Nekrolog auf unser Mitglied Prof. Dr. Günter Benser

Prof. Dr. Günter Benser, MLS (1931-2025) Foto: Ingo Müller

Die Leibniz-Sozietät trauert um ihr langjähriges Mitglied Prof. Dr. Günter Benser. Der Historiker verstarb am 27. März 2025 zwei Monate nach Vollendung des 94. Lebensjahres.

Günter Benser blieb bis zuletzt seiner Zunft und seinem Beruf treu sowie wissenschaftlich produktiv. Vor einem halben Jahr hatte er in einer Miszelle über den Umgang mit Autobiografien ehemaliger Spitzenpolitiker der DDR reflektiert. Hier harre „auf die Historiker noch ein Abgleich unterschiedlicher, teils gegensätzlicher Informationen und Sichtweisen“. Der „Grat zwischen einer zu respektierenden Meinung und bewussten Verzerrungen“ sei sehr schmal.[1] Die jeweiligen Zeit- und Lebensumstände müssten für die Beurteilung von Erinnerungen mit bedacht werden. Die Miszelle ist ein Plädoyer für ausgewogene Quellenkritik und die Kontextualisierung persönlicher Rückblicke.

Günter Benser wurde am 12. Januar 1931 in Heidenau – einer Stadt zwischen Pirna und Dresden – in einer Arbeiterfamilie geboren. Dementsprechend waren die Lebensumstände der Kindheit und Jugend materiell eher bescheiden. Kulturell wirkte in Heidenau eine reiche bis 1933 mit der Arbeiterbewegung verbundene Vereinskultur nach. Benser hat diesem Umfeld später eigene regionalhistorische Forschungen gewidmet. Zunächst war der Heranwachsende jedoch mit den existentiellen Fragen der Nachkriegsjahre konfrontiert. In den Elbtalwerken absolvierte er eine Lehre als Industriekaufmann. Der Betrieb delegierte seinen wissbegierigen ehemaligen Lehrling an die Arbeiter-und-Bauern-Fakultät. Dem folgte ein Studium der Geschichte an der traditionsreichen Alma Mater Lipsiensis und ein erster Einsatz beim Rat des Bezirkes. Seit 1954 war das Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED in Berlin der bleibende Ort seines Wirkens. Er begann dort zunächst als wissenschaftlicher Mitarbeiter und hatte Jahre später als stellvertretender Abteilungsleiter und Professor Forschungen zur Geschichte der Arbeiterbewegung zu verantworten. In den Monaten des Auf- und Umbruchs am Ende der DDR sprachen ihm die Mitarbeiter das Vertrauen aus. Sie wählten ihn zu ihrem Direktor. Seiner Absicht, das wissenschaftliche Potential eines erneuerten Instituts für Geschichte der Arbeiterbewegung in die Wissenschaftslandschaft der Bundesrepublik einzubringen, war jedoch kein Erfolg beschieden. Die Treuhand beendet das Experiment 1992.

Die Vielzahl von Zuarbeiten, die Günter Benser in den Jahrzehnten zuvor für zentrale Projekte und für Führungsfunktionäre erarbeitete lassen sich nicht umfassend rekonstruieren. Genannt seien u. a. die Mitarbeit an der „Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung in acht Bänden“ (1966) und der ihr zugeordneten Chronik sowie der Band 9 der „Deutschen Geschichte in zwölf Bänden“ (1989). Etliche Abrisse und Grundrisse zur deutschen Geschichte und zur SED-Geschichte verzeichnen ihn im Kreis der Autoren. Zu etlichen dieser Auftragsarbeiten und ihren Grenzen hat er im Rückblick selbstkritisch Stellung bezogen.

In seiner Promotion 1964 wandte sich Benser den Problemen zu, mit denen die Arbeiterparteien in den Nachkriegsjahren 1945 bis 1949 konfrontiert waren, und den Lösungsansätzen, die sie daraus entwickelten. Dieses Thema hat ihn nie losgelassen und bis zuletzt immer wieder beschäftigt. Mit jedem Mal drang er tiefer in die Materie ein, nutzte einen erweiterten Quellenfundus und gelangte zu differenzierteren Urteilen. Vor allem den Anteil und die Bedeutung der Basisdemokratie in diesen Prozessen rückte in den zurückliegenden Jahrzehnten ins Zentrum seinen Forschungsinteresses.

In den bewegenden Monaten des Herbstes 1989 gehörte Günter Benser zu dem kleinen Kreis von Gesellschaftswissenschaftlern, die eine erste Antwort auf die Frage nach den Ursachen der tiefen Krise der DDR-Gesellschaft und der Verantwortung der SED suchten und die Vorlage für eine kritische Bilanz des Außerordentlichen Parteitages der SED im Dezember lieferten. Er gehörte zu den Gründungsmitgliedern der Historischen Kommission der Partei des Demokratischen Sozialismus, der er über viele Jahre verbunden blieb. Den Bruch mit dem „Stalinismus als System“ und die Absage an verordnete Geschichtsbilder sah er als notwendige Bestandteile einer Erneuerung der SED/PDS zu einer zukunftsfähigen linken Partei.

