verständnis von Transformation müsse man „Sprache, Ökonomie und Sinn gemeinsam denken“, untersetzte sie mit vielen Beispielen. Ihr sprachwissenschaftlicher Zugang überzeugte: „Kapitalismus ist nicht nur ein Produktionssystem – er ist ein Bedeutungsfeld. Er strukturiert, was als wertvoll gilt, was als produktiv erscheint, was als rational akzeptiert wird.“ Dieser scheinbar stringenten Deutung müsse man sich widersetzen. Ihre Aufforderung, „Interdisziplinarität als epistemische Haltung“ greift über Kolloquium und Arbeitskreis hinaus. Die Debatte ist so oder so nicht am Limit.

Michael Thomas