Kurzbericht zur Sitzung des Arbeitskreises Gesellschaftsanalyse am 14.2.2025

Gegenstand der Diskussion war:
Bruno Latour/Nikolaj Schultz „Zur Entstehung einer ökologischen Klasse. Ein Memorandum“ (Edition Suhrkamp 2022)
Es war durchaus erhellend und erfrischend, dass Hans-Christoph Hobohm in seiner Einführung in die Diskussionsrunde auf den Unterschied der Bedeutung von „Memorandum“ im französischen Kontext gegenüber der im deutschen hinwies. Ist es im ersteren eher eine Art Notiz, Hinweis („Memo“) für die Partei der Grünen (in Frankreich), so hat es im Deutschen doch eine stärkere Akzentuierung, sagt es Grundsätzliches. Auch von mir wurde es die Schrift so wahr genommen und platziert (zumal als Summa eines bedeutenden Philosophen und Soziologen) – in der Tat scheint sie diesbezüglich schillernd. Ist es eine (Wieder-)Erweckung einer „Klasse“ oder nur eine Ermunterungen für die Partei der Grünen?
Dieser Hinweis auf den Kontext – räumlich, zeitlich, kulturell – korrespondiert treffend mit unserer Beschäftigung mit Zeitanalyse bzw. deren Relevanz für die Transformationsperspektive. Immer wieder (und nochmals zugespitzt mit den Zeitbrüchen heute) stellt sich die Forderung, einem abstrakten Universalismus von Begriff bzw. Konzept mit Konkretisierung und Kontextualisierung zu begegnen, um nicht stets erneut nach der schwarzen Katze im dunklen Raum zu haschen.
In der Vorbereitung zur Diskussion war den Teilnehmenden ein Exposé zur Schrift sowie eine knappe inhaltliche Einsteuerung übermittelt worden. Durch einige Absagen, nicht zuletzt bedingt durch den plötzlichen Wintereinbruch, war der Kreis der Beteiligten an der Sitzung am 14. Februar mit zehn Personen etwas kleiner gezogen, die Diskussion dann aber sehr intensiv. Im Sinn der regelmäßigen Kurzberichte aus dem Arbeitskreis, die knapp und „ungeschützt“ Diskussionsanregungen über den Arbeitskreis hinaus geben sollen, werden auch diesmal nur einzelne (in diesem Fall sind das drei) übergreifende Punkte herausgegriffen. Selbst diese relativ kleine Schrift bietet viele Facetten.
Ein erster stellt die Schrift „Zur Entstehung einer ökologischen Klasse“ in den Kontext unserer Zeitanalysen. Inwiefern leistet sie hierfür einen eigenständigen Beitrag? Denn auch wenn diese Frage über den französischen Anspruch von „Memorandum“ hinausgeht – diesem Anspruch muss sich die Schrift – eben auch als eine Art Vermächtnis Latours – stellen. Und in der Tat liegt in der Bestimmung einer übergreifenden, zentralen Zeitperspektive – alles steht unter der ökologischen Herausforderung – die Rechtfertigung dafür. Nicht, dass dies die einzige oder eine noch nicht gehörte Stimme wäre (das würde selbst dem Lebenswerk von Latour widersprechen); es ist aber doch eine sehr wirkungsvolle Skandalisierung dieses Problems. Mit dem Verweis auf die einschneidende Wirkung der Corona-Pandemie wie dann auch den Krieg in der Ukraine ist ein Aktualitätsbezug gesetzt; diese komplexe Krisensituation sei „kaum zu verkraften“. Die Autoren bringen für die Zuspitzung der ökologischen Herausforderung zum Teil originelle Beschreibungen und ebenso originelle Schlussfolgerungen – man müsse unterscheiden „zwischen einer Zeit, in der man lebt, und einer Zeit, von der man lebt“. Damit fassen sie die Generationenproblematik, die dann auch Nikolaj Schultz in einer kleinen Schrift (Landkrank i.O. „Mal de Terre“ = Krank an der Erde) weiter thematisiert.
