Bericht über die Jahrestagung der Sozietät am 11. April 2024

Bericht zur Jahrestagung der Leibniz-Sozietät der Wissenschaften zu Berlin e.V.

Kant und die Rezeption der Aufklärung

und zur Gründung des Arbeitskreises Wissenschaftsgeschichte

Auditorium der Jahrestagung 2024

Am 11. April 2024, 13 bis 19 Uhr fand im Rathaus Friedrichshagen aus Anlass des 300. Geburtstages Immanuel Kants (22. April 1724–12. Februar 1804) die Jahrestagung 2024 zum Thema Kant und die Rezeption der Aufklärung statt. Die Präsidentin begrüßte die etwa 40 in Präsenz teilnehmenden und 15 per Zoom zugeschalteten Teilnehmer. Diese Jahrestagung war nicht einfach eine weitere unter den vielen Kant-Veranstaltungen, die in diesem Jahr anlässlich des 300. Geburtstags von Immanuel Kant stattfinden. Es ging um die Rezeption seiner Ideen, unter so verschiedenen Bedingungen wie der Wendung, die des Erbe Kants in Martin Heideggers einflussreicher Kritik am Humanismus erfuhr, dem Widerstreit um Frankreichs Revolution oder der DDR-Philosophie, aber auch um die sehr unterschiedliche Rezeption Kants in einigen Wissenschaften. Das Thema der Jahrestagung war ein wissenschaftshistorisches und es gab keinen besseren Anlass, um den Arbeitskreis für Wissenschaftsgeschichte zu gründen.

Mit seiner 1781 erschienenen Kritik der reinen Vernunft revolutionierte Kant die Auffassung von der menschlichen Erkenntnis. Die mit der kritischen Philosophie erreichten Innovationen umfassen zum Beispiel die synthetische Erkenntnis a priori, den transzendentalen Idealismus, den Grundsatz der Kausalität, den kategorischen Imperativ als Prinzip moralischen Handelns und die Zweckmäßigkeit als Prinzip der reflektierenden Urteilskraft. Der Kritik der reinen Vernunft folgten weitere wichtige Werke wie die Metaphysischen Anfangsgründe der Naturwissenschaft (1786), die Kritik der praktischen Vernunft (1788) und die Kritik der Urteilskraft (1790). Die Konsequenzen dieser drei Kritiken für die Wissenschaften zu behandeln, wäre freilich eine Aufgabe, die eine halbtägige Jahrestagung weit überschreiten würde, der wir uns aber zumindest ansatzweise widmen sollten.

Heiner F. Klemme (Halle-Wittenberg)

In der Berlinischen Monatsschrift von Dezember 1784 hat Kant die Frage „was ist Aufklärung“? mit einer seither immer wieder zitierten Antwort bedacht: „Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbst verschuldeten Unmündigkeit. Unmündigkeit ist das Unvermögen sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen.“ Die Aufforderung zum Selbstdenken genügt insofern nicht, als sich viele zwar auf dem Weg zur Mündigkeit befinden, dabei aber – wie Kant es sagte – noch keinen „sicheren Gang tun“ und mangels Übung bei dem Versuch des Selbstdenkens Fehler machen. Die Metapher der Mündigkeit weist darauf hin, dass das Ich des Bürgers nun selbst gefordert ist und für sein Tun und Nichttun verantwortlich ist. Auch heute kommt es vor, dass ein Sich Befreien von vorgegebenen Meinungen durch Selbst-Denken Gefahr läuft, auf andere vereinfachende Vorgaben hereinzufallen. Die Welt ist komplexer geworden, auch wenn sich bestimmte Muster aus der Zeit Kants wiederholen.

