Nekrolog auf unser Mitglied Prof. Dr. Ernstgert Kalbe

Ernstgert kalbe

Prof. Dr. sc. phil. Ernstgert Kalbe
* 27.09.1931, † 07.11.2015
Mitglied der Leibniz-Sozietät seit 2000

Die Leibniz-Sozietät der Wissenschaften zu Berlin e.V. trauert um ihr Mitglied, den Historiker Prof. Dr. Ernstgert Kalbe, der am 7. November 2015 im Alter von 84 Jahren verstorben ist.

Das Ende des zweiten Weltkrieges, das Ernstgert Kalbe als 14-Jähriger erlebte und alsbald als eine einschneidende Zäsur der Geschichte Europas zu begreifen begann, forderte schon früh den Heranwachsenden heraus, sich der Dimension  der sich aus den Wirren der Nachkriegsjahre ergebenden Fragen der Zeit zu stellen und Stellung zu beziehen. Vor dem Beginn seines Studiums der Geschichte und Bulgaristik an der Universität Leipzig im Jahre 1951 absolvierte er, nach kurzer Zeit als Funktionär im  FDJ-Kreisvorstand Leipzig, ein einjähriges praktisches Jahr als Schmelzer im VEB Stahl- und Walzwerk Gröditz.

Nach erfolgreichem Abschluss seines Studiums   begann er 1955 seine wissenschaftliche Laufbahn als Assistent am Institut für Geschichte der europäischen Volksdemokratien der Karl-Marx-Universität Leipzig. Dort wurde er 1960 zum Dr. phil. promoviert, der Titel seiner Dissertation (“Der internationale Kampf gegen die provokatorische Reichstagsbrandstiftung und den Leipziger Prozess sowie seine Bedeutung für die Entwicklung der antifaschistischen Einheitsfrontbewegung”) signalisierte bereits den Beginn eines außergewöhnlich fruchtbaren weiteren Forscherlebens. Bereits kurz darauf (1961) wurde er mit der Wahrnehmung einer Dozentur für die Geschichte Südosteuropas in diesem Institut beauftragt, in dem er zugleich die Abteilung für Geschichte Südosteuropas leitete. Die intensive Forschungsarbeit von Ernstgert Kalbe während seiner Tätigkeit am Institut für Geschichte der europäischen Volksdemokratien fand ihren Niederschlag nicht nur in einer Vielzahl von Publikationen, in denen immer stärker die vergleichende Sicht auf die Prozesse des Übergangs des antifaschistischen Widerstands in die volksdemokratische Revolution in den Ländern Südosteuropas an Gewicht zunahm. Dadurch erfolgte bereits frühzeitig eine weitgehende Annäherung an die sich an der Karl-Marx-Universität Leipzig um die Professoren Markov, Kossok u.a. entwickelnde vergleichende Revolutionsforschung, die schließlich Mitte der 70er Jahre u. a. in Gestalt des  ins Leben gerufenen Interdisziplinären Zentrums für Vergleichende Revolutionsforschung (IZR) weit über die Grenzen der DDR hinaus Bekanntheit und Anerkennung fand. Ernstgert Kalbe beteiligte sich aktiv an der systematischen Publikation der Ergebnisse dieser Forschungsleistungen, u. a. seit 1969 als  Mitglied des Herausgeberkollegiums für das “Jahrbuch für Geschichte der sozialistischen Länder Europas”.

Eine jähe Wendung (mit erheblichen Langzeitwirkungen für die spezifisch auf Südosteuropa ausgerichtete vergleichende Revolutionsforschung) war der von der Parteiführung der SED 1968 gegenüber der Leitung und den Mitarbeitern des Instituts für Geschichte der  europäischen Volksdemokratien erhobene Vorwurf des “Revisionismus”, der  zur Auflösung des Instituts und der Zersprengung des gewachsenen Mitarbeiterkollektivs führte. Ernstgert Kalbe wirkte ab 1969 als Dozent für Geschichte der internationalen Arbeiterbewegung am Franz-Mehring-Institut der Karl-Marx-Universität Leipzig. Seine viel beachtete Dissertation “Das Hinüberwachsen des antifaschistischen Widerstandskampfes in die volksdemokratische Revolution während des zweiten Weltkrieges in Südosteuropa. Ein revolutionsgeschichtlicher Vergleich” (1974 in leicht überarbeiteter Fassung im  Deutschen Verlag der Wissenschaften  erschienen) war Bestandteil seiner Promotion zum Dr.sc.phil. (1971).

Von 1972 bis 1974 hatte Ernstgert Kalbe eine Professur für Geschichte der internationalen Arbeiterbewegung am Franz-Mehring-Institut der Karl-Marx-Universität Leipzig inne, 1974 erfolgte im Zusammenhang mit der Neugründung eines Wissenschaftsbereichs für Geschichte der sozialistischen Länder Europas an der Sektion Geschichte der Karl-Marx-Universität Leipzig seine Berufung zum Professor für Geschichte der UdSSR und der sozialistischen Länder Europas. Gleichzeitig wurde ihm die Leitung des Wissenschaftsbereichs übertragen. Bis zu seiner Entlassung im Zuge der Abwicklung des Wissenschaftsbereichs Geschichte der sozialistischen Länder Europas im Jahre 1991 widmete er sich mit bewundernswerter Energie und Hingabe der Lehre, der Betreuung einer großen Zahl von Nachwuchswissenschaftlern und der Forschung. Neben der Fortsetzung der Zusammenarbeit mit seinen Kollegen im IZR zur vergleichenden Revolutionsgeschichte widmete er sich in zunehmendem Maße auch dem Problemkreis der Nationwerdung und Staatenbildung  in Südosteuropa. Sein breit gefächertes Interesse und seine Hartnäckigkeit im Verfolgen zunächst nur ungefähr aufgeworfener Fragestellungen bis zum Erarbeiten schlüssiger Antworten fanden in der umfangreichen Publikationsübersicht, die  anlässlich seines 70. Geburtstages im Band 3/2 der von ihm, Prof. Dr. Wolfgang Geier und weiteren Mitarbeitern herausgegebenen Reihe “Osteuropa in Tradition und Wandel. Leipziger Jahrbücher” auf 10 eng bedruckten Seiten den Stand des Jahres 2001 wiedergibt, ihren Niederschlag.

