Nekrolog auf unser Mitglied Prof. Dr. Ernst-Otto Reher
Prof. Dr. sc. techn. Dr. h.c. Ernst-Otto Reher
* 12. April 1936 † 18. November 2016
Mitglied der Leibniz-Sozietät seit 1999
Die Leibniz-Sozietät der Wissenschaften zu Berlin e.V. trauert um ihr Mitglied, den Verfahrensdtechniker Ernst-Otto Reher, der am 18. November 2016 im Alter von 80 Jahren verstorben ist.
Am 18. November 2016 verstarb nach langer Krankheit unser Mitglied Professor Dr. Ernst-Otto Reher, der sich bei der Begründung und Entwicklung der verfahrenstechnischen Lehre und Forschung, mit Schwerpunkt auf dem Gebiet der Rheologie, sowie im Arbeitskreis Allgemeine Technologie unserer Sozietät bleibende Verdienste erworben hat.
Am 12. April 1936 wurde Ernst-Otto Reher in Güsten bei Bernburg geboren. Nach der Schulausbildung trat er eine Lehre als Tischler an. Als Arbeiterkind mit sehr guten schulischen Leistungen erhielt er eine Delegierung an die ABF in Halle, wo er im Jahr 1956 das Abitur erlangte und sich zugleich auf das Studium im Ausland sprachlich vorbereiten konnte.
In den Jahren 1956 bis 1961 absolvierte er ein Studium in der Fachrichtung „Lacke und Farben“ an dem traditionsreichen „Technologischen Institut“ in St. Petersburg, damals Leningrad, an einer der ältesten Technischen Hochschulen Europas, an der im 19. Jahrhundert bereits D. I. Mendelejew gelehrt hatte. Diese Einrichtung wurde für Ernst-Otto Reher zur Alma Mater, die ihn wissenschaftlich prägte und zu der er ein Leben lang wissenschaftliche und persönliche Verbindung hielt. Hier knüpfte der stets lebenslustige, wissensdurstige und kameradschaftliche junge Mann Freundschaften mit Kommilitonen, die bis zu seinem Tod lebendig blieben. Hier entstand der Ehebund mit seiner Frau Svetlana.
Nach dem Studium trat er zunächst eine Tätigkeit beim VEB Lacke und Farben in Berlin an. Sein Drang zur aktiven Forschung führte ihn bald wieder zurück an die Hochschule in St. Petersburg, wo er in den Jahren 1962 bis 1965 eine Aspirantur bei Professor P.G. Romankow begann, die er mit der Promotion zum Dr.-Ing. mit dem Thema „Trocknung von Pasten im Wirbelschichttrockner“ abschloss.
Ab 1965 wurde er als Oberassistent an der sich im Aufbau befindenden TH Leuna-Merseburg tätig. Im Jahr 1971 folgte die Promotion zum Doktor der Wissenschaften Dr. sc. techn. am Technologischen Institut und im Jahr 1972 wurde er als ordentlicher Professor für Verfahrenstechnik (Rheologie) an der THLM berufen. Es folgte ein jahrzehnte-langes Schaffen des Ordinarius für Verfahrenstechnik an der TH Merseburg als Hochschullehrer, Forscher und international hoch geachteter Autor. Hohe Verantwortung übernahm Ernst-Otto Reher als Direktor der Sektion Verfahrenstechnik, später der Sektion Werkstoff- und Verarbeitungstechnik. Mit der Leitung des Problem-Laboratoriums „Technologie der Informationsaufzeichnungsmaterialien“ und später des Sonderforschungsbereiches „Polymere Werkstoffe“ waren gleichzeitig Führungsverantwortung und höchster persönlicher Einsatz als Wissenschaftler verbunden. Erfolgreich nahm er auch an der verfahrenstechnischen Filmforschung und an der chemischen Forschung in der Filmfabrik Wolfen teil.
Sein Wirken als Wissenschaftler orientierte sich dabei konsequent an der verpflichtenden Leibniz’schen Maxime „Theoria cum praxi et commune bonum“. Das belegen in beeindruckender Weise seine mehr als 300 wissenschaftlichen Veröffentlichungen in Form von Fachbeiträgen, sieben Monographien und Lehrbücher, 100 Patente sowie erfolgreiche nationale und internationale Kooperationen. Mehrere Wissenschaftspreise und die hohe Auszeichnung Verdienter Techniker sind Ausdruck der Wertschätzung seiner Leistungen. Regelmäßig führte sein beruflicher Weg auch zurück an seine Alma Mater in St. Petersburg, als Gastprofessor und geschätzter Kooperationspartner in der Forschung. Eine Ehrenprofessur und die Ehrendoktorwürde des Technologischen Instituts sind Ausdruck der hohen Anerkennung seines dortigen Wirkens.
Die Folgen der Veränderungen des Jahres 1990 bedeuteten auch für Ernst-Otto Reher einen tiefen Einschnitt in seinem beruflichen Leben, den er mit der ihm eigenen Energie und Konsequenz überwinden konnte: Als Leiter für Forschung und Entwicklung brachte er mit Erfolg seine reichen theoretischen und praktischen Erfahrungen bei der Göttfert Werkstoff-Prüfmaschinen GmbH in Buchen/Odenwald ein, mit der er zuvor bereits ein rheologisches Laboratorium an der TH Merseburg eingerichtet hatte. Der Nutzen dieses Engagements lag auf beiden Seiten – neben den wirtschaftlichen Erfolgen für das Unternehmen sicherte es für ihn persönlich in komplizierter Zeit die Kontinuität und Aktualität der Verbindung zu seinem Arbeitsgebiet, der Verfahrenstechnik.