Kein anderer Text Kants steht heute mehr im Mittelpunkt des öffentlichen Interesses als sein Entwurf zum ewigen Frieden (1795). Kant entwickelte die Idee der menschlichen Geschichte als eines stetigen Fortschritts, der zwar von Rückschlägen unterbrochen ist, aber in einer globalen Weltfriedensordnung zwischen demokrati­schen und liberalen Rechtsstaaten ankommt. In seinem Entwurf Zum ewigen Frieden erwartet er, dass sich Fortschritte zunächst aus Eigeninteresse ergeben werden, weil die Folgen des Krieges zu grausam sind. Das kleine Buch erregte bei seinem Erscheinen großes Aufsehen, im revolutionären Paris kam es sogar in Raubdrucken in Umlauf. In Deutschland geriet es jedoch zu Beginn des 19. Jahrhunderts schnell in Vergessenheit und galt bis zum Ersten Weltkrieg als weltfremde Träumerei. Dass Kant möglicherweise so etwas vorausgesehen hat, deutet der Beginn seines Entwurfs zum ewigen Frieden an. Er begann mit einem ironischen Bild, dem Schild eines holländischen Gasthauses, auf dem ein Friedhof und die Inschrift „zum ewigen Frieden“ gemalt sind. Er lässt explizit offen, ob diese Ironie auf die Menschen allgemein, die nie des Krieges müden Staatsoberhäupter oder die vom Frieden träumenden Philosophen bezogen sei. Der wahre Friede ist für ihn jedoch nicht der des Friedhofs, sondern er müsse durch die Gründung eines weltweiten „gesetzlichen Zustands“ herbeigeführt werden. Die mit dem Krieg – auch dem Verteidigungskrieg – einhergehende Zerstörung stiftet nach Kant keinen Frieden.

Hermann Klenner (MLS)

Über den Inhalt der einzelnen Vorträge sei hier nur kurz berichtet. Die Abstracts und die Informationen zu den Referenten sind unter https://leibnizsozietaet.de/kant-und-die-rezeption-der-aufklaerung-jahrestagung-der-leibniz-sozietaet-der-wissenschaften-zu-berlin-e-v/#more-28398 zu finden. Außerdem wird die Publikation der Beiträge noch in diesem Jahr erfolgen.

Heiner F. Klemme (Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg) sprach über Humanität und Selbstherrschaft, Mündigkeit und Selbsterhaltung und behandelte damit Begriffe, die nach Kant den Grund und das Ziel unseres ethischen und rechtlich-politischen Handelns konkretisieren. Danach stellte er Martin Heideggers einflussreiche Kritik am Humanismus vor, mit der er sich unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg gegen das Erbe der Aufklärung wendete und seine Negation von Philosophie, Ethik und Wissenschaft in den Dienst einer Politik der Unmündigkeit stellte. Gerade die Auseinandersetzung mit Heidegger zeigt, dass Kants Philosophie der Selbsterhaltung der Vernunft nichts von seiner Aktualität verloren hat.

Hermann Klenner (MLS, Berlin) hatte seinen Beitrag unter das Thema Kant im Widerstreit gestellt und er bezog sich dabei auf die beiden von ihm im Akademie-Verlag herausgegebenen Editionen Kant, Rechtslehre. Schriften zur Rechtsphilosophie (Berlin 1988) und Burke/Gentz, Über die Französische Revolution (Berlin 1991). Der in Fortführung der Gedanken von Spinoza und Rousseau von Kant erhobene „Rechtsanspruch der Menschenvernunft auf Freiheit des Willens“, musste mit den bestehenden deutschen Zuständen kollidieren.

Hans-Christoph Rauh (Berlin)

Hans-Christoph Rauh (Berlin) stellte die Schwierigkeiten der nachkriegszeitlichen marxistisch-leninistischen DDR-Philosophie des dialektischen und historischen Materialismus mit der Anerkennung Kants dar. Trotzdem wirkte Kant wie kein anderer Mitbegründer der klassischen deutschen (immer nur „bürgerlich-idealistisch“ genannten) Philosophie aufklärerisch-kritisch in die DDR-Philosophie hinein, wenn auch das zumeist nur „persönlich“ eingeschränkt, also bildungs- und philosophiegeschichtlich geschah und nachweisbar ist.

In den folgenden drei Beiträgen ging es um die Rezeption Kants in einzelnen Wissenschaften.

Gerda Haßler (Universität Potsdam, MLS) stellte dar, wie Kants transzendentale Philosophie zur Herausforderung für die bislang vor allem an Zeichenmodellen orientierten Sprachtheorien wurde. Einige Antworten der Sprachtheorien auf diese Herausforderung wurden behandelt, so die Preisfrage der Berliner Akademie zum Ursprung unserer Erkenntnis, Herders Metakritik zur Kritik der reinen Vernunft sowie Versuche einer Neubegründung der allgemeinen Grammatik aus der transzendentalen Logik Kants.

