AK Gesellschaftsanalyse: Bericht zur Sitzung am 9.2.2024

Kurzbericht zur Diskussion des Arbeitskreises „Gesellschaftsanalyse“ der Leibniz-Sozietät am 9. Februar 2024.

In seiner thematischen Reihe „Zeitdiagnosen: Gesellschaften im Umbruch – Analysen und transformatorische Chancen“ führte unser Arbeitskreis zum angeführten Termin eine Buchvorstellung und Diskussion durch zu Wolfgang Streeck: Zwischen Globalismus und Demokratie. Politische Ökonomie im ausgehenden Neoliberalismus. Berlin: Suhrkamp 2021.

Als interessant und weiterführend mit Blick auf Zeitdiagnostik und Problembeschreibung erschien den Organisatoren zudem die Hinzuziehung einer weiteren Schrift – Die Ökonomie des Alltagslebens. Für eine neue Infrastrukturpolitik. Berlin: Suhrkamp 2019. Denn diese Schrift war von Wolfgang Streeck für die deutsche Ausgabe eingeleitet worden und stand unmittelbar im zeitlichen Zusammenhang mit der erstgenannten Publikation. Das versprach Anregungen, zumal es zu beiden Ausarbeitungen bereits eine breitere Diskussion in Deutschland gibt, die sich in wesentlichen Aspekten ihrer Einschätzungen zu den jeweils vorgeschlagenen Wegen aus einer fehlgesteuerten Globalisierung unterscheiden.

Für die Diskussion am 9. Februar waren zusätzlich zur Einladung Textauszüge aus der Publikation von Streeck sowie einführende Bemerkungen von Ulrich Busch zu Wolfgang Streeck und von Michael Thomas zur Fundamentalökonomie verschickt worden. Auf Grund von Erkrankungen, einzugehender Ferienverpflichtungen und auch verkehrstechnischer Probleme blieb die Teilnahme deutlich eingeschränkt. Zudem war einer der Diskutanten (Ulrich Busch) erkrankt. An der Diskussion nahmen schließlich neun Personen teil.

Gestützt auf die vorliegenden Publikationen und die angeführten Ausarbeitungen nahm Michael Thomas zunächst zu beiden Publikationen jeweils eine ausführliche Einführung vor. Dabei ging er auf vorliegende Rezeptionen ein und machte insbesondere die Unterschiede beider Ausarbeitungen deutlich. Die damit verbundene gewisse Überraschung einer Einleitung der Fundamentalökonomie durch Wolfgang Streeck konnte aufgeklärt werden (J. Dellheim): Es war das Kollektiv dieser Ausarbeitung zur Fundamentalökonomie selbst (Wirtschafts- und Sozialwissenschaftler vor allem aus Großbritannien und Italien), welches Wolfgang Streeck um die Einleitung gebeten hatte. Anlass war dessen Buch „Gekaufte Zeit“.

Diese enge Bindung erschien eben deshalb als überraschend, weil die übergreifende, sehr zugespitzte Orientierung von Streeck auf einen Rückzug aus der Globalisierung und das Votum für Klein- und Nationalstaaten in dieser Radikalität nicht für das Konzept der Fundamentalökonomie steht. Und genau an diesem Unterschied machen sich auch viele der Rezeptionen in Deutschland fest: Während die vehemente Globalisierungskritik, die dann vor allem zu einer sehr harschen Kritik an der Europäischen Union wird, überwiegend eine deutliche Ablehnung erfährt, lässt sich für das Konzept der Fundamentalökonomie von einer breiten, aktiven anwendungsorientierten Rezeption sprechen.

Sowohl die umfangreiche Publikation von Streeck wie die zur Fundamentalökonomie lassen sich hier nicht referieren. Systematische konzeptionelle Aspekte von Kapitalismus- oder Demokratieanalyse spielten ebenso keine Rolle wie das für die weiterführenden Anwendungsfragen geht. Entsprechend der Orientierung auf Zeitdiagnose sollen nur einige Diskussionspunkte gerade mit Blick auf Weiterführendes aufgezeigt werden. Es geht um die Einschätzung von Trends der Globalisierung und Regionalisierung, nicht deren eigenständige Bearbeitung.

