Dezember-Klassensitzung: Emergente Systeme; Bericht

Theoria cum praxi et commune bonum: Emergente Systeme. Information und Gesellschaft – Problemstrukturen und Lösungsansätze

Bericht

In dem eintägigen Kolloquium am 10. Dezember 2015 im Rathaus Berlin-Tiergarten, das von 10:00 bis 17:00 Uhr stattfand, haben Wissenschaftler aus verschiedenen Disziplinen der Natur- und Technikwissenschaften sowie der Sozial- und Geisteswissenschaften Forschungsergebnisse, ihre Problemsichten und Empfehlungen zum Thema vorgestellt.

Am Kolloquium nahmen 63 Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler teil.

H.-J. Kreowski (MLS) und W. Hofkirchner (MLS), Kovorsitzende des AK "Emergente Systeme"; Foto: D. Linke
H.-J. Kreowski (MLS) und W. Hofkirchner (MLS), Kovorsitzende des AK “Emergente Systeme”; Foto: D. Linke

Das Anliegen des Kolloquiums widerspiegelt in besonderem Maße die inter- und transdisziplinären Intentionen der Leibniz-Sozietät. Emergenz als spontane Herausbildung neuer permanenter Systemstrukturen und Eigenschaften offener Systeme infolge der Kooperation seiner Elemente, meist mit der konstituierenden Selbstorganisation einer systemtypischen Art, ist ein herausragendes Phänomen von außerordentlicher theoretischer und praktischer Bedeutung.

Emergenz ist auch intrinsisch mit der Entstehung von Information verbunden. Informationsgeschehen findet sich bereits in der Evolution der natürlichen Systeme, erhält aber in der gesellschaftlichen Entwicklung eine zentrale Bedeutung für eine Transformation, die Humanität und Überleben sichern kann. Das Verhältnis von Emergenz und Informationsgeschehen spielt bei der Frage der Gestaltung soziotechnischer Systeme, die das soziale Informationsgeschehen vermitteln, eine entscheidende Rolle.

Die folgende Übersicht der Vortragsthemen, die drei Problemkomplexe umfassen, gibt einen exemplarischen Einblick in das, nach der Leibniz’schen Maxime „Theoria cum praxi et commune bonum“ erfolgreich behandelte Spektrum:

I.   Die Gestaltung der Informationsgesellschaft im Gesamtzusammenhang

1.  Wolfgang Hofkirchner: Eine Informatik für eine globale nachhaltige Informationsgesellschaft

2.  Rainer Zimmermann: System, Materie, Information. Probleme der Grundlegung ihrer Begriffe

3.  Tomáš Sigmund: Informationsethik – Probleme, Risiken und provisorische Lösungen

II.   Entropie – Information – soziotechnische Systeme

4   Werner Ebeling: Entropie – ein Begriff der Physik, der universelle Bedeutung gewinnt

5.   Klaus Fuchs-Kittowski: Entstehung und Erhaltung der Information in lebendiger Organisation

6.   Peter Brödner: »Information« – allgegenwärtig, doch ungeklärt

III. Probleme der Gestaltung soziotechnischer Systeme

7.   Werner Zorn: Über die Schwierigkeit mit Hierarchien

8.   Christian Stary: Systeme von Systemen

9.   Hans-Jörg Kreowski: Autonomie in technischen Systemen

Die Kurzfassungen der Vorträge geben eine etwas genauere Information.

  1. Wolfgang Hofkirchner: Eine Informatik für eine globale nachhaltige Informationsgesellschaft

Die weltgeschichtliche Situation der Menschheit kann von einer systemtheoretischen Perspektive als Krise interpretiert werden, in der das Risiko des Zusammenbruchs der Zivilisation mit der Chance auf den Durchbruch zu einer Transformation in Richtung einer dauerhaften und lebenswerten Gesellschaft einhergeht. Wenn wir danach fragen, welche Rolle der Information in diesem Transformationsprozess zukommen müsste, dann ist die Antwort darauf die, dass Information die Voraussetzung dafür darstellt, dass die gestiegene Komplexität der Interaktion der voneinander abhängig gewordenen sozialen Systeme in Sicht genommen und wieder in den Griff bekommen werden kann. Die Informatik müsste demnach so gestaltet werden, dass Anwendungen die Generierung solcher Information (Wissen, Weisheit) erleichtern und befördern, die für die Transformation gebraucht wird.

