Nekrolog auf unser Mitglied Prof. Dr. Kurt Pätzold

Kurt Pätzold
Foto: privat

Prof. Dr. Kurt Pätzold
* 03. Mai 1930, † 18.August.2016
Mitglied der Leibniz-Sozietät seit 1996

Die Leibniz-Sozietät der Wissenschaften zu Berlin e.V. trauert um ihr Mitglied, den Historiker Prof. Dr. Kurt Pätzold, der am 18. August 2016 im Alter von 86 Jahren verstorben ist.

 

Am 18. August 2016 starb nach schwerer Krankheit im Alter von 86 Jahren in Berlin unser Mitglied  Prof. Dr. Kurt Pätzold. Mit ihm verliert die deutsche Geschichtswissenschaft einen bedeutenden, national wie international renommierten Historiker. Er hat sich Verdienste vor allem um die Erforschung und Darstellung der Geschichte des deutschen Faschismus und insbesondere von dessen verbrecherischer Politik der Judenverfolgung und -vernichtung erworben.

Geboren am 3. Mai 1930 in Breslau, wuchs er in einer sozialistischen Arbeiterfamilie auf, die ihn in strikt antifaschistischem Geist erzog. Im Januar 1945 gerade noch der Festung Breslau durch Flucht mit seiner Mutter entronnen, reihte er sich nach der Zerschlagung des Faschismus, nun im thüringischen Weimar zu Hause, in die später sogenannte DDR-Aufbaugeneration ein. Von Anfang an politisch aktiv in der Jugendbewegung der Sowjetischen Besatzungszone, legte er 1948 an der ursprünglich reformpädagogischen Freien Schulgemeinde Wickersdorf, nahe Rudolstadt, einer Internatsschule, in die nach 1945 auch Kinder aus Arbeiterkreisen aufgenommen wurden, das Abitur ab. Danach studierte bis 1953 in Jena Geschichte bei Karl Griewank, Friedrich Schneider und Hugo Preller, Philosophie bei Georg Klaus und Politische Ökonomie bei Bruno Warnke und Kurt Langendorf. Zugleich übernahm er noch als Student mit gerade 19 Jahren ehrenamtlich in leitenden Positionen Verantwortung für die Entwicklung des politischen Lebens an der Salana. Diese nahm er auch nach dem Examen in den fünfziger Jahren als hauptamtlicher Parteifunktionär wahr. Nach der Promotion mit einer Arbeit über den Zeiß-Konzern in der Wirtschaftskrise von 1929 –  1933 im Jahre 1963 ging er nach Berlin und wurde zunächst bei Ernst Engelberg, dem Leiter der neugebildeten Sektion Geschichte, Mitarbeiter an der Akademie der Wissenschaften. 1964 nahm er seine Lehrtätigkeit an der Berliner Humboldt-Universität auf, die er, nach der Habilitation 1973 zum Professor berufen, bis 1992 ausübte. Die Studenten kannten und schätzten ihn als anregenden, Leistungen und eigenes Denken fordernden, für Diskussionen stets aufgeschlossenen und in Prüfungen recht strengen Hochschullehrer.

Die mit dem sogenannten „Elitenaustausch“ von 1990 nun das Leben an der Universität politisch Bestimmenden entließen ihn 1992 mit der geradezu hanebüchenen Begründung, er vertrete die Faschismusauffassung der Kommunistischen Internationale und sei deshalb für die Lehre nicht mehr tragbar, wiewohl, wie es im Kündigungsschreiben wörtlich hieß, „die fachliche Qualifikation … Ihnen bei aller doktrinären und propagandistischen Elemente in den Veröffentlichungen aus der Zeit bis 1989 nicht pauschal abgesprochen werden“ könne. Die Vertreibung aus dem öffentlich bezahlten Wissenschaftsbetrieb hat Kurt Pätzolds wissenschaftliches Engagement, seine Produktivität und Kreativität nicht einschränken oder gar stoppen können, sondern im Gegenteil sie geradezu befördert. Das einzig Gute an der neuen Situation war für ihn, dass er, von bisherigen bürokratischen Belastungen befreit, sich ganz auf Forschungen und Publikationen konzentrieren konnte. Er hat dies weidlich zu nutzen gewusst. Die Bibliografie seiner Veröffentlichungen reicht nur bis zu seinem 70. Geburtstag 2000 und muss für die letzten eineinhalb Jahrzehnte noch ergänzt werden. Unschwer lässt sich aber schon jetzt feststellen, dass deren Zahl in dem Vierteljahrhundert nach 1990 größer ist als aus dem Zeitraum davor.