In die Jahre nach 1990 fielen auch die Entscheidungen über das Schicksal des Zentralen Parteiarchivs der SED und weiterer Parteien und Organisationen der DDR. Dass mit der Gründung der Stiftung Archiv der Parteien und Massenorganisationen der DDR im Bundesarchiv ein politisch und wissenschaftlich tragfähiger Kompromiss gefunden wurde, ist zu nicht geringem Teil Günter Benser und den mit ihm verbündeten Kollegen in Ost und West zu danken. Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus dem In- und Ausland profitieren bis heute von dieser Lösung. Günter Benser vertrat viele Jahre die Nachfolgepartei des Einbringers des Großteils der Bestände im Kuratorium der unselbständigen Stiftung. Darüber hinaus gehörte er zu den Initiatoren des Förderkreises Archive und Bibliotheken zur Geschichte der Arbeiterbewegung e. V., dessen Vorsitz er zwischen 1992 und 2011 innehatte. Mit Sorge beobachtete er wiederholte Versuche, den Status der Stiftung und damit das fachlich wichtige Herkunfts- und Entstehungsprinzip von Archivbeständen im Interesse erhoffter politischer Effekte zu unterlaufen.

Die Abwicklung der wissenschaftlichen Institute der DDR und die Ausgrenzung, die ihr ehemaliges Personal in der Regel erfuhr, stellten viele Wissenschaftler in den neuen Bundesländern vor existentielle Fragen. Einige zogen sich ins Private zurück. Günter Benser, damals Anfang 60, hielt an seiner Profession fest. Er startete den produktivsten Lebensabschnitt als Forscher und Publizist. Gemeinsam mit einem Kollegen legte er in den 1990ern eine sechsbändige Quellensammlung „Dokumente zur Geschichte der kommunistischen Bewegung in Deutschland“ für die Jahre 1945/46 vor. Für die Reihe „Geschichte des Kommunismus und Linkssozialismus“ verfasste er den 2009 erschienen Band über den deutschen Kommunismus im Krieg von 1939 bis 1945. Zusammen mit Kolleginnen und Kollegen der Friedrich-Ebert-Stiftung konnte er im gleichen Jahr ein biografisches Nachschlagewerk zu den Archivaren, Bibliothekaren und Sammlern der Quellen der deutschsprachigen Arbeiterbewegung herausgeben, dem 2017 ein Supplement folgte. Als Beitrag zur vergleichenden Betrachtung deutscher Nachkriegsgeschichte sind die 2018 erschienene Gegenüberstellung von Walter Ulbricht und Konrad Adenauer einzuordnen, die in ihrer Gegensätzlichkeit und in ihrer Bezogenheit beleuchtet werden. Zu den erwähnten Büchern und Buchreihen wären noch zahlreiche Broschüren und Artikel in Sammelbänden und Zeitschriften hinzuzufügen. Immer wieder meldete sich Günter Benser in den Debatten zum Umgang mit der Geschichte der DDR und der SED zu Wort.

Besondere öffentliche Aufmerksamkeit erlangte sein zur Jahrtausendwende erschienenes Buch „DDR – gedenkt ihrer mit Nachsicht“. Einige Kritiker unterstellten ihm, er würde ehemaligen Privilegien nachtrauern und würde den „neuen Forschungsstand“ nicht kennen. Er kannte ihn wohl sehr viel besser als die Kritiker. Sein Anliegen war vielmehr, vor Pauschalurteilen und einseitigen Sichten auf den untergegangenen zweiten deutschen Staat zu warnen und eine differenzierte Sicht auf dessen komplexe und durchaus widerspruchsbehaftete Geschichte anzumahnen.

Einen ungewöhnlich intimen Einblick in seine Gedankenwelt gestattete er 2021 mit dem Buch „Zeitsprung“. Darin publizierte er seine Tagebuchaufzeichnungen aus dem Jahre 1948 gemeinsam mit Tagesnotizen vom Jahr 2018. Die Beobachtungen, Erlebnisse und Urteile des 17jährigen werden mit denen des um sieben Jahrzehnte Lebenserfahrung Gereiften kombiniert. Er wollte die Veröffentlichung als subjektives Zeitdokument verstanden wissen. Dem Leser stellte er das Urteil frei.

Neben den Themen der politischen Geschichte reizte Günter Benser auch die Geschichte im kleinen Rahmen. Die Beiträge zu Orts- und Regionalgeschichte hatten stets familiäre und biografische Hintergründe. So untersuchte er die Geschichte der Volksbühne Heidenau, eines Amateurtheaters seiner Geburtsstadt. Das Urlauberdorf Motzen im Wandel der Zeiten beschrieb er, weil er dieser Gemeinschaft selbst angehörte.

Die Leibniz-Sozietät wählte Günter Benser 2007 zu ihrem Mitglied. Die Rosa-Luxemburg-Stiftung ernannte ihn zum Ehrenmitglied. Wir verlieren einen außerordentlich sachkundigen und bemerkenswert produktiven Kollegen.

Jürgen Hofmann

[1] Günter Benser: Autobiografisches von Spitzenpolitikern der DDR, in: Beiträge zur Geschichte der Arbeiterbewegung, 66. Jg., H. 3/2024, S. 173.