Bericht zur Jahrestagung

Bericht zur Jahrestagung der Leibniz-Sozietät Sprache – Diskurse – Meinungsbildung am 20. Oktober 2022

Dass Sprache – als System und in ihrer Verwendung in Diskursen – Meinungen prägen kann gehört zu unserer täglichen Erfahrung. Wir denken in durch Wörter fixierten Begriffen und Diskurse prägen Meinungen. Sie sind in ihrer Vielfalt und Gegensätzlichkeit so ausgeprägt, dass Sie auch abgrenzende Funktionen ausüben und andererseits Wörter mit spezifischen Bedeutungen belegen, die sie für den allgemeinen Gebrauch problematisch werden lassen.

Für das Prägen, Abgrenzen und Fixieren von Begriffen stand auch die Darstellung, die das Thema der Jahrestagung versinnbildlichen sollte.

Prägen, Abgrenzen und Fixieren von Begriffen (© Gerda Haßler)

„Auf leisen Sohlen ins Gehirn“ haben George Lakoff und Elisabeth Wehling in ihrem 2008 erschienenen Buch die Wirkung politischer Sprache und ihre heimliche Macht bezeichnet. Doch auch über die politische Kommunikation hinaus nimmt Sprache Einfluss auf unsere Meinungen, vom Wiederholen gängiger Schlagwörter in der Alltagskommunikation bis zur Bildung schulenspezifischer wissenschaftlicher Termini.

Die Aktualität des Themas Sprache – Diskurse – Meinungsbildung war ein Grund dafür, es für die Jahrestagung, die am 20. Oktober 2022 von 10 bis 18 Uhr im BVV-Saal des Rathauses Tiergarten stattfand, zu wählen. Ein weiterer Grund liegt jedoch in der Geschichte der 1700 von Gottfried Wilhelm Leibniz gegründeten Kurfürstlich Brandenburgischen Sozietät der Wissenschaften, aus der 1746 die Académie Royale des Sciences et Belles-Lettres hervorging und deren Tradition sich unsere Sozietät verpflichtet sieht. Diese Akademie war die erste Einrichtung, die zu einer Behandlung des Themas des Einflusses der Meinungen auf die Sprache und der Sprache auf die Meinungen aufrief.

Den Preis erhielt 1759 Johann David Michaelis, der eine am Gebrauch orientierte, demokratische Sprachauffassung vertrat, den rückwirkenden Einfluss der Sprache auf die Meinungen des Volkes sowohl positiv als auch negativ wertete und allen Sprechern die Möglichkeit der Sprachverbesserung zuerkannte. Bereits damals war dieses Thema von hoher Brisanz, wenn auch in einem etwas anderen Sinne als heute.

Titelblatt der Veröffentlichung der Preisschrift von Michaelis zum wechselseitigen Einfluss von Sprachen und Meinungen (Foto: Gerda Haßler)

Im Vortrag von Gerda Haßler (MLS) wurde zunächst auf die Entwicklung der Diskussion zum Einfluss der Sprache auf die Meinungen im 18. und 19. Jahrhundert an der Berliner Akademie eingegangen, an der insgesamt fünf Preisfragen zu sprachtheoretischen Themen ausgeschrieben wurden, was der Besonderheit dieser Akademie geschuldet war, eine philosophische Klasse zu haben. Danach wurden im Vortrag einige Möglichkeiten der heutigen Sprachwissenschaft behandelt, die Meinungsbildung durch Sprache und Diskurse zu beschreiben und zu erklären. Der inzwischen als Modewort verbreitete Diskurs-Begriff entstammt der von Foucault inspirierten, sozialhistorisch ausgerichteten französischen analyse du discours und kam in Deutschland in den 90er Jahren auf dem Weg über die historische Semantik in die textlinguistische Debatte. Frühe Formen der Diskursanalyse bedienten sich vor allem quantitativer Methoden, teilweise auch automatisch durchgeführter Untersuchungen nach Schlüsselwörtern. Die qualitativen und quantitativen Ergebnisse der Lexikometrie wurden auch von Historikern und Soziologen genutzt. Ziel lexikometrischer Verfahren in der Diskursforschung ist es, großflächige Strukturen der Sinn- und Bedeutungskonstitution in Textkorpora zu erfassen. Auch die gehäufte gemeinsame Verwendung von Wörtern, die in der Sprachwissenschaft „Kollokation“ genannt wird, kann zur Meinungsbildung beitragen. Als weitere, den Diskurs als Ganzes in den Blick nehmende Richtung, die für die Erforschung des Einflusses von Diskursen auf die Meinungsbildung relevant sein kann, wurde die kritische Diskursanalyse genannt. In multimedialen Diskursen wird dabei deutlich, dass es nicht die Sprache allein ist, die über ihre Zeichen und deren Verknüpfung auf das Bewusstsein des Menschen einwirkt, sondern dass ihre Bildhaftigkeit durchaus auch durch reale Bilder unterstützt werden kann. Diskurse finden außerdem in Situationen statt, die sie unterschiedlich interpretieren lassen und die zur Sinngebung beitragen.