In dieser Zeit entstand unter maßgeblicher Mitwirkung von Ernst-Otto Reher auch der Trothaer Kreis, ein Zusammenschluss ehemaliger Kollegen der Technischen Hochschule Merseburg, die sich vor allem der Pflege des reichen wissenschaftshistorischen Erbes der mitteldeutschen Region auf dem Gebiet der Chemie und Verfahrenstechnik, so dem Vermächtnis von Wilhelm Ostwald, zuwandten. Gemeinsames Erleben kultureller Höhepunkte und mehrtägige Wanderungen in der Region, stets verbunden mit aktivem akademischem Austausch, schweißten diesen Freundeskreis dauerhaft zusammen, verhinderten so Vereinzelung und Isolation.
Seit 1999 war Ernst-Otto Reher Mitglied und eng verbunden mit der Leibniz-Sozietät der Wissenschaften. Er hat hier vor allem als Co-Vorsitzender des Arbeitskreises „Allgemeine Technologie“ engagierte Arbeit geleistet, die wesentlich zur der theoretischen Begründung und Fundierung einer Allgemeinen Technologie als Wissenschaft in statu nascendi beitrug und zur wesentlichsten wissenschaftlichen Leistung in seiner letzten Schaffensperiode wurde. Den Anstoß zu diesem Arbeitsgebiet erhielt er bereits in jungen Jahren, als er bei einem Besuch an seiner Alma Mater in St. Petersburg auf Arbeiten des Göttinger Professors Johann Beckmann stieß, der dort in den Jahren 1763 bis 1765 gelehrt hatte und in seinen Arbeiten vehement Erfordernis und Gegenstand einer solchen künftigen Wissenschaftsrichtung benannte. Die Leibniz-Sozietät bot Ernst-Otto Reher viele Jahre später den idealen Rahmen dafür, gemeinsam mit einem Kollegen der Technikphilosophie, diese Anregungen konkretisiert durch eigene Vorstellungen weiterzuentwickeln und im interdisziplinären Arbeitskreis „Allgemeine Technologie“ in die Tat umzusetzen. In sieben Symposien und zahlreichen Veröffentlichungen wurde sie Schritt für Schritt mit Leben und wissenschaftlicher Substanz gefüllt und die Ergebnisse der Öffentlichkeit zugänglich gemacht – in den Sitzungsberichten und Abhandlungen der Leibniz-Sozietät der Wissenschaften sowie in anderen Medien. In Vorlesungsreihen vor Studenten und Ingenieuren vertrat und verbreitete Ernst-Otto Reher gemeinsam mit weiteren Kollegen des Arbeitskreises die Ideen und Konzeptionen der Allgemeinen Technologie, die er bereits in frühen Notizen aus dem Jahr 1968 wie folgt umrissen hatte:
„Innerhalb der Ingenieurdisziplinen Verfahrenstechnik, Fertigungstechnik und Verarbeitungstechnik wurden Verallgemeinerungen im Rahmen der technologischen Grundoperationen bzw. Prozessgruppen realisiert. Die Mechanik und die Grundlagen des Impuls-, Wärme- und Stoffüberganges, die Systemtechnik lieferten hierzu die Voraussetzungen. Aber auch außerhalb der Verfahrenstechnik, Fertigungstechnik und Verarbeitungstechnik gab es Bestrebungen, den Schulterschluss zu benachbarten Ingenieurdisziplinen zu suchen. Beispiele sind die Verfahrenstechnik und die Verarbeitungstechnik, aber auch die Verfahrenstechnik und die Energietechnik, die Fertigungstechnik und die Verarbeitungstechnik. Die Basis für derartige partielle Integration der Prozesstechniken der Stoffwandlung war die einheitliche Methodik in der Modellierung, Simulation und Optimierung der Prozesselemente.“
Zunehmende Bedeutung gewann in den vergangenen Jahren die Behandlung von Problemstellungen, die sich aus den komplexen Wechselwirkungen zwischen wissenschaftlich-technischen, ökonomischen, ökologischen und gesellschaftlichen Anforderungen an die künftige Technikentwicklung ergeben – umrissen mit den Stichworten Techniksicherheit, Ambivalenzen und Nachhaltigkeit der künftigen Entwicklung. Damit wurde der Rahmen von technischen Sachsystemen über sozio-technische bis zu politischen und ökologischen Systemen gespannt, ein Betätigungsfeld, dessen Ergebnisse sich vor allem an eine breite Öffentlichkeit der Technologie-Begleiter, wie Lehrer, Ökonomen, Philosophen, Soziologen und Politiker, richten.
Die Leibniz-Sozietät hat mit Ernst-Otto Reher ein aktives Mitglied verloren, dessen kontinuierliche, umsichtige, anregende und vielfältig gestaltende Anteilnahme am wissenschaftlichen Leben unserer Sozietät deren Wirken bereichert hat. Seine Kollegen und Freunde im In- und Ausland verlieren einen aufrichtigen, ideenreichen, konstruktiven und verständnisvollen Partner. Die Familie hat den fürsorglichen Familienvater verloren, der mit seiner Ehefrau Svetlana über all die Jahrzehnte fest zusammen hielt. Ernst-Otto Reher lebte für die Wissenschaft und hinterlässt eine schmerzliche Lücke. Die Leibniz-Sozietät der Wissenschaften zu Berlin wird sein Andenken stets in Ehren halten.
Seinen Freunden und Mitstreitern im In- und Ausland bleibt die Erinnerung an einen aufrichtigen Menschen und guten Kollegen.
Dieter Seeliger