Nekrolog auf unser Mitglied Prof. Dr. Luan A. Starova

Luan A. Starova (14. 08. 1941 – 24. 02. 2022) (Foto: D.Linke 2016)

Die Leibniz-Sozietät der Wissenschaften zu Berlin e.V. trauert um ihr Mitglied, Prof. Dr. Luan A. Starova, der am 24. Februar 2022 gestorben ist.

Prof. Dr. Luan A. Starova, Mitglied der Makedonischen Akademie der Wissenschaften und Künste (MANU) ab 2003 und Mitglied der Leibniz-Sozietät der Wissenschaften zu Berlin e. V. seit 2016 wurde am 14. August 1941 im albanischen Pogradec am Ochridsee geboren. Er wuchs in einem Gebiet mit einer Jahrtausende alten kulturellen Tradition auf, in einem Völkergemisch, das einerseits friedlich, tolerant und einverständlich miteinander zusammenlebte, das aber andererseits auch Hass und Bruderkriege, Flucht und Vertreibung kannte. Wie kein anderer verkörperte er das Besondere, fast Undefinierbare der balkanischen Region mit ihren ethnischen wie sprachlichen Verzweigungen und den hier liegenden Wurzeln europäischer Zivilisation. Das politische und persönliche Schicksal sollte den Albaner Starova, der aus einer Großfamilie mit türkischem und jüdisch-sephardinischem Hintergrund stammte, durch die Flucht aus Albanien nach Makedonien inmitten einer slawisch dominierten Bevölkerung heimisch werden lassen. Daraus entwickelte sich für ihn, bedingt durch die äußeren Lebensumstände, eine kulturell-sprachliche und auch geistige Mehrfachidentität oder, stärker eingegrenzt, eine, so Starova selbst: „’Dualität’: Bildung erwarb ich auf Makedonisch… und zu Hause lebte ich mit der albanischen Sprache“.

Luan Starova vereinte in seiner Person drei Wirkungskreise: den des Wissenschaftlers, des Politikers und des Schriftstellers. Nach dem Abitur (Matura) 1961 am Josip-Broz-Tito-Gymnasium in Skopje, studierte er in Zagreb und Paris französische Literatur, im Zweitfach Geschichte der Kunst (Diplom 1967). Anschließend arbeitete er als Journalist bei Radio Skopje und nach 1968 beim makedonischen Fernsehen als verantwortlicher Redakteur für die Sendungen in albanischer Sprache. Seine akademische Ausbildung setzte er mit der Magisterarbeit zum Thema „Der Balkan in der Prosa von Guillaume Apollinaire“ fort. 1972/1973 war er Stipendiat an der Pariser Sorbonne Nouvelle. 1974 wurde er Assistent an der Philologischen Fakultät der Universität Skopje. 1975 war er wieder Stipendiat in Paris, wo er seine Dissertation vorbereitete, die er 1978 in Zagreb vorlegte und mit Erfolg verteidigte. Sie erschien 1998 unter dem Titel „Faїk Konitza et Guillaume Apollinaire. Une amitié européenne“. 1990 wurde Starova als ordentlicher Professor an die Universität Skopje berufen, wo er den Lehrstuhl für romanische Sprachen und romanische Literaturen leitete. Seit 2016 war er Vizepräsident der MANU. In dieser Funktion förderte Luan Starova nach Kräften die enge wissenschaftliche Kooperation der MANU und der Leibniz-Sozietät. Er war Mitglied der Mittelmeerischen Akademie in Neapel (seit 1998), der Albanischen Akademie der Wissenschaften (seit 2006, als externes Mitglied), der Europäischen Akademie der Wissenschaften in Salzburg (seit 2014). Luan Starova erhielt für sein wissenschaftliches und literarisches Schaffen zahlreiche nationale wie internationale Auszeichnungen und, besonders hervorzuheben, 2003 in Frankreich den hohen staatlichen Titel eines „Commandeur de l`Ordre des Arts et des Lettres“, eine Ehrung, die nur Wenigen zuteil wird. Starova hat über 200 wissenschaftliche Arbeiten verfasst, war als Übersetzer (u.a. von Jean-Paul Sartre, Pablo Neruda, Georg Lukács) und Herausgeber tätig. Er referierte auf Kongressen und Symposien u.a. in New York, Barcelona, Quebec, Beijing, wo er kurzzeitig in Lehrveranstaltungen an der dortigen Universität in die Literatur der Balkanländer einführte.

Als Politiker übte Luan Starova verschiedene Funktionen im staatlichen und diplomatischen Dienst der Republik Jugoslawien und der Republik Makedonien/Nordmakedonien aus. Er war außerordentlicher und bevollmächtigter Botschafter in Tunis und jugoslawischer Botschafter in Palästina. Nach der Unabhängigkeit Makedoniens wurde er der erste ordentliche und bevollmächtigte Botschafter seines Landes in Paris und zugleich dessen ständiger Vertreter bei der UNESCO. Er war außerdem Botschafter in Spanien und Portugal.

Seine Entwicklung als Schriftsteller brauchte ihre Zeit. Sie führte ihn letztlich hin zur Frage nach der eigenen Identität, zu den Fragen nach dem „Wer bin ich“, „Woher komme ich“ und „Wo ist mein Platz gegenwärtig“. Es dauerte, bis er reif genug war, sich dieser großen Problematik zu widmen und sie literarisch aufzuarbeiten, ihr psychologisch, philosophisch und historisch gerecht zu werden. Luan Starova nannte den Prozess dieser verästelten Gesellschaftsanalyse, die ihm auch den Blick auf die Geschichte der eigenen Familie weitete und Unbekanntes zutage brachte, „Entschlüsselung“. Erst mit 50 Jahren nahm er unter dem Begriff „Balkansaga“ jenen Romanzyklus sui generis in Angriff, der ihn als Schriftsteller europaweit bekannt und berühmt machte. Inzwischen umfasst die Reihe zwanzig Bände. Die meisten von ihnen, von der französischen Literaturkritik aufgenommen in die Reihe der „großen europäischen Romane“, wurden in fast alle europäischen Sprachen übersetzt, darunter auch ins Deutsche (z. B. „Das Buch der Mutter“, 2010, die „Zeit der Ziegen“, 2021).

Was Luan Starova in seiner halb-biographischen und damit bedingt subjektiv geprägten „Balkansaga“ aufgeschrieben hat, zeichnet sich durch tiefen Humanismus, Feinfühligkeit und durch die genaue Darstellung völkerübergreifender Menschenschicksale aus. Auf den ersten Blick möchte es scheinen, als ob die „Balkansaga“ allein auf den Balkan eingegrenzt sei. Dem ist nicht so. Inhaltlich und mit ihren Aussagen über Toleranz und Völkerverständigung, ja Völkerfreundschaft und ihrem Antibellizismus geht sie weit über den balkanischen Raum hinaus und besitzt eine allgemeinmenschliche, europaweit akzeptierte Dimension. Heute ist sie bereits Gegenstand wissenschaftlicher Graduierungsarbeiten und literaturwissenschaftlicher Forschungen.

Ein Ende der „Balkansaga“ scheine, so Luan Starova noch unlängst, „nicht in Sicht, es sei denn, eine höhere Macht geböte Einhalt“. Sie hat dem schwer Kranken am 24. Februar 2022 die Feder aus der Hand genommen. Wir werden diesem großartigen Menschen ein ehrendes Andenken bewahren.

 

Armin Jähne