Martin Reisigl (Institut für Sprachwissenschaft, Universität Wien) führte in seinem Vortrag zum Thema Meinungs- und Wissensformation im Diskurs – Eine diskurshistorische Annäherung eine historische Rekonstruktion des Diskursbegriffs durch. Er zeichnete nach, wie sich der Diskursbegriff bereits seit der Hochscholastik (z.B. bei Thomas von Aquin, Duns Scotus und Nikolaus von Kues) als epistemischer Begriff herauskristallisierte und wie Diskurs seitdem auf unterschiedliche Weise mit der Frage der Glaubens-, Meinungs- und Wissensformation verbunden wurde. In der diskurshistorischen Rekonstruktion wurden unter anderem Bezüge zwischen dem platonischen Begriff der diánoia und dem Diskursbegriff aufgezeigt und wurden theologische Reflexionen zur Frage der diskursiven Repräsentation von Wirklichkeit in Anbetracht des begrenzten menschlichen Erkenntnisvermögens erörtert. Der Anlass der Jahrestagung legte es nahe, auch auf den ambigen Diskursbegriff von Leibniz ein­zugehen und auf die im deutschen Sprachraum sich ausbildende Tendenz, den Diskusbegriff in der Zeit zwischen 1750 und 1960 nicht selten negativ zu konnotieren und beispielsweise in einen Gegensatz zu striktem syllogistischem Räsonieren zu bringen. Mit Blick auf das 20. Jahrhundert wurden unter anderem, die diskurstheoretischen und diskursanalytischen Perspektiven von Jürgen Habermas und Michel Foucault diskutiert und damit verbunden die Frage, inwieweit Meinungs- und Wissensformationen im Spannungsfeld zwischen Rhetorik, Logik, Dialektik, Delibera­tion und Sprach- bzw. Diskursdeterminismus verortet werden.

Der Beitrag von Ottmar Ette (MLS) stand unter dem Titel Die Tropen der Diskurse und die Diskurse der Tropen. Zur Erfindung und Findung der Amerikas. Er verdeutlichte, dass für ein Verständnis von Literatur als Bewegung und Literatur in Bewegung die Tropen als Bewegungselemente eine wichtige Rolle spielen. Heinrich Lausberg unterschied je nach Vektorizität zwischen drei verschiedenen Arten von Tropen: Grenzverschiebungstropen, Sprungtropen sowie kombinierten Tropen. Hayden White wiederum sprach von den „Tropics of Discourse“ im Sinne einer Prägung historischen Erzählens durch literarisch vorstrukturierte Darstellungsmuster. Auf einer geographisch-planetarischen Ebene teilen die Tropen die vorherrschende Semantik der Bewegung. Ausgehend von diesem Befund wurden in der Geschichte der Kartographie ebenso wie in jener der Literatur die Welten zwischen den Wendekreisen untersucht, um herauszufinden, inwiefern die europäischen Diskurse der Expansion in die neuweltlichen Tropen nicht nur die Erfindungen, sondern auch die Findungen der sogenannten Neuen Welt vorprägten und ihre diskursive Macht zum Teil bis heute entfalteten.

Jürgen Erfurt (MLS) sah in seinem Vortrag Über ‚legitime Sprache‘ und ‚sprachliche Legitimität‘ das Thema der Jahrestagung geradezu zwangsläufig mit Fragen nach der Legitimität verbunden: der Legitimität des Handels, so auch des sprachlichen Handelns, der Legitimität von Akteuren, selbstredend auch von sprachlichen Akteuren, der Legitimität von Meinungen, die wir als diskursiv konstruiert verstehen, wie auch der von Diskursen überhaupt. Er formulierte zunächst als These, dass in der im weiten Sinne gesellschaftswissenschaftlichen Forschung über Legitimität, auch wenn uns die genannten Zugriffe als völlig plausibel – und legitim – erscheinen mögen, kaum anderes als eine völlig randständige Bedeutung hatten und haben. Rühmliche Ausnahme stellt hierbei das Werk des französischen Soziologen Pierre Bourdieu dar, der in verschiedenen Zusammenhängen die Problematik von Legitimität und speziell von ‚legitimer Sprache‘ (u.a. Bourdieu 1982) in die wissenschaftliche Diskussion eingeführt hat. Die von ihm inspirierte sprachwissenschaftliche und erziehungswissenschaft­liche Forschung hat das Konzept der ‚legitimen Sprache‘ vor allen auf Situationen von gesellschaftlicher Mehrsprachigkeit angewendet, um soziale Dynamiken auf dem ‚sprachlichen Markt‘ (Bourdieu 1982) zu erkennen, darunter die Auf- oder Abwertung von Sprachen und Varietäten (u.a. Boudreau 2016), die Diskriminierung von Personen mit Migrationsgeschichte und die Marginalisierung ihrer Sprachen im Bildungswesen (u.a. Mecheril/Quehl 2006, Rellstab 2021). In dem Beitrag wurde, von einer Art Chiasmus aus ‚legitimer Sprache‘ – ‚sprachlicher Legitimität‘ ausgehend, Bourdieus Konzept der ‚legitimen Sprache‘ aufgegriffen und gezeigt, wie es für die Beschreibung gegenwärtiger Prozesse der Meinungsbildung über Sprachen in Migrationsgesellschaften entfaltet werden müsste.

