Jour fixe „Europa im 21. Jahrhundert“

Der ArbeitskreisEuropa-Selbstverständnisse und Perspektivenvielfalt“ veranstaltet einen Jour fixe zum Thema „Europa im 21. Jahrhundert“.

Er findet am 25.04.2022, ab 14 Uhr in Fa. GEFEG, Storkower Bogen, Storkower Str. 207 statt.

Wir laden alle interessierten Mitglieder der Leibniz-Sozietät herzlich ein, mit uns über die folgenden Fragen um drei Themenschwerpunkte zu diskutieren:

  1. Wann endete das „Zeitalter der Extreme“ (Eric Hobsbawm), und reicht der Jahrhundertbegriff, um eine sich ankündigende Epochenwende angemessen zu erfassen? Denn die Ankunft im 21. Jahrhundert bedeutet zuallererst, neue Fragen an die Vergangenheit, auch an diejenige der letzten dreißig Jahre zu stellen. Wie gehen wir mit der Tatsache um, dass sich gerade Zukunftserwartungen dramatisch verändern? Dass sich als Illusion erwiesen hat, was im Jahr 1989 geschichtsphilosophische Prognosen („Ende der Geschichte“) vorausgesagt haben? Da war einerseits die Annahme eines weitgehend friedlich erfolgenden Zusammenbruchs der europäischen Nachkriegsordnung (Schlussakte von Helsinki 1975). Da war andererseits das Wunschdenken über einen letztlich problemlosen Übergang von Sozialismus-Varianten, mit und ohne sowjetische Vorherrschaft, hin zu einem „nachholenden“ Kapitalismus neoliberaler Marktwirtschaft und spätmoderner Demokratie – mit populistischen und nationalistischen Gegentendenzen. Die Frage steht im Raum, wie trügerisch der Ausblick auf ein angebliches neues Zeitalter west-östlicher Ideenkonkurrenz (Demokratie gegen Autokratie) oder von „Weltordnungsentwürfen künftiger globaler Netzwerke“ (Zhao Tingyang) tatsächlich ist. Muss es nicht, angesichts der ökologischen Herausforderungen im 21. Jahrhundert, vorrangig um einen globalen Wettstreit zwischen ökonomischen, politischen und soziokulturellen Entwicklungsmodellen gehen, die auf „Prinzipien ökologischer Nachhaltigkeit und sozialer Gerechtigkeit“ (Thomas Piketty) beruhen?
  2. Wie kann Europa als historischer Erfahrungsraum und als semantisches Bedeutungsfeld, in allen seinen aktuellen Verschiebungen vor allem zwischen West-Mittel- und Osteuropa bis zu Russland, auf neue Weise historisiert werden? Anstelle von überheblichen „Siegerarchitekturen“ oder „bereinigten Geschichtsdarstellungen“ (Pankay Mishra) der westeuropäisch-westlichen Vergangenheit sind komplexe Analysen gefragt, die das einzigartige Geschichtsexperiment einer industriekapitalistischen und materialistischen Zivilisation gleichermaßen als unvergleichlichen Aufstieg von Wissenschaften, Technologien, Kulturen und als brutale Chronik von Zerstörung, Entwurzelung, Unterdrückung und imperialer Expansion zu erfassen vermögen, ganz im Sinne von Marx‘ Fortschrittsmetapher des barbarischen heidnischen Götzen. Welche Begrifflichkeiten haben sich dafür bisher bewährt und welche sind erst noch zu finden, z.B. für die Umbrüche im mittel- und ost/südosteuropäischen Raum? Welchen Umgang finden wir für das seit 1989 nicht neu definierte Konzept des „Westens“ und, im jetzigen 21. Jahrhundert, für die Machtstrategien eines imperial auftretenden Nationalismus in Russland?
  3. Wie ist endgültig ein Blickwechsel zu erreichen? Gemeint ist der Wechsel vom Eurozentrismuszum Dezentrieren von (West-)Europaund die konsequente Einbeziehung sowohl innereuropäischer als auch postkolonialer Perspektiven, mit denen historisches Wissen aus Lateinamerika, Afrika, Asien und vor allem aus China in eine immer noch – nicht zuletzt durch den unkritischen Gebrauch bestimmter Begriffe und Paradigmen – europäisierte bzw. verwestlichte Weltgeschichte einfließen können? Erst mit einer solchem grundlegenden Veränderung überlieferter Perspektiven werden die vielfältigen Möglichkeiten einer im 21. Jahrhundert neu entstehenden Welt entdeckt können.

 

Monika Walter

Dieter Segert

 

Beitragsbild: Karte von Europa, 1:7 000 000, Kupferstich, 1708 – Deutsche Fotothek, Germany – CC BY-SA. https://www.europeana.eu/de/item/440/item_M2TTSXW5PB6HTCHAGY6O7SQGAV55X2JM