Bericht zur Sitzung des Arbeitskreises Gesellschaftsanalyse

Nachdem in den Vormonaten eine große Mehrheit aus dem bisherigen, über mehr als ein Jahr vor allem wegen der Corona-Auflagen ruhenden Arbeitskreis für eine Weiterführung des Arbeitskreises votiert hatte, startete dieser mit einer Auftaktsitzung am 9. Juni im Gebäude der Rosa-Luxemburg-Stiftung. Es war vorab entschieden und zudem mit dem genannten Votum verbunden, dass sich thematische Orientierung und Durchführungsformat des Arbeitskreises verändern.

Während thematisch über die vergangenen Jahre die Auseinandersetzung mit dem Thema „Transformation“ (mit theoretischen Konzepten, historischen Fallbeispielen und aktuellen Analysen) die Zusammenkünfte des Arbeitskreises und eine beachtliche Anzahl von Publikationen dominierte, soll es in der nächsten Zeit vor allem um Zeitdiagnosen gehen, um Fragen nach Zeitgeist, Epochenbruch, Zeitwende etc. Lässt sich angesichts ersichtlicher Veränderungen im gesellschaftlichen Kontext, vor allem auch mit Blick auf die globale Tektonik, überhaupt noch sinnvoll nach Transformation fragen bzw. mit einem solchen Konzept (abgesehen von inflationärer Beliebigkeit) analytisch und theoretisch arbeiten?

Zugleich mit dieser inhaltlichen Neuausrichtung ergab sich nahezu zwangsläufig auch eine solche im Durchführungsformat: Nicht mehr Ergebnisstudien oder konzeptionelle Überlegungen zur Transformation werden im Mittelpunkt stehen, sondern vorliegende Zeitdiagnosen. Seien es konkrete Analysen zu einzelnen Phänomenen, seien es komplexe Interpretationen, gesellschaftstheoretische Entwürfe oder Deutungen. In einer möglichst großen Fülle und Vielfalt sollen solche vorgestellt und diskutiert werden.

In der Sitzung am 9. Juni, die unter durchaus extremen Witterungsbedingungen und wohl auch deshalb mit „nur“ neun Teilnehmenden stattfinden musste, führte Michael Thomas zunächst nochmals in diese thematische Neuausrichtung ein. Er verband die Einführung mit einigen generellen Anmerkungen zur Analyse und Bestimmung von Epochenbrüchen und zur erforderlichen Differenzierung von Epochenbruch und Zeitenwende. Dabei hatte er sowohl auf die disparaten Debatten unter Historikern verwiesen wie vor allem an Habermas‘ „Stichworte zur ‚Geistigen Situation der Zeit‘“ von 1979 erinnert. Habermas hatte hier quasi den Auftrag für intellektuelle Zeitdiagnose formuliert, sich nämlich „die dumpfe Aktualität bewusst zu machen“.

Die nachfolgende lebehafte Debatte war überaus kontrovers, was nicht nur dem unterschiedlichen Verständnis von Epochenbruch (welcher wiegt mehr, der der 1970er Jahre, vielleicht gar des Jahres 1979, oder der von 1989?) geschuldet war, sondern ebenso einer nicht hinreichend ausführlich zu führenden Diskussion zum zentralen Katalysator einer ausgerufenen „Zeitenwende“, dem Krieg zwischen Russland und der Ukraine. Der Versuch, dies nur als ein markantes Beispiel herauszunehmen, provozierte eine eigenständige Diskussion, die kaum geführt werden konnte. Allerdings wird das Thema so oder so längerfristig auf der Agenda bleiben. Die erhebliche Spanne zwischen Zeitgeist und Zeitenwende ist deutlich; die Diskussion zum Epochenbruch wird wohl ein Element der thematischen Arbeit bleiben. Die einzelnen Texte sind Anregung dafür.