  1. Rainer E. Zimmermann: System, Materie, Information. Probleme der Grundlegung ihrer Begriffe

Die Arbeit der letzten vier Jahre zusammenfassend, sollen die Begriffe von System, Struktur, Netzwerk, Raum, Materie und Information in ein korrektes Verhältnis gebracht und zu einer präzisen und konsistenten Definition zusammengeführt werden, welche die Interdisziplinarität des systemtheoretischen Ansatzes zu verdeutlichen imstande ist. Der unmittelbare Verweisungszusammenhang zwischen der Grundlegung der Begriffe einerseits, einer im Grunde philosophischen Aufgabe, und der ethischen Konsequenzen im Rahmen einer politischen Praxis andererseits, wird dabei besonders hervorgehoben.

  1. Tomáš Sigmund: Informationsethik – Probleme, Risiken und provisorische Lösungen

Ich möchte mich in meinem Referat damit beschäftigen, dass in unserer von Kommunikations- und Informationstechnologien beeinflusste Epoche die ethischen Prinzipien in Frage gestellt werden. Wenn wir die Herausforderung, vor der wir dadurch stehen, nicht gut verstehen, droht uns entweder Dogmatismus oder Relativismus. Unsere Zeit erinnert uns aber eher daran, dass Ethik eine unendliche Bestrebung erfordert, weil sie uns unlösbare Aufgaben gibt, die wir jedoch als endliche Wesen in jeder konkreten Situation provisorisch zu lösen versuchen müssen.

  1. Werner Ebeling: Entropie – ein Begriff der Physik, der universelle Bedeutung gewinnt

Es wird gezeigt, dass der Entropiebegriff, der ursprünglich von Clausius, Boltzmann und Planck als ein Maß für den Wert von Energie und für Unordung in der Physik eingeführt würde, immer mehr an universeller Bedeutung gewinnt. In der Informationstheorie ist die Entropie das zentrale Maß für die Menge übertragener Information und sie ist auch in der Komplexitätsforschung eine wichtige Größe. Es werden Argumente diskutiert, warum der Entropiebegriff auch in der Ökonomie, der Medizin und in den Gesellschaftswissenschaften immer mehr an Bedeutung für die quantitative Beschreibung gewinnt und wie das auch mit dem Siegeszug von Informationstechnologien zusammenhängt.

  1. Klaus Fuchs-Kittowski: Entstehung und Erhaltung der Information in lebendiger Organisation – Kreativität – Entstehung und Erhaltung der Information. Grundkategorien einer Theorie der Biologie und der Informatik 

Elsasser formulierte den Gedanken, dass jeder Theorie ein Grundkonzept zugrunde liegen muss. So wie der Quantentheorie das Konzept der Quanten, sollte einer Theorie der Biologie das Konzept der Kreativität zugrunde gelegt werden. Da der Begriff der Kreativität zu vage ist, denn er erklärt in der Natur nichts, ist er durch das Konzept der Informationsentstehung zu präzisieren. Will man das Wesen eines Phänomens erfassen, muss man auch nach seiner Entstehung fragen. Die Kybernetik wie auch die technische Informatik, setzen die Existenz der Information immer schon voraus, nach ihrer Entstehung wird nicht gefragt. Dies kann jedoch nicht ausreichen, wenn es um die Entstehung und Entwicklung des Lebens und um das Verständnis sozialer Organisation, speziell um den Einsatz von Computern und Computernetzen in sozialer Organisation geht. Denn lebende sich entwickelnde Organismen und soziale Organisationen, in denen und für die moderne Informations- und Kommunikationstechnologien funktionieren sollen, sind keine kybernetischen Funktionssysteme, sondern Aktionssysteme, für die Informationsentstehung und Wertbildung charakteristisch ist. Information ist hier weder als eine schon zuvor existierende Struktur (im Sinne eines mechanischen Determinismus) noch als völlig subjektive Konstruktion (im Sinne des subjektiven Idealismus) zu verstehen, sondern als ein Phänomen, welches in der Interaktion offener Systeme, im Prozess ihrer Selbstorganisation entsteht. Information ermöglicht erst organisierte Strukturen, die komplizierte Funktionen realisieren können. Wobei die Information erst durch die Funktion, über die damit erfolgende Bewertung ihre Bedeutung erhält und damit entsteht. Es ist also ein in sich widersprüchlicher Kreisprozess und wechselseitiger Bedingungsprozess: von Abbildung (Struktur), Interpretation (Bedeutung) und Bewertung (Funktion, Verhalten), der zur Entstehung von Information führt. Es ist eine wichtige Erkenntnis, dass sich das Prinzip der Informationsentstehung, wie bei der Modell- und Theorienbildung im Grenzbereich zwischen Physik, Chemie und Biologie (Eigen 1971), auch für die Modell- und Theorienbildung im Grenzbereich zwischen: Informationsübertragung und Ontogenese, Computer (Software) und menschlichem Geist sowie Informationssystem und sozialer Organisation als grundlegend erweist. In „Reflection on a Theory of Organism“ werden von Elsasser vier Grundprinzipien einer weder mechanistischen bzw. physikalistischen noch vitalistischen Theorie der Biologie formuliert. Die Beachtung bzw. genauere Untersuchung dieser vier Prinzipien sind entscheidend, um das Verhältnis von Physik, Chemie und Biologie sowie das Verhältnis von Automat und Leben und damit Grundfragen der Modellierung biologischer Systeme zu klären. Besonders wichtig ist hierbei die Unterscheidung zwischen Speicher und Gedächtnis, die Frage nach der Erhaltung der Information über längere Zeit im Computer und in lebendiger Organisation.

