Bericht zum Kolloquium und Expertendiskurs “DIE ENERGIEWENDE 2.0: IM FOKUS: DIE MOBILITÄT.” am 07. Mai 2021

In der Jahrtausende währenden Entwicklung der Menschheit konnte der Mensch seit dem Beginn des Gebrauchs des Feuers bis zur Mitte des 18. Jahrhunderts im Wesentlichen nur auf Einkommensenergien zurückgreifen. Dabei spielte der nachwachsende Rohstoff Holz neben der Wasserkraft und der Windkraft die dominierende Rolle. Erst danach dominierte die Verwendung von Vermögensenergien, wie Kohle und Erdöl. Der sich dadurch ergebende Anstieg der Konzentration von Kohlenstoffdioxid in der Erdatmosphäre mit gravierenden Einflüssen auf das Klimasystem der Erde erzwingt nun wieder die Rückkehr zur vorrangigen Nutzung von Einkommensenergien. Diese Rückbesinnung auf die vorrangige Nutzung von Einkommensenergien wird in Deutschland mit dem Begriff Energiewende umschrieben.

Analoges gilt für die Fortbewegung des Menschen, die bis zur Erfindung der Dampfmaschine und nachfolgend der Eisenbahn zu Land neben dem Laufen auf die Nutzung von Pferd und Wagen beschränkt war. Erst mit der Nutzung der Eisenbahn und Jahrzehnte später des Autos nahm die Mobilität der Menschen deutlich zu, was einen starken Anstieg des Energiebedarfs für die Fortbewegung bedeutete.

Ausgehend von der 5. Jahrestagung der Leibniz-Sozietät der Wissenschaften zu Berlin e.V. im Jahre 2012 zum Thema “Energiewende – Produktivkraftentwicklung und Gesellschaftsvertrag”, der bereits mehrere Veranstaltungen und Diskussionen vorausgingen, wurden in den letzten Jahren verschiedene Aspekte der Energiewende systematisch betrachtet. Dafür stehen u.a.:

  • Kolloquium zu Aspekten der Energiewende in Deutschland: Erneuerbare Energieträger – Eigenschaftsprofile, Probleme und realistische Perspektiven ihrer Nutzung unter den Bedingungen Deutschlands am 11. Oktober 2012
  • Kolloquium zum Thema „Energiespeichertechnologien: Notwendigkeiten, Problemspektren, wissenschaftlich-technische Entwicklungen und Perspektiven“ am Dezember 2013
  • Kolloquium zum Thema: “Energiewende 2.0 – Die ambivalente „Wärme“ im Fokus der Wissenschaft und Wirtschaft, der Technik und Technologie” am 19. Mai 2017
  • Öffentliche Disputation zum Thema: „Die Energiewende 2.0: Essentielle wissenschaftlich-technische, soziale und politische Herausforderungen“ am 12. April 2018
  • Öffentliche Disputation zum Thema: „Die Energiewende 2.0 – Im Fokus: Die kardinale Effektivität und Effizienz am 06. Dezember 2018.

Mit dem Kolloquium / der Disputation zum Thema: “Die Energiewende 2.0: Im Fokus die Mobilität”, welches am 07. Mai 2021 als Zoom-Konferenz stattfand und die bereits für April 2020 geplante Veranstaltung nachholte, wurde ein weiterer Aspekt der Energiewende betrachtet.

Die Online-Veranstaltung hatte in der Vormittagssitzung fast 50 Teilnehmer. In der Nachmittagssitzung schalteten sich bis zu 35 Teilnehmer zu.

 Link zum Videomitschnitt hier

Der Vizepräsident der Leibniz-Sozietät, Lutz-Günther Fleischer, eröffnete die Veranstaltung.   Er begrüßte die Teilnehmer*innen und erläuterte zunächst die Durchführung des Online-Kolloquiums, insbesondere die Verfahrensweise der Disputation am Nachmittag.