Allerdings schien es den Anwesenden im Arbeitskreis nahezu einhellig so, dass die beiden Autoren mit ihrer Zentralstellung der ökologischen Problematik zwar eine große Frage aufmachen, für deren Bearbeitung bzw. Beantwortung eher wenig Konkretes beizusteuern haben. Die mit dem bekannten praxistheoretischen Hintergrund von Latour erwartete Aufschlüsselung der ökologischen Praxis – also entsprechender Konflikte und Auseinandersetzungen, Frontstellungen und Formierungen (selbst in Sinn seiner Akteur-Netzwerk-Theorie) – bleibt sehr allgemein. Hier sind andere Stellungnahmen näher an der widersprüchlichen Realität, bieten sie vor allem ein überzeugenderes Gesellschaftsverständnis. Vielleicht ist das einer der Gründe dafür, dass dieses Memorandum recht widersprüchlich bzw. verschieden rezipiert wird; vielfach ist offensichtlich mehr erwartet worden. Ob und inwieweit es also Denkanstoß sein kann, ist sicher offen und wird unterschiedlich beurteilt.
Hierin liegt zugleich eine gewisse Gefahr der Unterschätzung, denn als einen Denkanstoß sollte man die Schrift schon nehmen. Weil aber die diesbezüglich in der Tat „anstößigen“ Problematisierungen von den Autoren nur bedingt aufgenommen und untersetzt werden, besteht die Gefahr, gerade Anstoß und Anregung zu übersehen. Denn die folgende These lässt sich durchaus wagen: Die aufgeworfenen Fragen stehen als offene und ungelöste nicht nur vor diesen beiden Autoren. Kritik sollte sich also nicht im Aufzeigen von Begrenzungen „ausruhen“, sondern sich stimuliert sehen, die aktuelle Debattenlandschaft insgesamt zu durchforsten, Selbstgewissheit wäre fehl am Platze. Dazu die zwei anderen Punkte.
„Ein Gespenst geht um“ – die Schrift verweist auf die erforderliche und sich nachweislich, wenn auch widersprüchlich und „zäh“ im Entstehungsprozess befindende „ökologische Klasse“ als Adressat ökologischer Konflikte bzw. Subjekt seiner Bearbeitung. Also etwa im Sinn einer „Fiktion“ nach Vaihingers „Philosophie des Als-Ob“, die dann wenigstens zur Orientierung praktischen Verhaltens dienen könnte? Vielleicht aber letztlich doch eher „Irrlicht als Feuer“ (Koch)? In der Tat fasst diese Metapher die übergreifende Intention unserer Debatte treffend zusammen: Im Unterschied zur konzeptionellen Begründung (dazu später) hatte der von Latour/Schultz verfolgte Klassenbezug das Motiv, gerade die besondere Mobilisierungskraft dieses Terminus‘ in den Mittelpunkt zu stellen. Klasse als Kampfbegriff, nicht als trivialisierter Schichtungsbegriff. Die Rede ist von „Schlachtordnung“, dem „Kampf um Klassifizierung“ angesichts eines „ökologischen Kriegszustandes“. Kein historischer Begriff hat offensichtlich eine ähnliche Faszination. Das hatten wir so in etwa auch bei McKenzie Wark gesehen. Dort allerdings war diese Faszination an eine spezifische Machtrelation gebunden, an die Herrschaft der Vektoralistenklasse über die der Hacker. Insofern lässt sich ein mobilisierungsfähiger Antagonismus finden; im Memorandum bleiben eher Appell und Anspruch. Die Lähmung wird als „erdrückend“ empfunden, ein Kampf um die Hegemonie sei erforderlich. Wie und wo aber in der Gesellschaft genau? „Eigentlich“ sei die ökologische Klasse „potenziell“ schon in der Mehrheit, umfasse sie alte und neue Gruppen, weite Teile der Intelligenz, die Religion usw. Die Beispiele überzeugen in der einfachen Aufzählung kaum.