Bereits 1973 hatte Kurt Pätzold mit der Habilitationsschrift, die zwei Jahre später unter dem Titel: Faschismus, Rassenwahn, Judenverfolgung. Eine Studie zur politischen Strategie und Taktik des faschistischen deutschen Imperialismus (1933-1935) erschien, das Thema gefunden, dessen nun folgende Bearbeitung ihn über die Grenzen Deutschlands hinaus bekannt machte. In zahlreichen Büchern, mehrere gemeinsam mit seiner Schülerin Erika Schwarz verfasst, und in zahlreichen Artikeln in Zeit- und Sammelschriften untersuchte er als einer der ersten deutschen Historiker systematisch die Stufen der faschistischen Judenverfolgung bis zum industriell durchgeführten Judenmord. Er deckte – worum es ihm vor allem ging – die Zusammenhänge zwischen Judenverfolgung und imperialistischer Kriegs- und Eroberungspolitik auf, analysierte so die berüchtigte Wannseekonferenz vom Januar 1942, auf welcher der schon eingeleitete Massenmord an den europäischen Juden koordiniert und stabsmäßig organisiert wurde. An der Rolle des „Transportoffiziers“ des später in Ramla bei Tel Aviv gehenkten Adolf Eichmann legte er nicht nur die Beteiligung der Reichsbahn an den Verbrechen, sondern auch die vielfältigen Formen und Mechanismen der Verfolgung und Vernichtung der Juden bloß. Eine Sammelschrift unter dem Titel: „Wahn und Kalkül“ fasste 2012 seine wichtigsten zuvor verstreut erschienenen Artikel über den „Antisemitismus mit Hakenkreuz“ zusammen. Eine seiner letzten Studien, fertig gestellt in der Zeit seiner schweren Krankheit, galt der Behandlung der Wannseekonferenz in der Geschichtsschreibung.

Kurt Pätzolds Anliegen griff weiter. Er wollte den deutschen Faschismus in seiner Totalität, mit seinen historischen wie ökonomischen, sozialen und geistig-kulturellen Wurzeln, seinen imperialistischen Hintermännern und seinen führenden Vertretern in den Blick nehmen, um die Wege und die Methoden offen zu legen, auf und mit denen Deutschland im Zweiten Weltkrieg in die größte Katastrophe geführt wurde. Als ein der materialistischen Dialektik verpflichteter marxistischer Historiker, der in seinen Forschungen die Grundsätze und Methoden des historischen Materialismus erfolgreich anzuwenden verstand, vermochte er – fern von jeglicher, den Marxisten immer wieder vorgeworfener ökonomistischer Einseitigkeit – bei seinen Erklärungen stets die gesellschaftlichen Prozesse in ihrer Gesamtheit und die Wechselwirkungen und wechselseitigen Beeinflussungen ihrer verschiedenen Bereiche zur Geltung zu bringen.

