Bericht über die Jahrestagung
Bericht über die Jahrestagung
Entstehung, Wandel und Obsoleszenz von Konzepten und Methoden in Wissenschaft und Forschung
der Leibniz-Sozietät der Wissenschaften zu Berlin e.V.

Die Jahrestagung Leibniz-Sozietät der Wissenschaften zu Berlin e.V. am 21.05.2025 befasste sich mit den dynamischen und oft komplexen Prozessen der Entstehung, des Wandels und der Obsoleszenz von Konzepten und Methoden in Wissenschaft und Forschung. Mit dem Ziel, das Verständnis für diese Mechanismen zu erweitern und zu vertiefen, brachte die Tagung Wissenschaftler aus verschiedenen Disziplinen zusammen, um die Entwicklung und das oft unterschätzte Phänomen des Vergessens innerhalb der akademischen Welt zu untersuchen. Dazu wurde diskutiert, wie historische, soziale und technologische Faktoren die wissenschaftlichen Paradigmen formen und transformieren. Der Schwerpunkt lag nicht nur auf der Feststellung des wissenschaftlichen Fortschritts, sondern auch auf der klaren Differenzierung zwischen evolutionären und revolutionären Veränderungen in der Wissenschaft. Die Tagung beabsichtigte, eine Plattform für den Austausch unterschiedlichster Perspektiven zu schaffen, um zu einem ganzheitlicheren Bild des wissenschaftlichen Wandels zu gelangen. Besondere Aufmerksamkeit galt der Frage: Wie gehen wir mit Wissen um, das als obsolet oder überholt gilt, und welche Rolle spielt dieses Wissen dennoch in der Weiterentwicklung der Wissenschaft?
Zu folgenden Themen fanden Vorträge und Diskussionen statt:
- Die Geschichte des Blutes und der Blutgerinnung
Viktoria Weber bot einen historischen Überblick über die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem Blut und der Blutgerinnung. Sie zeigte, wie sich das Verständnis dieser essentiellen biologischen Prozesse über die Jahrzehnte wandelte und welche Rolle frühere Theorien im modernen Kontext spielen. Durch die Betrachtung früher wissenschaftlicher Irrtümer und deren Widerlegung erschloss sie neue Einsichten in die Geschichtsdynamik der Medizin.
- Von der Phlogiston-Lehre zur Sauerstofftheorie der Verbrennung
Detlev Möller führte uns durch die spannenden Veränderungen der chemischen Theorien, insbesondere den Übergang von der Phlogiston-Lehre zur bahnbrechenden Sauerstofftheorie. Seine Erläuterungen betonten, dass Fortschritt in der Wissenschaft häufig durch die Umwälzung etablierter Konzepte erfolgt und dass das Vergessen alter Paradigmen ein überlebenswichtiger Schritt für die moderne Chemie war.
- Die stufenweise Entstehung wissenschaftlicher Disziplinen am Beispiel der Biochemie
Ekkehard Höxtermann präsentierte anschaulich die facettenreiche Entstehung der Biochemie als eine eigenständige Disziplin. Er unterstrich die Bedeutung der Integration unterschiedlicher Wissensgebiete und beleuchtete, wie Überschneidungen und Transfers zwischen biologischen und chemischen Forschungslinien zur Etablierung neuer Disziplinen beitragen.
- Interdisziplinäre Verwendung und Transfer ökonomischer Termini
Ulrich Busch analysierte die interdisziplinäre Ausbreitung ökonomischer Konzepte und deren Einfluss auf andere Wissenschaftsbereiche. Sein Vortrag verdeutlichte, dass die Dominanz ökonomischer Logik in verschiedenen Disziplinen eine weitreichende Rolle spielt, sowohl als Katalysator für wissenschaftlichen Austausch als auch als Mittel zur Anpassung und Veränderung von Methoden in anderen Feldern.
- Die Ideologen im Frankreich des 19. Jahrhunderts: Vergessen, Obsoleszenz oder stilles Überleben?
Dorothée Röseberg zeigte, wie die Ideologen des 19. Jahrhunderts in Frankreich zwischen Vergessen und stillem Überleben oszillierten. Ihre Analyse offenbarte die Vielschichtigkeit der Geschichte wissenschaftlicher Schulen und die Konstruktion von Vergessen und Verdrängen als dynamische Prozesse innerhalb kultureller und wissenschaftlicher Diskurse.
- Gedanken zur Entstehung der Evolutionären Synthese
Andreas Wessel beleuchtete die Herausforderungen bei der Entstehung einer umfassenden Evolutionstheorie und erkannte William F. Reinig als einen der „verlorenen Architekten“. Sein Beitrag zeigte, wie vermeintlich opake Wissenschaftler durch interdisziplinäre Synthesearbeit entscheidende Strukturen im wissenschaftlichen Diskurs schaffen können.