An Hand der jüngsten kritischen Stellungnahme des Bundesrechnungshofes wies er auf einige Probleme und Versäumnisse bei der bisherigen Umsetzung der Energiewende in Deutschland hin. Es sei festzustellen, dass die rezenten Ergebnisse hinsichtlich der qualitativen Umgestaltung der Energetik und des nachhaltigen Klimaschutzes über vereinbarte Maßnahmen selbst quantitativ deutlich hinter den objektiven Erfordernissen, Erwartungen, überdies zugleich aber auch hinter den sich bietenden Möglichkeiten zurückbleiben. Der Verkehrsbereich sei in dem Sinn besonders auffällig. Die Energiewende 2.0 in Deutschland ist ein tiefgreifender, gesamtgesellschaftlich zu gestaltender und nur so zu bewältigender, weil für alle Bürger und Bereiche der Gesellschaft einschneidender, hochkomplexer Transformationsprozess. Dieser fordert innerhalb des kompliziert verflochtenen, teils sogar verschachtelten Problemgefüges mit klimarelevanten, ökonomisch-ökologischen, technologischen, sozio-technischen. kulturellen und sozialen Komponenten die konsequente und effektiv koordinierte Substitution von Vermögensenergieträgern (fossilen und nuklearen Primärenergieträgern). Anzustreben sei – in den vom nationalen Gesetzgeber nunmehr verkürzten Fristen — ein dynamisch ausgewogener Mix aus Einkommensenergieträgern und eine CO2,äquiv.-Nettoemission von Null bis 2045. Dafür fehlen bisher die Ziel-Mittel-Perspektiven, die Pfade und die angemessenen konkreten Maßnahmen. In Anbetracht dieser Herausforderungen sei ein grundsätzliches Umdenken auch in der Politik unverzichtbar.

Inter- und transdisziplinär müssen im gleichen Sinn die naturwissenschaftliche, technikwissenschaftliche, sozial-, geistes- sowie kulturwissenschaftliche Expertise vollständiger erschlossen und das prädikatenlogische „Wenn-Dann-Konditional“ folgerichtig einbezogen werden.

In dem Kontext skizzierte L-G. Fleischer eine themenrelevante Kernthese: Auf das dynamische organische Ganze komme es an. Es umfasse die, in einem solchen (im weitesten Wortsinn) „Organismus“ obwaltenden polaren und kooperativen Wirkungsbeziehungen sowie die vielfältigen Wirkmechanismen, das interne und externe Gefüge dynamischer Einflüsse/Konditionen, die bedingte und unbedingte Steuerung und Regelung. Zu integrieren seien die variablen Wahrscheinlichkeiten der differenzierten Möglichkeiten, insbesondere jener sie wandelnden komplexen Prozesse. Dazu gehören typische Kausalitätsketten in ihren wesentlichen ontologischen und evolutionären Ursache-Wirkungs-Bezügen sowie die ebenfalls ambivalenten Ziele. Solche holistischen Systeme existieren – gleich den Energiesystemen – relativ stabil funktionsdeterminiert organisiert, aber prinzipiell stofflich, energetisch sowie informationell offen. In jedem ihrer (systemischen) funktionell-strukturellen Bereiche sind die Konstituenten, die sognannten Holons, gleichermaßen autonome Ganzheiten als auch botmäßige Teilheiten. Solche Holons repräsentieren als Modelle Energieanteile, Energieformen, Energiesektoren, kognitive Strukturen, Glieder ontologischer und evolutionärer Zeitreihen, soziale Gruppen, ökonomische Entitäten etc. samt ihren Dichotomien und ‚Spielregeln‘.

Den Einführungsvortrag hielt Ernst-Peter Jeremias, der auch das Kolloquium moderierte. Er wies auf das bisher geltende Klimaschutzgesetz und das aktuell dazu erlassene Urteil des Bundesverfassungsgerichts hin, welches besagt, dass das Gesetz in der jetzigen Form versäumt hat, Regeln für die Zeit nach 2030 festzuschreiben. Dadurch bestünde das Risiko, dass junge Menschen künftig beim Klimaschutz die Hauptlast zu tragen haben.

Im Klimaschutzprogramm 2030 der Bundesregierung werden, den Verkehr betreffend, folgende Maßnahmen festgelegt:

  • Ausbau der Ladeinfrastruktur für die Elektromobilität
  • Förderung des Umstiegs auf Elektrofahrzeuge
  • Erhöhung der Attraktivität des öffentlichen Nahverkehrs
  • Investitionen in die Bahn
  • Konsequente CO2-bezogene Reform der KfZ-Steuer

Da Mobilität ein Grundbedürfnis der Menschen und gleichzeitig Voraussetzung für eine moderne, arbeitsteilige Gesellschaft in einer globalisierten Welt ist, sieht der Referent folgenden Weg zu einer Mobilitätswende:

  1. Eine 1:1-Transformation von derzeit rund 48.000.000 Verbrennungs-PKW in Deutschland durch batterieelektrische Kraftfahrzeuge (BEV) wird nicht zielführend im Sinne der notwendigen Mobilitätswende sein.
  2. Die MiD-Studie 2018 (MiD: Mobilität in Deutschland) führt aus, dass die zurückgelegte tägliche durchschnittliche Tagesstrecke pro Person bei 39 Kilometern im Jahr 2017 beträgt. Die daraus abzuleitende Konsequenz: Ist es zukünftig notwendig, dass pro Haushalt durchschnittlich 1,1 PKW betrieben werden, die laut Statistik 23 Stunden pro Tag überwiegend zu Hause geparkt werden?
  3. BEV sind auf der täglichen „Kurzstrecke“ bis ca.150 km aus Energieeffizienzgründen gegenüber Wasserstoff als Treibstoff zu bevorzugen.
  4. Auf der Langstrecke sollte die elektrifizierte Bahn sowohl im Personen- als auch im Güterverkehr Vorrang haben. “Grüner“ Wasserstoff muss nicht direkt elektrifizierbaren Transportaufgaben und Spezialtransporten vorbehalten sein, sondern nicht zuletzt auch dem Einsatz in der Luftfahrt und in der Schifffahrt.
  5. Automatisiertes Fahren sollte vorrangig unsere Mobilitätsbedürfnisse auf der „ersten und letzten Meile“ befriedigen.
  6. Wir müssen generell unsere bisherigen Mobilitätsgewohnheiten auf den Prüfstand stellen und unser diesbezügliches Verhalten ändern.
  7. Die Herstellung der erforderlichen Akzeptanz zu einem klimakonformen Mobilitätsverhalten wird vermutlich als Generationenaufgabe zu lösen sein.

Weert Canzler ging in seinem Vortrag “Sektorkopplung und Verkehrswende” darauf ein, dass die Verkehrswende aus Klimaschutzgründen dringender denn je ist. So wichtig der Umstieg auf elektrische Antriebe auf der Basis Erneuerbarer Energien auch ist: Die Klimaziele, die Beweglichkeit und die Lebensqualität in den Städten brauchen aus seiner Sicht insgesamt einen anderen Verkehr, andere Verkehrsangebote und auch einen Wandel des Verkehrsverhaltens. Ohne Veränderungen in der politischen Regulierung und ohne eine Veränderung des Rechtsrahmens wird das nicht möglich sein.

Die Geschichte des Verkehrs zeigt: Ein politisches Programm und übergeordnetes Ziel standen Pate für eine konsequente Implementierung von verkehrsrechtlichen, steuerlichen und infrastrukturellen Maßnahmen und dafür, dass der „Traum vom privaten Auto“ wahr wurde. Auf dem gleichen Wege und mit der gleichen Konsequenz müsste nun auch die Verkehrswende mit ihren Elementen Elektrifizierung, Intermodalität, Stärkung des Öffentlichen Verkehrs und Renaissance von Zufußgehen und Radfahren verfolgt werden. Die technische Basis des elektrifizierten Verkehrs verändert sich radikal, da die bisher getrennten Sektoren des Verkehrs und der Energieversorgung konvergieren.

Einem Mobility-to-grid-Ansatz wird eine große Bedeutung in einem zukünftigen Stromsystem beigemessen, das auf fluktuierend einspeisenden Erneuerbaren Energien beruht und daher verschiedener Flexibilitätsoptionen bedarf. Dabei müssen nicht nur technische Herausforderungen gelöst werden. Es braucht auch eine konsequente Anpassung der regulativen Rahmenbedingungen und nicht zuletzt die Bereitschaft der Nutzerinnen und Nutzer, sich im Alltag darauf einzulassen. Die Sektorkopplung bietet große Chancen, diese stehen allerdings erheblichen Anpassungsnotwendigkeiten gegenüber.

Michael Bartnik zeigte in seinem Vortrag “Optimierung der individuellen Mobilität am Beispiel der Applikation „Jelbi“” wie mit Hilfe der Digitalisierung immer das Mobilitätsangebot zur Verfügung gestellt wird, welches im Moment gerade benötigt wird. Damit soll der Verzicht auf ein eigenes Auto möglich werden. Derzeit sind in die Jelbi-App 30.000 Fahrzeuge integriert, wodurch die App europaweit die größte Mobilitätsplattform aus ÖPNV und Sharing-Angeboten ist.