Die Diskussion in den knapp drei Stunden bewegte sich im Spannungsfeld der beiden Publikationen, konnte dieses aber weitgehend nur aufmachen. Die Diskussion war auf die Publikation von Streeck konzentriert. Den größten Raum, so auch mit der Einsteuerung durch Michael Thomas und das Diskussionspapier von Ulrich Busch, nahm eine Verständigung zur Zeitdiagnose ein.

Das Buch versteht sich als Zeitdiagnose in direkter Tradition zu Karl Polanyi. Hatte Streeck vor Jahren noch den aufbrechenden Zusammenhang von Demokratie und Kapitalismus thematisiert, so diagnostiziert er nunmehr Scheitern bzw. endgültigen Bruch. Der Siegeszug einer sich seit etwa 2008 ausbreitenden neoliberalen Globalisierung (einer Hyperglobalisierung) ist Ursache dafür. Denn im Siegeszug selbst, im „globalistisch-neoliberalen Gesellschaftsentwurf“ ist notwendigerweise das Scheitern angelegt: Gesellschaftliche Institutionenlogik und kapitalistische Akkumulationslogik „passen nicht“. Dem Zusammenbruch der Demokratie würde so auch der der Wirtschaft folgen. Und vor allem die Europäische Union eine Ausdrucksform für diesen Globalismus. Die EU gilt Streeck als „scheiterndes Imperium“ und steht da „als weltregionale Erscheinungsform einer allgemeinen Transformationskrise“.

Diese allgemeine Transformationskrise (in dem Fall die Hyperglobalisierung) geht in ihren allgemeinen Beschreibungen mit vielen anderen Beschreibungen, die bereits im Arbeitskreis mit den anderen Publikationen diskutiert wurden, konform. Streeck liefert weitere anregende Befunde, die Zeitdiagnose verdichtet sich. Zutref-fend wird auf Sackgassen strategischer Bearbeitung (Technokratie), aufbrechender Konsequenzen (Populismus) oder die vorangetriebene Militarisierung der EU ver-wiesen. Dennoch wurde hinsichtlich der Substanz der umfänglichen Ausführungen eher Enttäuschung ausgedrückt und gab es zu einigen der Einschätzungen Kritik. Einmal bezog sich diese auf den vom Autor unterstellten Siegeszug des Neoliberalismus und dessen zwangsläufigem Ende, ersichtlich in der Zerstörung von Demokratie und Wirtschaft und einer so neuen offenen Konstellation (Interregnum). Dem wurden Beispiele für anhaltende neoliberale Trends selbst im Rahmen multipolarer Organisationen entgegengehalten. Auf weitere wurde verwiesen. Vielleicht ein zu einfacher Ausweg? Vielleicht folgt dieser aus einem zweiten Punkt, der kritisch benannt wurde: Bereits die Art der Fragestellung von Streeck scheint zu wenig zwischen den konkreten Formen von Demokratie auf nationaler Ebene und möglichen (oder kritischen) Umsetzungen auf globaler Ebene zu unterscheiden. Sie geht damit weder auf die immanente Inkongruenz von Demokratie und Kapitalismus ein (was für den von ihm herangezogenen Karl Polanyi eine Selbstverständlichkeit war), noch nimmt sie die erforderlichen Inkongruenzen zwischen den Ebenen (lokal, regional / global) auf – in gewisser Hinsicht ist die negative Antwort mit der Frage vorgegeben. So wurde ein eher problematisches Institutionenkonzept ebenso moniert wie auf konzeptionelle Leerstellen (etwa hinsichtlich einer zu berücksichtigenden „bounded rationality“) verwiesen wurde.