Martina Drescher (Universität Bayreuth), die als Romanistin und allgemeine Sprachwissen­schaftlerin seit vielen Jahren zur Pragmatik, der Diskurs- und Interaktionsanalyse sowie der Frankophonie mit einem Schwerpunkt auf dem Französischen in Afrika forscht, sprach zum Thema Meinungsbildung durch Gerüchte? Eine diskursanalytische Fallstudie zum Covid-19-Diskurs aus Kamerun. Nicht nur politische Debatten und wissenschaftliche Erkenntnisse tragen hier zur Meinungsbildung im Seuchendiskurs bei. Auch Gerüchte und Verschwörungstheorien beeinflussen diesen Diskurs, dessen Wurzeln historisch weit zurückreichen. Der Beitrag rückte mit dem zentralafrikanischen Kamerun ein Land des globalen Südens und damit einen nicht-europäischen Covid-19-Diskurs in den Fokus. Zum andern beleuchtete der Beitrag Gerüchte und Verschwörungstheorien, die bislang überwiegend in den Sozialwissenschaften untersucht wurden, aus einer linguistischen Perspektive. Denn als in den Seuchendiskurs eingebettete, nicht offizielle bzw. nicht legitimierte Information werden diese diskursiv konstruiert und in Textform verbreitet, so dass es naheliegt, ihre sprachlich-kommunikative Verfasstheit genauer unter die Lupe zu nehmen. Die Referentin stützte sich auf ca. 20 Stunden Audioaufnahmen von strukturierten Interviews mit ca. 100 Kamerunern unterschiedlichen Alters, Geschlechts etc., die zwischen Juni und Oktober 2020 erhoben wurden. In einem ersten Schritt wurden einige der in Kamerun zirkulierenden Covid-19-Narrative vorgestellt, um dann ausgewählte Beispiele auf ihre sprachlich-textuelle Struktur sowie ihre epistemischen Markierungen hin zu analysieren. Die Ergebnisse bestätigen die Relevanz der Gerüchte im Covid-19-Diskurs Kameruns. Diese geben Einblick in (lokale) Interpretationen der Pandemie, indem sie soziopolitische Fragen kommentieren, gemeinsame Wahrnehmungsmuster, Sehnsüchte und Ängste aufdecken und nicht zuletzt den Einfluss der kolonialen Vergangenheit auf das kollektive Unbewusste unterstreichen.

Michael Thomas (MLS) ging in seinem Vortrag Das Schweigen der Männer und die hilflose Soziologie. Politische Diskurse, Leitbegriffe und wissenschaftliche (Selbst-)Begrenzungen in Zeiten des Umbruchs von den gravierenden Veränderungen in den modernen westlichen und östlichen Ländern in den 1970er/80er Jahren aus, die auch die Sozial- und Wirt­schaftswissenschaften betrafen. Diese lassen sich – ohne Widersprüchliches und gegenläufige Trends zu übersehen – als paradigmatische Innovationen bezeichnen: Stärker konzeptualisiert wurden etwa Beweglichkeit, Differenziertheit, Komplexität gesellschaftlicher Strukturen und Sozialformen, in den Blick kamen die Variabilität gesellschaftlicher Entwicklung, hybride Verlaufsformen, alternative Entwicklungspfade. Die Soziologie zeigte Ansätze zur Profilierung ihrer Perspektiven. Neue, andere Leitbegriffe, vielfältige sprachliche Formen und Inhalte; verschiedentlich wird von einer „epistemischen Wendezeit“ gesprochen. Jahrzehnte später konstatieren beispielsweise Reckwitz und Rosa (Spätmoderne in der Krise) das Fehlen einer Bewegungssoziologie als einen Anlass für ihren gesellschaftstheoretischen Entwurf. Dahinter steckt mehr als eine Markierung des Terrains, wird der Kontrast aufgemacht zu den benannten Veränderungen. In der Soziologie und der Gesellschaftstheorie dominieren jedoch statische Konzepte und Perspektiven. Die Soziologie changiert zwischen Beliebigkeit, Desinteresse und politischer Instrumentalisierung, statt hinreichende Beobachtung und Expertise zu leisten. Wie mehrfach in ihrer Geschichte scheint sie „aus der Zeit gefallen“: Wo ihre Aufmerksamkeit besonders gefragt ist, hat sie diese zum Großteil verloren. Ausgehend von aufschlussreichen Beobachtungskonstellationen verdeutlichte der Beitrag Gründe und Folgen soziologischer Sprache und Sprachlosigkeit in Zeiten des Umbruchs als einem signifikanten Fallbeispiel.