Der Referent führte aus, dass derzeit 20 Jelbi-Punkte und Jelbi-Stationen zwischen Spandau und Lichtenberg vorhanden sind. An diesen Jelbi-Stationen sind Stellflächen für Carsharing, Scooter-, Moped- und Bikesharing vorhanden. Sie befinden sich an S+U-Bahnhöfen oder an zentralen Orten mit hoher Nachfrage – z.B. in Neubauquartieren. Jelbi-Punkte für „alles was zwei Räder hat“ befinden sich an Haltestellen und Hotspots im Kiez.

Unter dem Dach der Jelbi-App sind neben Mobilitätspartnern auch Flächenpartner, wie Gewobag, Aral, Apcoa, Drivery oder Charité und der Softwarepartner Trafi vereint. So führen die Mobilitätsangebote dorthin, wo sie gebraucht werden: Vor die Haustür bzw. zum Arbeitsplatz.

Der Vortrag von Jens Wollenweber “Nachhaltige Mobilität und Verkehr im Vergleich der Länder Deutschland und Kasachstan” weitete den Blick über die Landesgrenzen hinaus. Er wies darauf hin, dass in Kasachstan eine effiziente Verkehrsinfrastruktur außerhalb der Ballungszentren noch nicht flächendeckend vorzufinden ist. Die Zielrichtung liegt dort vielmehr in der Partizipation der Vorteile der neuen Seidenstraße und der Verringerung der Abhängigkeit von den natürlichen Ressourcen des Landes wie Öl und Gas. Nachhaltigkeitsgesichtspunkte spielen aktuell eine eher untergeordnete Rolle.

Zum Vergleich der Entwicklungsstände von Industrienationen gegenüber Transformationsökonomien wurde ein Nachhaltigkeitskatalog entwickelt, welcher in den drei Dimensionen Ökonomie, Ökologie und Soziales einen detaillierten Vergleich ermöglicht.

Es zeigt sich, dass in allen drei Dimensionen ein klar messbarer Abstand zwischen Deutschland und Kasachstan vorhanden ist, wobei die soziale Dimension den größten und die ökonomische Dimension den geringsten Abstand aufweist.

Im Vortrag “Sicherheit des automatisierten Fahrens (Wie macht das automatisierte Fahrzeug seinen Führerschein – „Die Dresdner Methode“)” ging Günther Prokop auf das Thema Sicherheit im Straßenverkehr ein.

Er zeigte, dass in der Wirksamkeitsbewertung aktiver Sicherheitsfunktionen und der Risikobewertung automatisierter Fahrfunktionen eine reine Resimulation von Unfalldaten unter Einbezug der Funktion längst nicht mehr ausreichend ist. Da diese Funktionen kritische Verkehrssituationen im Idealfall gar nicht erst entstehen lassen sollen, ist ein wesentlich umfangreicheres Verständnis des heutigen Verkehrs- und Unfallgeschehens notwendig geworden. Ebenso müssen die darauf aufbauenden Bewertungsmethoden die vielfältigen Wechselwirkungen der Verkehrsteilnehmer im Realverkehr abbilden können und eine statistische Aussage für das zukünftige Verkehrs- und Unfallgeschehen liefern. Der Lehrstuhl Kraftfahrzeugtechnik (LKT) der TU Dresden und die FSD – Zentrale Stelle haben daher ihre Forschungs- und Entwicklungsarbeiten darauf konzentriert, einen durchgängigen Methodenbaukasten für die ganzheitliche Wirksamkeits-/Risikobewertung aktiver Sicherheitsfunktionen und automatisierter Fahrfunktionen zu schaffen: „Die Dresdner Methode“.