Wie auch immer, seinem „Ausweg nach unten“, seiner Kampfansage an Globalisierung im Allgemeinen und die Europäische Union im Besonderen wurde kaum gefolgt. Der „Nationalstaat als Arena demokratischer Politik im Kapitalismus“ scheint so weniger einfach herstellbar wie überhaupt so zutreffend charakterisiert. Zwar sind konkrete Antworten auf eine zum großen Teil auch von Streeck berechtigt und zutreffend geübte Kritik an Gestalt und dem Agieren der EU nur sehr schwer zu finden (und vor allem durchzusetzen!), zwar muss man die Überlegungen zu einer neuen kooperativen Staatenordnung nicht generell ablehnen – mit einer totalen Kritik an der EU bzw. mit der Forderung ihrer Auflösung (für welche etwa der Brexit als gelungener Ausweg gelten soll) muss all dies nicht verbunden sein. Eine Zukunftsperspektive und so Baustein transformatorischer Konzepte ist das, so weitgehend Konsens in der Diskussion, ebenso wenig.

Genau dies ist, auch wenn die Kritik an neoliberaler Globalisierung und die an europäischer Politik kaum weniger stark gemacht wird, nicht der Kern der Ausarbeitung einer Gruppe von europäischen Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlern zur Fundamentalökonomie in der angeführten Publikation. Ihnen geht es darum, für einen bestimmten Bereich erforderlicher regionaler Infrastrukturen (Formen der Daseinsvorsorge), die so elementar und alltäglich wie eben fundamental sind, hinreichende wirtschaftliche Gestaltungsmöglichkeiten zu erhalten bzw. vor allem neu zu erschließen: denn im neoliberalen Privatisierungswahn erfolgte – Musterbeispiel ist ihnen Großbritannien – eine „Zertrümmerung der Fundamentalökonomie“. Soweit nochmals die gefestigte Zeitdiagnose.

Auf einer regionalen oder lokalen Ebene, so der konzeptionelle Kern, ist eine Art von Ökonomie erforderlich (eben als eine fundamentale Ökonomie) und möglich, die nicht in globaler Abhängigkeit stehen muss und so vor einer solchen geschützt werden sollte. Globalismus und Privatisierungswahn ist Einhalt zu gebieten. Damit aber werden Bereiche oder Formen der Ökonomie, die sich im globalen Zusam-menhang bewegen und entwickeln sollten, nicht negiert. Es geht um Balancierung, und gerade für die Bewältigung von Zukunftsfragen (etwa ökologische Perspektiven) ist eine lokale Ökonomie zu erhalten.

Dies konnte nur kurz diskutiert werden; auch auf die Fülle von Beispielen und Zusammenhängen (zu anderen Formen und Praxen einer „heterodoxen Ökonomie“) konnte nicht näher eingegangen werden. Und bei weitgehender Akzeptanz – hinsichtlich einer tatsächlich überzeugenden Einarbeitung von Beispielen aktiver Bürgerpartizipation, ohne welche eine solche zukunftsorientierte regionale Infrastrukturpolitik nicht zu haben ist, wurden eher kritische Anmerkungen gemacht. Gerade hier ist vieles auch keinesfalls neu, ist ein eher „wunder Punkt“ vieler vergleichbarer Projekte und Ansätze benannt. Dafür wurden in der Diskussion einige Beispiele gebracht. Zugleich aber ist das auch ein „offener Punkt“ und Impuls für weiterführende Überlegungen, worauf ebenso die erwähnte Rezeption hinweist: Anders wird es kaum gehen. Sowohl dem blockierenden Populismus auf lokaler Ebene wie dem abschottenden Rückzug in nationalstaatliche Residuen sind Perspektiven lebenswerter Regionalisierung entgegenzusetzen. Nur so ist wäre Globalisierung offen zu halten, mit Blick auf die unterschiedlichen Regionen. Dafür ist anregender Stoff gegeben.

Die nächsten Termine sind gesetzt, die Themen vorgeplant:
Am 10. 5. wird Dieter Segert einen thematischen Block „Kultur und moralisierende Weltsichten als Kriegstreiber in Russland und bei uns“ vorbereiten und dazu einsteuern. Eine konkrete Einladung und Materialien werden noch verschickt.
Ähnlich verfahren wir für unsere Sitzung am 13.9. zum Themenbereich “Informationalismus”. Deren Vorbereitung hat dankenswerterweise der Kollege Hans-Christoph Hobohm übernommen.