„Zeitdiagnosen: Gesellschaften im Umbruch – Analysen und transformatorische Chancen“
Kurzbericht zur Sitzung des Arbeitskreises Gesellschaftsanalyse am 24.11. 2023
Mit der Sitzung am 24.11. 2023 wurde das erste Jahr in der neuen Thematik „Zeitdiagnosen: Gesellschaften im Umbruch – Analysen und transformatorische Chancen“ und dem neuen Format (Buch-, Textvorstellungen) abgeschlossen. Um diesbezüglich ein Fazit voranzustellen: Feedback im Arbeitskreis wie eine Verständigung in der Organisationsgruppe am 13.12. zeigen, dass sich die eingeschlagene Vorgehensweise bewährt, als tragfähig erwiesen hat. Insofern sind für 2024 nur kleinere Modifizierungen vorgesehen. Möglicherweise lassen sich auf Basis eines vereinbarten einheitlichen Analyserasters jeweils zwei Texte mit einem deutlichen inhaltlichen Zusammenhang vergleichend diskutieren. Das soll in der Zusammenkunft am 9. Februar erprobt werden. Die Orientierung an konkreter Textdiskussion als Beispiel für breitere Diskussionsfelder bleibt leitend.
Die knapp dreistündige Diskussion am 24.11. mit vierzehn Teilnehmenden hatte das Buch von
Jeremy Rifkin: Das Zeitalter der Resilienz. Leben neu denken auf einer wilden Erde, Campus 2022
zur Grundlage. Vorab waren Leseproben aus dem Buch (Einleitung) sowie eine ausführliche Interpretation und Diskussion des Textes (Verfasser: Frank Adler) verschickt worden. Der Text liegt somit als weiterführendes Material vor. Hingewiesen wurde vorbereitend zudem auf eine Reihe von Rezensionen.
Nachvollziehbar handelt es sich bei dem Buch von Jeremy Rifkin wiederum um eine viel beachtete und bereits inhaltlich (etwa hinsichtlich der Diskurse zu Anpassung bzw. Resilienz) rezipierte Publikation. Rifkin ist ein eindrucksvoller und politisch wie öffentlich wirksamer Intellektueller (mit eigenen „Think Tank“, dem beachtliches analytisches Material zu verdanken ist). Frühere Arbeiten von ihm hatten wir beispielsweise in einer Publikation des Arbeitskreises (Digitalisierung und Transformation) aufgegriffen. Mit dieser waren Erwartungen geweckt, die die Textauswahl unterstützten. Das vorliegende Buch geht hinsichtlich analytischer Breite und Differenziertheit über das erwähnte (Die Null-Grenzkosten-Gesellschaft) hinaus. Einschlägiger Beleg dafür sind Ausführungen zu den zentralen, als „Internet der Dinge“ konzipierten Infrastrukturen wie Energie, Kommunikation und Transport, mit denen sich die angestrebte paradigmatische Umstellung der Grundlagen gesellschaftlicher Entwicklung (eine „Resilienzrevolution“ als Übergang zur resilienten Gesellschaft) verbinden soll. Für die einzelnen Netze bzw. Infrastrukturen und deren Zusammenwirken gibt es anregende Beispiele.