Neben diesen kurzen Einführungen war als thematischer Schwerpunkt der Sitzung am 9. Juni das Buch der bekannten amerikanischen Philosophin Nancy Fraser: „Der Allesfresser. Wie der Kapitalismus seine eigenen Grundlagen verschlingt“ (2023) vorgesehen.[1] Das Buch erweitert und vertieft viele der bisherigen Arbeiten bzw. Stellungsnahmen der Autorin zu den Verwerfungen moderner kapitalistischer Gesellschaften im Bereich Gesundheit und Pflege, also dem breiten Sektor der Sorgearbeit, hin zu einer komplexen, konzeptionell systematischen Analyse dieses Typs von Gesellschaft. Auch hier führte die ausführliche Buchvorstellung zu intensiven und zum Teil nicht weniger kontroversen Auseinandersetzungen. Das ging beim Titel des Buches los, betraf die doch sehr starke Orientierung auf den US-amerikanischen Diskussionskontext und damit verbundene eher zugespitzte, globale und teils auch vereinfachende Aspekte der kritischen Auseinandersetzung (etwa mit globalen Bewegungen). Insofern wurden zwar die von der Autorin praktizierten historischen Analysen zu den unterschiedlichen kapitalistischen Regulationsregimen als sehr anregend aufgenommen, hinsichtlich der Differenziertheit und partiell auch der Neuartigkeit der einzelnen Befunde aber auch kritisiert. Gleichwohl finden sich markante Aspekte kritischer Zeitdiagnose (Konzepte des „progressiven Neoliberalismus“, eines „toxischen Rassismus“ etc.).

Ähnlich sah das für den übergreifenden Anspruch von Nancy Fraser aus, den einseitigen ökonomischen (ökonomistischen) oder politischen (politizistischen) Konzepten zum Kapitalismus nunmehr eines gegenüberzustellen, welches diesen Kapitalismus als komplexe Gesellschaftsstruktur begreift (als „institutionalisierte Gesellschaftsordnung“ und mit diesem analytischen Band zugleich Phänomene wie Rassismus, Geschlecht und Sorgearbeit, Natur oder schließlich Staat zugleich einbindet wie ihnen einen eigenständigen Status (einen „ontologischen Eigensinn“) einzuräumen. Damit sind viele Anregungen und Hinweise verbunden; ein möglicher konzeptioneller Zugewinn der Analyse und Kritik des Kapitalismus „von innen heraus“ lässt sich festhalten. Ob dies deshalb eine so grundsätzliche Kritik an Marx ist bzw. sein muss, ob nicht hier vielmehr eine zu enge Lesart den eigenen Anspruch erst begründet und dieser selbst dann auch nicht immer hinreichend stringent eingelöst wird, blieb und bleibt zumindest umstritten. Das gilt nicht weniger für ihren doch nur sehr allgemeinen Denkanstoß hinsichtlich einer sozialistischen Perspektive.

Wenig umstritten war aber, dass dieses Buch in der Tat eine ganze Reihe von Denkanstößen liefert. Das von ihr beanspruchte und zu einem großen Teil auch eingelöste Vorhaben, die auf- und umbrechenden komplexen Phänomene moderner (kapitalistischer) Gesellschaften in einen tragfähigen analytischen Rahmen zu bringen, kann durchaus als beispielhafter Anspruch für Zeitdiagnosen gesetzt werden. Zu vielen der einzelnen Phänomene lohnen sich vertiefende Untersuchungen; hier liefert die Autorin wichtige Anregungen. Schließlich gilt das auch hinsichtlich globaler Entwicklungen, die von Nancy Fraser vor allem ausführlich unter den Themen Rassismus und Kolonialismus behandelt werden, kaum aber mit Blick auf unterschiedliche gesellschaftliche Konzepte, die möglicherweise (noch? wieder?) im Wettstreit stehen und so dem Allesfresser den Appetit verderben könnten. Insofern und mit diesem Ausblick war die referierte Sitzung durchaus ein gelungener Auftakt.

Michael Thomas

[1] Für die Sitzung waren vorab ein Textauszug (Kapitel I) sowie eine publizierte Referierung von Ulrich Busch zur Verfügung gestellt worden.