6.       Peter Brödner: »Information« – allgegenwärtig, doch ungeklärt

In dem Vortrag zeige ich, dass die Benennung »Information« mindestens drei ganz unterschiedliche, miteinander unvereinbare Begriffe bezeichnet, und spüre den Wurzeln dieser Begriffsverwirrung nach. Für die Analyse und Gestaltung von computerunterstützten Organisationen als soziotechnischen Systemen ist dieser Umstand fatal, weil bei deren Beschreibung zwei dieser Begriffe zugleich gebraucht werden, aber nicht verschieden benannt werden können. Unter Rekurs auf den Peirceschen triadischen Zeichenbegriff wird mit dem »algorithmischen Zeichen« eine gebrauchstaugliche begriffliche Alternative eingeführt und deren Sinnhaftigkeit an Vorgängen organisationalen Wandels durch Computereinsatz exemplarisch aufgezeigt.

  1. Werner Zorn: Über die Schwierigkeit mit Hierarchien

Das Verstehen komplexer Systeme in Technik und Gesellschaft erfordert zwangsläufig die Analyse der inhärenten hierarchischen Strukturen. Die mit dem Hierarchiebegriff landläufig verbundene Vorstellung von vorgegebenen baumförmigen Aufbaustrukturen reicht hierzu jedoch nicht aus, da hiermit keinerlei Aussagen zum dynamischen Verhalten ebenso wenig wie zur Sinnhaftigkeit einschließlich Selbstorganisation von Hierarchien möglich sind. Der Vortrag stellt, aufbauend auf der am HPI entwickelten 3-dimensionalen Modellierungsmethodik FMC (Fundamental Modeling Concepts), eigene Ansätze zur strukturellen ebenso wie zur quantitativen Modellierung dynamischer hierarchischer Systeme vor. Ein allgemeines Kriterium für Hierarchiebildung ergab sich dabei aus der quantitativen Modellierung.

  1. Christian Stary: Systeme von Systemen

Der Vortrag geht auf den Ansatz von verschränkten Systemen zur Systemgestaltung ein und thematisiert die Ermöglichung von Verhalten, welches durch die Verschränkung ermöglicht wird. Insbesondere wird auf die Prinzipien operationale und verwaltungstechnische Unabhängigkeit der beteiligten Systeme, die geographischen Verteilung sowie die evolutionären Entstehung und Emergenz eingegangen. Beispiele aus dem Bereich Lernunterstützungssysteme dienen der Veranschaulichung der Überlegungen

  1. Hans-Jörg Kreowski: Autonomie in technischen Systemen 

Seit über einem Jahrzehnt wird in der Robotik und anderen technisch-wissenschaftlichen Bereichen erforscht, wie technische Systeme autonom oder zumindest teilautonom gemacht werden können. In dem Vortrag wird darauf eingegangen, worin technische Autonomie besteht, welche Möglichkeiten sie eröffnet, wo die Grenzen der Machbarkeit liegen und welche Chancen und Risiken damit verbunden sind.

Diskussion

Trotz des relativ engen zeitlichen Rahmens von insgesamt ca. 45 Minuten hat die – zweckdienlich nach Problemkomplexen – dreigeteilte, außerordentlich anregende, faktenreiche und intensiv geführte, inter- und transdisziplinäre Diskussion zu Problemstrukturen und Lösungsansätzen im Kolloquium eine wesentliche Rolle gespielt. Sie wurde durchgängig vom Sekretar der Klasse Naturwissenschaften und Technikwissenschaften, Herrn Lutz-Günther Fleischer, moderiert.