Hier und mit verschiedenen anderen Überlegungen zu konkreten Zukunftsprojekten des neuen Zeitalters geht Rifkin deutlich über bisher Diskutiertes hinaus. Zugleich gibt es thematische Anschlüsse an Nancy Fraser mit dem Kern von Gesellschafts- bzw. Kapitalismusanalyse (bildlich bei Rifkin als die „neue Dreifaltigkeit“ von Naturwissenschaft, Technologie und Kapitalismus) und an Andrea Komlosy vor allem auch mit den umfassenden Untersuchungen zur Digitalisierung. Betrifft das bei Nancy Fraser eben die Selbstzerstörungsdynamik des Kapitalismus (Kannibalisierung versus Hypereffizienz), so bei Andrea Komlosy die vertiefenden Darstellungen zum Cyberkapitalismus mit seiner Kommodifizierung von „Leib und Hirn“. Rifkin führt dies fort zum Prozess einer umfassenden „Gamifizierung“. In jedem Fall sind erhebliche gesundheitliche, psychosoziale Folgeprobleme auszumachen. Mit diesen Anschlüssen lassen sich relevante Zugänge aufzeigen zu übergreifenden Diskurslinien und weiter zu bearbeitenden Fragestellungen. Beschreibungen wie Begrifflichkeiten schließen an kritische Zeitdiagnosen an, die zerstörerische Trends der Moderne diagnostizieren und damit verbundene Erfahrungen. Für Rifkin begründen die Analysen eine erforderliche und sich durchsetzende Änderung des gesellschaftlichen Entwicklungsmodus‘, einer erforderlichen Neuordnung der Zivilisation: Von Fortschritt zu Resilienz, vom Modus der Effizienz zu dem der Anpassung. Keinesfalls also handelt es sich um eine Endzeitdiagnose, vielmehr gilt: „Leben neu denken auf einer wilden Erde“.
Auch wenn diese Begrifflichkeiten nicht gerade eindeutig sind bzw. verwendet werden und so Interpretationsspielraum geben – was im Arbeitskreis Anlass war zu ausführlicheren Diskussionen, so etwa zum Fortschrittsbegriff, zum Demokratiekonzept und vor allem zu dem der Resilienz war –; dem Autor dienen sie als Raster für die weltgeschichtlichen Interpretationen und als Leitbegriffe der paradigmatischen Brüche. Darauf ist Frank Adler sowohl in der verschrifteten Vorlage als auch konzentriert in seiner Einführung am 24. 11. eingegangen.
Vielfalt und Komplexität der Untersuchungen sind beeindruckend – etwa mit Blick auf die historischen Darstellungen, so zu den widersprüchlichen Trends in frühen Zivilisationen oder zu den sich erst mit dem Kapitalismus (dem „Zeitalter des Fortschritts“) konsequent herausbildenden Vorstellungen von Zeit und Raum. Originell und illustrativ ist dabei die Parallelisierung der Genese dieses Zeitalters mit der Beulenpest im 14. Jahrhundert, die gleichsam Katalysator ist für den Bruch zur Moderne. Einen ähnlichen Status erhält für die aktuellen Prozesse die Coronapandemie. Detailliert aufgezeigt werden verschiedene naturwissenschaftliche oder technologische Entwicklungen, eine umfassende Kritik erfährt aus Sicht der ökologischen Problematik die herkömmliche Wirtschaftstheorie. Vor allem belegen solche Entwicklungen und Trends eine für diese Moderne (das Zeitalter des Fortschritts) ebenso charakteristische wie zerstörerische Weltsicht: Naturbeherrschung, Effizienz, ja Hypereffizienz. Es sind die grundlegenden und widersprüchlichen Entwicklungsprozesse dieses Zeitalters, die zwingend zur Naturzerstörung und zur Zerstörung der Gesellschaft führen. Angeführt werden sowohl die Ausbreitung tayloristischer Prinzipien in hochmodernen Bereichen (Amazon) wie eben die vielfältigen gesundheitlichen Folgen umfassender Digitalisierungen. Um deren Verteufelung geht es Rifkin allerdings nicht. Digitalisierung und das „Internet der Dinge“ sind ihm eben technologische Stellschrauben wie Grundlagen der neuen Welt – unter den Voraussetzungen einer „Resilienzrevolution“.