Das belegen seine sämtlichen Publikationen zur Geschichte des Faschismus, die er, vielfach gemeinsam mit Manfred Weißbecker verfasst, der Öffentlichkeit – eine auch in mehreren Auflagen – unterbreitete: von der Geschichte der NSDAP (1981, 1998) über die Hitlerbiografie (1995), die von Rudolf Hess (1999), die Biografien von in Nürnberg zum Tode durch den Strang verurteilten Nazi-Kriegsverbrechern (1999) bis zu den jüngst erschienenen bzw. noch postum erscheinenden Büchern über den Zweiten Weltkrieg und die deutsche Geschichte von 1933 bis 1945, die Basiswissen vermitteln wollen. Dazu gehören die Studien über den deutsch-sowjetischen Nichtangriffspakt vom 23. August 1939 und die in diesem Jahr erschienene Darstellung über den 22. Juni 1941, den Überfall des faschistischen Deutschland auf die Sowjetunion Zu nennen ist die Zusammenstellung von linken „Faschismus-Diagnosen“, mit denen er seine langjährigen Auseinandersetzungen um den Faschismusbegriff  weiterführte und vertiefte. Seit den 1970er Jahren trieb Kurt Pätzold die lange vernachlässigte Frage nach den Gründen für den Masseneinfluss und –anhang des deutschen Faschismus um. Immer wieder  beschäftigte ihn die „faschistische Manipulation des deutschen Volkes“, verlangte er, den Veränderungen der sozialen Lage in der Mitte der dreißiger Jahre und der sozialen Demagogie größere Aufmerksamkeit zu schenken. Diese jahrzehntelangen Forschungen und Überlegungen mündeten in eine Darstellung der Rolle der Massen in Deutschland zwischen 1933 und 1945, die in „zwölf Kapiteln einer Gefolgschaft“ den Wandlungen in deren Haltung im und zum faschistischen Herrschaftssystem nachgeht. Er konnte das Buch gerade noch fertig stellen; es wird postum erscheinen.

Kurt Pätzolds Arbeitsfeld war jedoch nie auf die Zeit von 1933 bis 1945 begrenzt. Viele seiner Streitschriften, die immer in das politische Leben und die geistigen Auseinandersetzungen der Gegenwart eingreifen wollten, befassen sich mit Ereignissen, deren Jahrestage ihn herausforderten: 2013 beschrieb er das „Nachleben“ des Befreiungskrieges von 1813; 2014 setzte er sich mit den aktuellen Versuchen auseinander, den deutschen Imperialismus von der Schuld am Ersten Weltkrieg reinzuwaschen, und skizzierte die Geschichte der sogenannten Dolchstoßlegende in der Weimarer Republik. In eben diesem Sinne untersuchte er 2012 kritisch „Kriegerdenkmale in Deutschland“ in Geschichte und Gegenwart.

Wollte man Kurt Pätzolds Leben und Wirken auf seine wissenschaftlichen Publikationen beschränken, würde man dem Mann nur zur Hälfte gerecht. Dazu gehört auch sein enormes, geradezu beispielloses geschichtspolitisches Engagement. Er wollte mit seinem Wissen aufklären und war in der Tat ein echter Aufklärer. Er ließ es sich nicht nehmen, den Sitz am Computer immer wieder mit dem als Redner in öffentlichen Diskussionsgremien zu vertauschen, in denen gestritten werden konnte. Da war er in seinem Element. Das motivierte ihn auch zu weiteren Forschungen. Das hat ihn – vergleichbar vielleicht nur mit den Wanderpredigern in der alten deutschen Sozialdemokratie – auch unter den einfachen Leuten in Deutschland-Ost wie –West: von Greifswald bis Suhl, von Bremen bis Freiburg im Breisgau bekannt gemacht. Diese Kontakte, bei denen er sich immer besonders freute, wenn er junge Menschen für  Geschichte interessieren konnte, brauchte und genoss er.

2008 stand Kurt Pätzold in „Erinnerungen eines deutschen Historikers“ unter dem Titel: „Die Geschichte kennt kein Pardon“ zu seiner ganzen Vergangenheit, selbstbewusst und selbstkritisch.

Auch unsere Sozietät hat aus seinen wissenschaftlichen Leistungen und seiner Fähigkeit, erforschtes Wissen zu analysieren, theoretisch zu verarbeiten und weiter zu vermitteln, Nutzen gezogen. Vorträge über Themen aus seinen Forschungsfeldern: Der Massenmord an den europäischen Juden und die Geschichtswissenschaft. Ergebnisse und Kontroversen (Sitzungsberichte, Bd. 19 (1997) und Die deutsche Wehrmacht im Zweiten Weltkrieg. Legendenbildung und Geschichtswissenschaft (Sitzungsberichte, Bd. 35 (1999) wie auch seine Diskussionsmeldungen haben die Sitzungen der Klasse wie des Plenums immer wieder bereichert und belebt.

Die Leibniz-Sozietät der Wissenschaften zu Berlin wird Kurt Pätzold in guter Erinnerung behalten.

Walter Schmidt