Hervorgehoben wurden – auch im Detail – wiederholt die Möglichkeiten und Notwendigkeit einer Fortführung, Ergänzung und Qualifizierung in der zukünftigen Arbeit des Arbeitskreises „Emergente Systeme. Information und Gesellschaft“. Der Meinungsaustausch und die Auseinandersetzungen unter dem verpflichtenden Leibniz‘schen Leitmotiv „Theoria cum praxi et commune bonum“ wurden dieser inhaltlichen und methodischen Herausforderung gerecht.

Die beiden Vorsitzenden des Arbeitskreises Wolfgang Hofkirchner und Hans-Jörg Kreowski bekannten sich expressis verbis zu dieser Maxime und erörterten eingangs im Dialog ihre genaueren Vorstellungen über die zukünftige Arbeit.

Zu Beginn der Diskussion des ersten Problemkomplexes „Die Gestaltung der Informationsgesellschaft im Gesamtzusammenhang“ verwies Herr Hörz auf die inhaltlichen Beziehungen der im Kolloquium behandelten Problematik zum vorangegangenen Symposium der Rosa-Luxemburg-Stiftung zu Ehren von Emil Fuchs und betonte die gesellschaftlichen Interessen sozialer Schichten sowie die Bedeutung konkreter Zielstellungen in der Ethik. Im Weiteren äußerten sich die Herren Brödner, Fuchs-Kittowski, Küttler, Banse, Thomas und Fleischer zur Bedeutung der Intensionalität als notwendige Bedingung für Sozialität, zum Verhältnis von Systemtheorie und Kybernetik, zur Realitätsbeziehung von Theorien und Modellen, zur Universalität der Menschenrechtskonvention, zu warnfähigen Merkmalen bevorstehender Systemkrisen bzw. –bifurkationen, zur Spezifik des Sozialen/Humanen im Evolutionsprozess sowie zur Hierarchie von Informationssystemen und dem Zusammenhang von Struktur und Funktion/Funktionalität.

In der Aussprache zum zweiten Problemkomplex „Entropie – Information – soziotechnische Systeme“, an der sich die Herren Fleischer, Ebeling, Brödner, Ullrich, Fuchs-Kittowski, Hörz, Zimmermann und Bernhardt beteiligten, wurden die Verallgemeinerungsfähigkeit des Entropiekonzeptes erörtert, die aus der übergreifenden Funktion der Entropie als Wertmaß, Ordnungsparameter und Prozessindikator resultiert, mögliche Modifikationen und nötige Spezifikationen des Informationsbegriffes, der Zusammenhang von Entropie und Information sowie die Rolle der Information bei der Entstehung des Lebens teils kontrovers diskutiert, auf die Grenzen der Helmholtz‘schen Zeichentheorie verwiesen, die das Informationskonzept nicht substituieren kann, und nach der Veränderung der globalen Entropiebilanz im Zusammenhang mit der derzeitigen Strahlungsimbalance des Klimasystems gefragt.

An der Diskussion zum dritten Problemkomplex „Probleme der Gestaltung soziotechnischer Systeme“ beteiligten sich die Herren Fleischer, Küttler, Brödner, Zorn, Dittmann und Fuchs-Kittowski. Erörtert wurden engere und weitere Hierarchiebegriffe, die realen Interaktionen von Hierarchien und Heterarchien, die Rolle der Dynamik gesellschaftlicher Prozesse sowie sozialer Interessen und Strukturen, die Risiken und Gefahren autonomer Systeme in Technik und Gesellschaft, die Frage eines neuen Entwicklungsstadiums der Industrialisierung dank der Einführung autonomer Strukturen sowie deren realer und potentieller Missbrauch für menschenfeindliche, insbesondere militärische Zwecke.

Der Verlauf des Kolloquiums und die Resonanz aus dem Auditorium belegen, dass die Problematik theoretisch und praktisch außerordentlich bedeutsam und zudem von hohen perspektivischen gesellschaftlichem Interesse ist.

Der Präsident der Leibniz-Sozietät der Wissenschaften, Herr Gerhard Banse, hatte in seiner Eröffnung des Kolloquiums der Rosa-Luxemburg-Stiftung ausdrücklich für die finanzielle Förderung dieser Veranstaltung gedankt.

Lutz-Günther Fleischer
Sekretar der Klasse Naturwissenschaften und Technikwissenschaften