Wortmeldung zum Thema: Arzneimittelprüfung in der DDR
Zum Thema “Arzneimittelprüfung in der DDR” erreichte uns die folgende aktuelle Wortmeldung von unserem Mitglied Prof. Dr.med. Dr.rer.nat Stephan Tanneberger (Fondazione ANT Italia) und von Herrn Dr.phil. Hartmut Bettin WMA (Institut für Geschichte der Medizin, Universitätsmedizin Greifswald):
Sensationsjournalismus statt wissenschaftlicher Aufarbeitung.
Einige Medien ignorieren medizinhistorische Forschung und kriminalisieren pauschal die Arzneimittelprüfungen in der DDR
In unregelmäßigen Abständen werden „Aktenfunde“ präsentiert, die die Beteiligung von DDR-Kliniken an „Tests“ von Arzneimitteln für Westfirmen gegen Devisen belegen sollen. „Enthüllt“ wird der „Verkauf“ von DDR Bürgern als „Versuchskaninchen“. Wahr ist, dass eine Aufwandsvergütung von klinischen Arzneimittelprüfungen bis heute in der ganzen Welt üblich ist und von der DDR nie bestritten wurde. Höchst bedenklich sind, mangelnde Sachkenntnis der Autoren und polemisierende Phrasen. So wird verantwortungsbewusstes Monitoring bei der Erprobung möglichen Nebenwirkungen mit den Worten beschrieben: „Die Patienten kotzten und verloren ihre Haare“ (Spiegel 1991).
Weitaus schlimmer ist aber die Ignoranz gegenüber den fachlich verantwortlichen Institutionen. Der Bundesverband der Pharmazeutischen Industrie nahm in seiner Zeitschrift für Arzneimittel- und Gesundheitswesen „Medikament und Meinung“ bereits zu den ersten Meldungen des Spiegel vom 18. Februar 1991 Stellung und schrieb: „Klinische Prüfungen kein schmutziges Geschäft – Internationaler Standard auch in der Ex-DDR gewahrt“. Auf Grund der erhobenen Vorwürfe wurde im Februar 1991 eine Senatskommission unter Leitung von Frau Prof. Ruth Mattheis, der damaligen Vorsitzenden der Ethikkommission der West-Berliner Ärztekammer gebildet, welche die Vorwürfe untersuchte. Die Kommission besuchte in der Zeit vom 1. März bis zum 1. Juli 1991 vier Krankenhäuser und drei Forschungsinstitute in Ostberlin. Dabei bestand Gelegenheit mit 68 an Arzneimittelprüfungen beteiligten Ärzten zu sprechen. Es wurden schriftliche Einzelunterlagen von 120 Prüfungen aus insgesamt 9 Krankenhäusern und Forschungsinstituten gesichtet. Die Kommission kam zu dem Ergebnis, dass die gesetzlichen Bestimmungen der DDR nicht hinter den Regelungen des bundesdeutschen Arzneimittelgesetzes zurückblieben, in einzelnen Punkten sogar darüber hinausgingen. Außerdem wurde im Bericht der Senatskommission festgestellt, dass das Prüfdesign der so genannten Doppelblindstudie mit Placebo nur dann zur Anwendung kam, wenn keine anerkannte Standardtherapie zur Verfügung stand und dass sich für unverhältnismäßig viele Prüfungen, darunter besonders solche der Phasen I und II, keine Bestätigung fand. Der Bericht wurde in der Fachzeitschrift „Berliner Ärzte“ unter dem Titel „Arzneimittelprüfungen in Ost-Berlin. Bericht der Untersuchungskommission“ abgedruckt. Eine umfassende Darstellung des gesamten Gebietes findet sich in dem von H. Bettin und M. Gadebusch Bondio 2010 herausgegebenen Sammelband „Medizinische Ethik in der DDR. Erfahrungswert oder Altlast?“
Im Dezember 2012 berichtete der Spiegel erneut von „Geheimen Pillentests in der DDR“ und erklärte, dass westliche Pharmafirmen jahrelang Medikamente an „ahnungslosen DDR-Bürgern ausprobiert hätten“, ohne dafür einen wissenschaftlichen Nachweis präsentieren zu können. Gleiches gilt für Zeitungsberichte von Spiegel, Focus, Handelsblatt, Ostsee-Zeitung im Mai 2013. Dabei werden immer wieder klinische Studien als „Menschenversuche“ bezeichnet und so ahistorisch in die Nähe der verbrecherischen Forschungen in der NS-Zeit gebracht. Studien an inzwischen etablierten, hochwirksamen Arzneimitteln, wie „Ramipril“ werden im Nachhinein als unverantwortlich bezeichnet. (Ostsee-Zeitung 24.5.2013). Im Zusammenhang mit den vielfach angeführten Todesfällen (z. B. MDR: Tests und Tote – Pharmaversuche an DDR-Bürgern 09.04.2013/22:05 Uhr) als Folge von Arzneimitteltests in DDR-Kliniken ist anzumerken, dass keineswegs geklärt ist, ob diese Todesfälle überhaupt auf die Einnahme eines Arzneimittels zurückzuführen sind. Grotesk ist es, wenn dort ohne Einzelheiten zum Studiendesign, Pillen ohne Wirkstoff angeprangert werden. Dies ist bei einem Doppelblindversuch selbstverständlich.
Um nicht vorschnell ein verzerrtes Bild einer skrupellosen DDR-Medizin zu zeichnen, ist eine wissenschaftliche Aufarbeitung mit Augenmaß und Sachverstand nötig. In Fällen unzureichender Aufklärung der Patienten ist differenziert zu klären, ob das in der individuellen Verantwortung der am Test beteiligten Ärzte lag oder ob staatlicher Druck ausgeübt wurde. Eine tendenziöse Aufarbeitung anhand unbewiesener Annahmen führt nicht nur zu einer Vorverurteilung von DDR Wissenschaftlern, sondern rückt generell die Praxis klinischer Arzneimittelprüfungen und die Arzneimittelforschung in ein finsteres Licht. Die Meinung von Patienten verdient immer unseren Respekt. Aber vereinzelte Aussagen zu Jahrzehnte zurückliegenden Ereignissen oder Aufzeichnungen von Angestellten oder Zuträgern irgendwelcher DDR-Behörden ohne quellenkritische Bewertung zu benutzen, ist unwissenschaftlich. Eine massive Vorverurteilung von Forschern in der DDR, die im Auftrag des DDR-Staates zu „unmenschlichen Tests“ genötigt waren, führt zu dem Eindruck, dass auf diese Weise politisch Stimmung gemacht werden soll. Dabei wird jedoch vergessen, dass nicht nur das redliche und seriöse Wirken von Medizinern in der DDR, sondern auch die aktuelle Praxis der nie ganz risikofreien Arzneimittelerprobung in eine dunkle Ecke gezerrt wird. Dies schadet dem Vertrauen zur Medizin, dem medizinischen Fortschritt und damit nachhaltig den Patienten.
Dr.phil. Hartmut Bettin WMA (Institut für Geschichte der Medizin, Universitätsmedizin Greifswald)
Prof. Dr.med. Dr.rer.nat Stephan Tanneberger (Fondazione ANT Italia)
Berlin; 13.06.2013