Es sei dahingestellt, ob ein solcher Anspruch sich überhaupt aus der „Geschichte der Klassenkämpfe“ begründen lässt, oder ob er nicht selbst eine ideologische Überhöhung darstellt; der von Latour/Schultz vorgenommenen prinzipiellen Distanzierung von Produktion und Industrialismus als überholten klassenkonstituierenden Faktoren ist nur bedingt zu folgen (es ist „was dran“, wie auch bei Fraser oder Wark zu sehen war, das wäre insofern aber eine eigenständige Diskussion), vor allem werden nicht überzeugend andere konstituierende Faktoren angeführt. Auf solche hatte vor allem Nancy Fraser, mehr noch als McKenzie Wark, verwiesen – sie benennt die gegenüber Produktion oder Industrie eben „selbständigen Ontologien“. Bei Latour und Schultz werden solche (entgegen ihrer Behauptung) nicht materialisiert – was ist die gegenüber Produktion auszumachende gesellschaftliche Realität? Gleichwohl sollte man es auch hier nicht bei der Kritik an den beiden Autoren belassen; die Frage einer klassentheoretischen und vor allem klassenanalytischen Konzeptualisierung des ökologischen Konfliktes enthält noch immer eine erhebliche Brisanz. Und nicht zuletzt vollzieht sich mit der krisenhaften Verhärtung des gegenwärtigen Kapitalismus eine folgenreiche Zurückstellung dieses Konfliktes. Das Kapital mobilisiert für Standort und Produktion (statt ökologischer Transformation). So verschärft sich die Gefahr, dass alle gewerkschaftlichen Bemühungen um Transformationsperspektiven (Transformationsräte; Wirtschaftsdemokratie …) zurückgeschrumpft werden auf die Forderung: Hauptsache Arbeit! Darüber hinaus erfolgt keinerlei Klassenmobilisierung. Die noch immer bedeutsamen großen Gruppen der Lohnabhängigen fallen als Subjekte der Veränderung aus, die von Latour und Schultz befürchtete rückwärtsgewandte Blockbildung zeichnet sich in der Tat ab. Mobilisierungsperspektiven sind erforderlich, quasi als Kampf um die Realität, Klassenkampf vor Klassenrealität (noch immer die treffende Zustandsbeschreibung: „Klassen ohne Kapitalismus“). Der Begründungsweg bei Latour/Schultz trägt dazu eher wenig bei. Er fällt so deutlich hinter die unterschiedlichen Sozialbewegungen der letzten Jahrzehnte (Dellheim), oder hinter konkrete ökologische Initiativen (Adler) zurück – ein überraschendes Fazit.
Schließlich kurz der dritte Punkt, der auch in unserer Diskussion im Arbeitskreis nur angerissen werden konnte. Angesichts der grundsätzlichen Herausforderungen, die auch im Memorandum immer wieder verdeutlich (wenn auch nicht systematisch expliziert) werden, ist das ein nur anzudeutender Denkanstoß. Für die beiden Autoren ist die Voraussetzung einer Herauslösung der Entwicklung aus den alten und zerstörerischen Klassenkonflikten (dem Produktivismus mit der Jagd nach immer mehr Wohlstand …) die Gründung dieser Entwicklung in einer neuen Kosmologie, einer anderen Metaphysik. Der neue linke Kompass (der „sozialistische reicht nicht mehr“) für die ökologische Klasse richtet sich auf „Erhalt der Bewohnbarkeit“ der ERDE. Gegenüber dem bisherigen Sinn der Geschichte, dem sich auch die alten Klassen verpflichtet sahen, geht es also um einen radikal anderen Sinn, nicht Entwicklung (immer mehr), sondern Einwicklung (Bewahrung). Gerade die Corona-Pandemie ist nochmals Signal, dass es um radikal neue Weltsichten gehen muss, um ein radikal anderes Wissenschaftsverständnis. Erforderlich sei der Kamp um die „Denkorte“; dieser Kampf habe noch nicht einmal richtig begonnen.
Lassen wir es auch hier bei diesem herausfordernden und offenen Plädoyer, zumeist diskutiert unter der Forderung nach einer „Neuen Aufklärung“. Es scheint so, dass gerade auch angesichts von Digitalisierung und Informatisierung die Forderungen nach einer angemessenen Transdisziplinarität nicht mehr zu ignorieren sind. Es gehe, so Latour und Schultz, um „die heikle Kunst der Wissenschaftspolitik“, denn sie konstatieren: „Leider wurden auch noch die Universitäten verwüstet, das Forschungssystem geopfert, die Ausbildung in ihrer Bedeutung herabgesetzt …“. Und das „in Anbetracht des erdrückenden Nichtwissens“. Nehmen wir diese Skandalisierung als Denkanstoß.
Michael Thomas