- Die Auswirkungen von Hevner et al.’s Design Science auf die Entwicklung von Informationssystemen
Christian Stary thematisierte die Rolle der Design Science und deren prägenden Einfluss auf die Entwicklung von Informationssystemen. Er legte dar, dass die Anwendung von Designmethoden nicht nur technologische Innovationen fördert, sondern auch die Art und Weise, wie wissenschaftliche Probleme adressiert werden, grundlegend verändert.
- Epistemologische Reflexionen über das Wissen und seine Verbreitung
Wim Coudenys kritisierte die epistemologischen Verzerrungen im Kontext der Wissenszirkulation und der historiographischen Betrachtung. Durch seine Ausführungen wurde ersichtlich, wie Wissensverbreitung sowohl durch nationale als auch internationale Perspektiven geformt wird, und wie Grenzen und Übernahmen ein hybrides Feld des Wissens schaffen.
- Innovation und Vergessen durch einen Referenztext: der Cours de linguistique générale
Gerda Haßler analysierte die einflussreiche Rolle des Cours de linguistique générale von Ferdinand de Saussure und dessen Effekt auf die Linguistik und den Linguistic Turn. Ihre Untersuchung stellte klar, dass Referenztexte nicht nur innovative Wissensbildungen fördern, sondern auch bestehende Konzepte und Methoden verdrängen können.
- Transdisziplinäre Wanderungen erkenntnistheoretischer Konzepte
Hans-Christoph Hobohm stellte die evolutionären Bewegungen innerhalb der epistemologischen Konzepte vor, insbesondere die Reise von der „Social Epistemology“ zu „Cognition in the Wild“. Dies zeigte, wie wissenschaftliche Theorien durch interdisziplinäre Zusammenarbeit bereichert und gleichzeitig alten Modellen eine neue Plattform gegeben werden kann.
- Verlorenes Wissen aus historischer Perspektive
Toon Van Hal schloss die Tagung mit einer retrospektiven Betrachtung des Wissensverlustes in der Geschichte. Sein Fokus lag auf der Abgrenzung und dem spezifischen Charakter vergangenen Wissens, welches durch sozialen und kulturellen Wandel geprägt wurde und heutzutage neue Fragen zur Informationsvermittlung aufwirft. Anliegen und abschließende Überlegungen.
Die Tagung erweiterte das Bewusstsein für die tiefgreifenden Einflüsse der Innovation, des Vergessens und der Veränderung in der Wissenschaft, und hinterließ bei den Teilnehmenden ein tieferes Verständnis für die Mechanismen von Wissenswandel. Ein zentrales Anliegen war die Förderung eines Diskurses, der vergessene und moderne Konzepte nebeneinanderstellt, um deren Relevanz und Einfluss zu bestimmen. Einige Vorträge überzeugten mit der These, dass das Vergessen nicht als Verlust, sondern als prozesshafte Selektion und Erneuerung verstanden werden sollte, wodurch innovative Ansätze für künftige Forschungsrichtungen angeregt wurden.
Die Tagung bot einen wertvollen Baustein für das Verständnis von wissenschaftlichem Fortschritt und Legitimierung des Vergessens. Diese Impulse könnten die wissenschaftliche Gemeinschaft anregen, über etablierte Konzepte hinauszugehen und obsolet geglaubtes Wissen kritisch zu re-evaluieren. Vor allem in einer zunehmend vernetzten und informationsdichten Welt besteht die Chance, durch die gezielte Wiederaufnahme und Neubewertung vergessener Wissensbestände innovative und vielschichtige Forschungsansätze zu entwickeln. Diese Tagung hat einen wesentlichen Beitrag dazu geleistet, die Bedeutung des Vergessens und die Dynamik der Wissenschaft auf eine breitere Basis zu stellen, sodass sie sowohl vermittelnd als auch innovativ fortgeführt werden kann.
Als Schlusspunkt unterstrich die Tagung die Notwendigkeit, die Innovation, den Wandel und das Vergessen in der Wissenschaft als integrale Bestandteile der Wissensentwicklung und – verdichtung zu verstehen. Sie förderte einen lebhaften Austausch und ermöglichte den Teilnehmern, die Prinzipien der Obsoleszenz kritisch zu reflektieren und die Mechanismen der wissenschaftlichen Revolution detailliert zu begreifen. Es bleibt zu hoffen, dass die gewonnenen Erkenntnisse und Perspektiven für weitere Dialoge innerhalb der wissenschaftlichen Gemeinschaft genutzt werden, um bestehende Forschungspraktiken zu hinterfragen und zu erweitern. Durch diesen produktiven Diskurs wird das Fundament für innovative wissenschaftliche Entwicklungen gelegt, die auf einem nuancierten Verständnis von konzeptionellen und methodologischen Transformationsprozessen basieren.
G.Haßler