Über das engere Wirkungsfeld an der Karl-Marx-Universität Leipzig hinaus erwarb sich Ernstgert Kalbe bleibende Verdienste für die Entwicklung von Forschung und Lehre der Geschichte Südosteuropas in der DDR, so u. a. als Mitglied im Rat für Geschichtswissenschaft der DDR von 1974 bis 1989 und des Rates für Ökonomie und Politik sozialistischer  Länder an der Akademie für Gesellschaftswissenschaften beim ZK der SED von 1983 bis 1989. Als Mitglied des Wissenschaftlichen Beirates für Geschichtswissenschaft beim Ministerium für Hoch- und Fachschulwesen der DDR leitete er das Autorenkollektiv für das 1981 im Deutschen Verlag der Wissenschaften (Berlin) erschienene Hochschullehrbuch “Geschichte der sozialistischen Gemeinschaft”.

Auf  internationaler Ebene  engagierte er sich aktiv für das Zusammenwirken von Südosteuropahistorikern als Mitglied des  DDR-Nationalkomitees für Balkanistik der Association internationale d’études du Sud-Est européen sowie in den Historikerkommissionen DDR-UdSSR und DDR-Volksrepublik Bulgarien. Enge wissenschaftliche Kontakte pflegte er zu den Fachkollegen an den Universitäten in Sofia und Kiew.

Das Jahr 1991 war ein tiefer Einschnitt im Wirken und Schaffen des im Zuge der Abwicklung seines Wissenschaftsbereiches  entlassenen Forschers und Hochschullehrers. Für alle, die ihn kannten, war es nicht verwunderlich, dass Ernstgert Kalbe sich nicht empört und zugleich entmutigt in das Privatleben als Zwangsrentner zurückzog. Mit ungebrochenem Tatendrang stellte er sich neuen Herausforderungen. Es ging ihm nicht allein um den  notwendigen kritischen und selbstkritischen Blick zurück auf sein Wirken als einer der führenden Osteuropahistoriker der DDR. Mit ungebrochenem Engagement wirkte er für die Weiterentwicklung spezifischer Sichten, wie sie sich aus dem reichen Schatz der Entwicklung seines Wissenschaftsgebietes in der DDR ergaben, auf die Geschichte und Gegenwart der Entwicklung in den ost- und südosteuropäischen Staaten. Gemeinsam mit seinem Kollegen Wolfgang Geier  erfolgte die Gründung der “Gesellschaft für Kultursoziologie e.V. Leipzig”, verbunden mit der Herausgabe der Zeitschrift “Kultursoziologe. Aspekte – Analysen – Argumente”. 1992 wurde, wiederum als  gemeinsame Initiative, bei dem Rosa-Luxemburg-Verein Sachsen (fortgeführt als Rosa-Luxemburg-Stiftung Sachsen) ein Arbeits- und Gesprächskreis “Osteuropa” ins Leben gerufen, der sich schnell zu einem weit über Leipzig hinaus bekannten und hoch geschätzten Forum des gemeinsamen Wirkens vor allem der im Zuge des Beitritts der DDR zur BRD abgewickelten Osteuropahistoriker der DDR-Universitäten und anderer wissenschaftlicher Arbeitsstätten entwickelte. Regelmäßige Colloquia  zu einem weiten Kreis von Fragestellungen zur Geschichte und Gegenwart der Region führte regelmäßig Kollegen aus allen neuen Bundesländern zum Erfahrungs- und Gedankenaustausch zusammen, es entstand eine für alle Teilnehmer bald unverzichtbare Stätte gemeinsamer Reflexion, kritischer Verständigung und nicht zuletzt auch Fortsetzung des wissenschaftlichen Diskurses unter den völlig neuen Bedingungen. Ohne Übertreibung lässt sich feststellen, dass diese ganz wesentlich mit dem Namen von Ernstgert Kalbe verbundene Initiative sich zu einem wesentlichen Bestandteil der “zweiten Wissenschaftslandschaft” im Osten Deutschlands entwickelte. Die sich aus den bescheidenen Anfängen einer Schriftenreihe “Osteuropa in Tradition und Wandel” zu den ” Aus Tradition und Wandel. Leiziger Jahrbücher” entwickelnde Reihe, erschienen in 12 Bänden, legten vom über die Abwicklung hinaus erhaltenen Potenzial der Träger des Unternehmens beredtes Zeugnis ab.

Prof. Dr. sc. phil Ernstgert Kalbe, Leiter dieses Osteuropa-Arbeitskreises bei der Rosa-Luxemburg-Stiftung Sachsen, seit 1998 Mitglied des Marxistischen Forums der PDS und 2000 zum Ordentlichen Mitglied der Leibniz-Sozietät der Wissenschaften zu Berlin e.V. gewählt, verstarb am 7. November 2015. Wer ihn kannte, trägt schwer an diesem Verlust, den seine Kollegen, Schüler, ehemaligen Studenten, Leser seiner zahlreichen Publikationen und Hörer seiner exzellenten Vorträge erlitten haben.

Eckart Mehls