Constanze Spieß (Philipps-Universität Marburg) sprach über populistischen Sprachgebrauch an der Grenze zu sprachlicher Gewalt – Zur Debattenpraxis im deutschen Bundestag. Sie stellte fest, dass im Sprachgebrauch politischer Akteur:innen populistischer Parteien immer wieder öffentlich bewusst Provokationen sprachlich vollzogen werden. Dabei folgen die Provokationen und Skandalisierungen einem typischen Muster: Provokation – Darstellung des als provokativ Geltenden als von den Medien und der Öffentlichkeit falsch verstandene oder aus dem Zusammenhang gerissene Äußerungen – Normalisierung des Gesagten und Übergang in den Mainstreamdiskurs. Ein bislang noch wenig beachtetes Phänomen im Kontext dieses Musters stellt die Verbindung von sprachlicher Gewalt und populistischen Sprachgebrauchsstrategien dar. Populismus wurde als mehrdimensionales Phänomen dargestellt

Populismus als mehrdimensionales Phänomen (© Constanze Spieß)

Festzustellen ist im Hinblick auf dieses Verhältnis insbesondere die Neigung populistischer Akteur:innen, Andersdenkende, andere bzw. dem Eigenen fremde Lebensformen und -konzepte zu diffamieren und zu diskriminieren. Dabei spielt Sprache eine relevante Rolle. Ausgehend von einer Systematisierung verschiedener Formen und Ebenen sprachlicher Gewalt wurde in dem Vortrag eine Analyse konkreter Realisierungen sprachlicher Gewalt in der parlamentarischen Debatten-Kommunikation vorgenommen. Die konkreten Phänomene sprachlicher Gewalt wurden den sprachlichen Ebenen zugeordnet und deren strategisches Potenzial bestimmt.

Dorothe Röseberg (Berlin) behandelte das Thema Kulturmuster als Heuristik zwischen Sprache, Diskurs und sozialer Praxis. Das Beispiel „formation de la raison“. Auf die Chance, aber auch den Zwang zur Wahl im Rahmen einer qualitativ neu entstandenen Freiheit (Peter L. Berger) antworteten im 18. Jh. neue bzw. transformierte Semantiken, Praktiken und Institutionen, die als neue Muster kultureller Ordnungen fungierten und dabei eine mehr oder weniger starke Steuerungsfunktion erhielten. In dem Beitrag wurde das kulturelle Muster „formation de la raison“ (Vernunft- bzw. Verstandesbildung) als ein ebenso neues wie langfristig wirkendes Muster für die Elitenbildung in Frankreich in seiner Entstehungsphase analysiert. Dabei stand die Heuristik des kulturellen Musters im Zentrum, die ihren Kern in einer Kopplung von Konzept und Praxis findet und dabei das Verhältnis von Sprache, Diskurs und sozialer Praxis thematisiert. Die Identifizierung dieses Musters hat insofern eine zentrale Bedeutung als davon auszugehen ist, dass sich dieses Muster (trotz Krisen und Modifikationen) als „stille Matrix“ bis in die Gegenwart verstetigt und habitualisiert hat und als institutionell vermitteltes „normatives Denkmodell“ wirksam ist. Durch diese Reichweite steht es in einem funktionalen (und kontrastiven) Zusammenhang mit dem, was in Deutschland „Bildung“ war. Kulturtheoretisch ist die Heuristik des kulturellen Musters, wie sie hier verstanden wird, ein Versuch, die Dichotomien zwischen einzelnen Kulturverständnissen zu überwinden, die Kultur entweder allein auf der Ebene von Ideen, Symbolen etc., oder allein auf einer sozial praktischen Ebene zu verorten.

Mit der Jahrestagung konnten unterschiedliche Aspekte des Verhältnisses von Sprache, Diskursen und Meinungsbildung beleuchtet und vertieft und Anregungen gegeben werden. Die Beiträge der Jahrestagung werden im Jahr 2023 in den Sitzungsberichten der Leibniz-Sozietät publiziert.

Gerda Haßler