Damit verbindet der Autor Prognosen zu Grundtrends des einsetzenden Paradigmenwechsels gesellschaftlicher Entwicklung; Rifkin schließt anbekannte Positionen aus früheren Publikationen (Null-Grenzkosten-Gesellschaft) an. Auch wenn diese Trends jetzt weit differenzierter dargestellt und mit neuem empirischem Material untersetzt werden, es bleiben offene Fragen und einige kritische Punkte. Seine angeführten Beobachtungen etwa über einen (progressiven) Einstellungs- und Bewusstseinswandel, wobei die „Digital Natives“ zugleich Opfer wie Träger sind. Nicht frei ist Rifkin auch in dieser neuen Publikation von deterministischen Kurzschlüssen hinsichtlich der Wirkung neuer Technologien. Seine Einschätzungen zu Pilotprojekten im Rahmen „bioregionaler Ordnungen“ oder in Richtung einer Bürgerdemokratie (Peerocracy) setzen zwar positive Orientierungspunkte für einen Paradigmenwechsel. Sie wirken aber angesichts einer deutlichen Schwäche hinsichtlich der Analyse gesellschaftlicher Verhältnisse, Konflikte und damit möglicher Akteure der Veränderung gelegentlich abgehoben und konstruiert. Den Ansatzpunkten paradigmatischer Umstellung gesellschaftlicher Entwicklung, sei es mit Blick auf Alltagskultur oder auf Wissenschaft, sei es mit dem Ziel, den Menschen wieder in die Natur (als seine Heimat) zurückzubringen und statt individueller Autonomie ihn zu sozialer Teilhabe anzuhalten und die emotionalen Voraussetzungen von Teilhabe und so eben auch Bürgerdemokratie zu stärken, lässt sich viel abgewinnen. Wie aber kann das gelingen? Hinsichtlich erforderlicher Praktiken erscheinen andererseits einige konkrete Erwartungen in die amerikanische Politik, für die der Autor (auch im Umfeld des jetzigen Präsidenten) aktiv ist, eher überzogen, gelegentlich erstaunlich optimistisch. Das wurde für verschiedene Punkte im Arbeitskreis hervorgehoben bzw. kritisch diskutiert. Es kann zwar dahingestellt bleiben, ob ein bewusstes Überziehen von positiven Trends zum eingesetzten Erfolgsrezept des Autors gehört, auszuschließen ist es nicht. Die Analysen, die hier nur angerissen werden konnten, muss das nicht schmälern, aber letztlich fehlt so den detailreichen Beschreibungen zu favorisierender Trends zukunftsfähiger Entwicklung und dem optimistischen Grundton ein überzeugendes Narrativ. Gesellschaftliche Alternativen verbleiben eher in Facetten und Appellen. Hier hilft der schillernde Resilienzbegriff wenig.
Insofern muss gerade für diesen, wie es in der Diskussion geschah und sich auch vielfach in der Rezeption findet, noch einmal auf eine unvermeidliche Ambivalenz hingewiesen werden. Sowohl die disziplinäre Herkunft dieses Begriffs (etwa auf der Psychologie) wie vor allem seine praxisorientierte Ausarbeitung und Verbreitung im Militär setzen zweifellos für kritische Gesellschaftsanalysen einige Grenzen. Zudem gibt es in solchen Analysen nicht wenige Beispiele dafür, dass Resilienz einseitig als Modus von Anpassung und Bewahrung verstanden wird. Bei Rifkin ist es der Übergang von der Herrschaft über die Natur zur Anpassung an die Natur. Das schließt gerade nicht aus – und darauf zielt ja auch der Autor ab –, dass erforderliche Bewahrung zugleich Voraussetzung ist für transformative Öffnung. Dann aber müsste wohl zugleich der Begriff des Fortschritts zur Diskussion gestellt, nicht aber mit der Unterstellung einfacher Linearität einem zu überwindenden Zeitalter zugeschrieben werden. Diesbezüglich bleibt der Autor eher schematisch und wirkt die Konzeptualisierung halbherzig (näher dazu auch Adler).
Man wird wohl nicht das eine Buch finden, dass unsere Zeit hinreichend auf den Begriff zu bringen vermag. Insofern kann man auch für das hier vorgestellte Buch die Herausforderung eher im zweiten Teil des Titels sehen und im ersten Teil vielfach noch einzulösende Anregungen. Solche liefert Rifkin aber hinlänglich für das „Zeitalter der Resilienz“. Die Diskussion bleibt offen.
Michael Thomas