Annette Vogt (MLS)

Annette Vogt (Berlin, MLS) stellte aus Archivstudien gewonnene Erkenntnisse zu Promotionen zwischen 1895 und 1933/36 an der Philosophischen Fakultät der Friedrich-Wilhelms-Universität Berlin vor, zu der bis zur Trennung 1936 die Mathematik und die Naturwissenschaften gehörten. Die Promotionsthemen im Hauptfach Philosophie wurden vorgestellt und mögliche Einflüsse bzw. Beschäftigung mit Kant abgeleitet.

Der Beitrag von Ulrich Busch (MLS, Berlin) wurde von Dorothée Röseberg verlesen. Er behandelte die unterschiedlichen Antworten Kants, Fichtes und Goethes auf die Frage nach der Funktionalität des Geldes. Obwohl Kant kein ökonomisches Werk hinterlassen hat, erfasste er die zentrale Bedeutung der Ökonomie einschließlich ihrer monetären Dimension in den 1790er Jahren ebenso wie ihre praktischen Konsequenzen. Der Position von Kant wurde die gänzlich andere Behandlung des Geldes bei Fichte und in Goethes in seiner Faust-Dichtung gegenübergestellt.

Dorothée Röseberg (MLS) verliest den Beitrag von Ulrich Busch (MLS)

Wenn wir heute nach der Aktualität der Ideen von Kant im 21. Jahrhundert fragen, gibt es sicher viele Antworten. Zu diesen gehört die Art zu Weise, wie er scheinbar unvereinbare Gegensätze miteinander vermittelte. Dazu gehört die Kombination von anthropologischem Realismus und höchstem moralischen Anspruch, die Kants Schriften über Politik und Geschichte durchzieht. Recht und Frieden steht die menschliche Neigung zu Vertragsbruch und Gewalttätigkeit entgegen. Der Realist Kant machte sich keinerlei Illusionen über die moralischen und sozialen Qualitäten der Menschen. Zugleich stellte er fest, dass Politik unter dem moralischen Anspruch steht, Recht und Gerechtigkeit vollständig und ohne Einschränkungen zu realisieren und den Frieden dauerhaft zu sichern. Das Ergebnis der französischen Revolution, Demokratie, Republik und Volkssouveränität, schätzte er, den revolutionären Weg dahin sieht er jedoch als nicht rechtmäßig an. Kant vermittelte auch zwischen der menschlichen Vernunft und der Einsicht in ihre Grenzen: Die Vernunft ist fehlbar und unser Wissen ist begrenzt aber wir müssen daraus nicht schließen, auf rationale Einsicht und begründetes Wissen zu verzichten, sondern stattdessen die Grenzen unserer Vernunft und unserer Wissensansprüche anerkennen und erweitern. Der kategorische Imperativ, dass man nur nach solchen Regeln handeln soll, die auch für alle anderen gelten können, verankert unser Wollen und Handeln in der Vernunft.

Gerda Haßler (MLS)

Kants Name ist untrennbar mit seiner Antwort auf die Frage „Was ist Aufklärung“ verbunden. Sein sapere aude ist jedoch bis heute aktuell geblieben. Kant betonte in einem Zeitalter der Aufklärung, jedoch noch nicht in einem aufgeklärten Zeitalter zu leben. Diese Feststellung könnte bis heute Gültigkeit haben.

Zum Abschluss der Jahrestagung wurde der Arbeitskreis Wissenschaftsgeschichte gegründet, in dem die zahlreichen und vielfältigen wissenschaftshistorischen Aktivitäten von Mitgliedern der Sozietät zusammengeführt werden sollen. Die Beteiligung an dem Arbeitskreis steht allen Mitgliedern offen, die sich für Wissenschaftsgeschichte interessieren. Es bestehen keine fachlichen oder chronologischen Grenzen, d.h. Naturwissenschaften, Sprachwissenschaften sind ebenso willkommen wie Technikwissenschaften, Sozial- und Kulturwissenschaften, Kollegen, die zu Gelehrten der Antike arbeiten, bis hin zu zeitgeschichtlichen Themen. Über die Intensität und den Umfang der Beteiligung entscheidet jeder einzelne selbst. Der Arbeitskreis wird von Gerda Haßler und Ekkehard Höxtermann geleitet, die demnächst zu einem ersten Treffen einladen werden.

Gerda Haßler

(Fotos: G.Pfaff)