Realdaten aus verschiedenen Quellen (Natürliche Fahrdaten, Unfalldaten, Verkehrsbeobachtungen mit Drohnen) werden zunächst durch Fusionsalgorithmen zu einer gemeinsamen Datenbasis zusammengeführt, die mit Hilfe von Methoden der künstlichen Intelligenz zudem die Ergänzung teils fehlender Informationen zulässt. Die Verkehrssituationen werden hierbei mit Hilfe eigens entwickelter Metriken, die auf der Beherrschbarkeit einer Situation für das menschliche Verkehrsteilnehmerverhalten basieren, aus den Normalverkehrsdaten extrahiert, um den zugrundeliegenden Datenbestand auf das relevante Verkehrsgeschehen zu reduzieren. Für eine nun zu bewertende Funktion werden aus dieser Datenbasis mit Hilfe eigens entwickelter Clusterverfahren repräsentative Testszenarien in einem Szenarienkatalog zusammengestellt, der das Wirkfeld der Funktion in einem abprüfbaren Umfang abdeckt. Dieser Katalog wird anschließend verschiedenen Bewertungsmethoden zugeführt. Die Sicherheitsbewertung auf makroskopischer Verkehrsebene wird mit Hilfe stochastischer Verkehrsflusssimulationen durchgeführt, die mit Hilfe physio-psychologischer Modelle der Verkehrsteilnehmer ein realistisches, virtuelles Verkehrs- und Unfallgeschehen erzeugen und eine statistische Aussage zur Funktionswirkung liefern. Die Sicherheitsbewertung auf mikroskopischer Verkehrsebene erfolgt hingegen in detaillierten Betrachtungen mit Hilfe von Fahrsimulatoren und Realfahrversuchen.

Dieser im Rahmen verschiedener Forschungsprojekte aufgebaute Methodenbaukasten bildet ein Instrumentarium, das von der Funktionsentwicklung über die Begutachtung und Genehmigung bis hin zur periodisch-technischen Inspektion sowie Feldüberwachung eingesetzt werden kann. Es stellt die Entwicklungsgrundlage für den Beitrag des LKTs zur Initiative „Sicherheit des vernetzten und automatisierten Straßenverkehrs“ (SivaS) dar, einem gemeinsamen Vorhaben mit der FSD – Zentrale Stelle und weiteren Partnern zur Schaffung und Bereitstellung von Bewertungsszenarien und -methoden für die Verkehrssicherheit von morgen.

In seinem Vortrag “Verkehr in der Studie “Klimaneutrales Deutschland 2050″” ging Günter Hörmandinger auf die im Auftrag von Agora Energiewende, Agora Verkehrswende und der Stiftung Klimaneutralität 2020 erarbeitete Studie ein, wie Deutschland 2050, bzw. jetzt neu 2045, klimaneutral werden kann. Danach kann Deutschland in eine klimaneutrale Nation umgebaut werden und weiter an Wohlstand und Wirtschaftskraft gewinnen. Hierzu bedarf es eines umfassenden Investitionsprogramms, das den Ausbau der Erneuerbaren Energien prioritär vorantreibt, die weitgehende Elektrifizierung von Verkehr, Wärme und Industrie umfasst, die energetische Sanierung fast aller Gebäude beinhaltet und den Aufbau einer Wasserstoffinfrastruktur anstößt.

Gemäß der Studie findet im Verkehr eine Trendwende statt. Die persönliche Mobilität bleibt vollständig erhalten, aber sie verändert sich. Die Menschen fahren deutlich mehr mit öffentlichen Verkehrsmitteln sowie dem Rad und gehen zu Fuß. Im Jahr 2030 werden bereits 14 Millionen Elektro-Pkw (inkl. Plug-in-Hybride) im Bestand sein. Güter werden verstärkt auf der Schiene transportiert und es wird fast ein Drittel der Fahrleistung im Straßengüterverkehr über elektrische Lkw mit Batterien, Oberleitungen und Brennstoffzellen erbracht.

Dietmar Göhlich betrachtete in seinem Vortrag die “Dekarbonisierung des urbanen Verkehrs am Beispiel Berlins”. Er wies darauf hin, dass die Elektrifizierung des Verkehrs eine einzigartige Chance ist, Energie- und Verkehrssysteme gemeinsam zu erforschen und Synergien zu nutzen. Das Ziel muss sein, mit Hilfe neuer technischer Optionen und unter Beteiligung der Zivilgesellschaft die Versorgung mit Strom, Wärme und Verkehr bezahlbar, sicher und vollständig auf Basis der Erneuerbaren Energien zu realisieren. Der Berliner EUREF-Campus dient dabei als Erprobungs- und Referenzquartier, um die Eckwerte einer dezentralen Versorgungswirtschaft für eine nachhaltige Stadtentwicklung zu beschreiben. In sechs Themenfeldern werden sowohl neue Technologiefelder und innovative Geschäftsmodelle eröffnet als auch Akzeptanzforschung und Nachwuchsförderung betrieben. Ein Querschnittsfeld widmet sich dem Betrieb sowie der Verwertung der Ergebnisse in einer gemeinsam getragenen Unternehmung. Der Vortragende ging dabei sowohl auf die Erforschung und Entwicklung neuer Technologie-Optionen als auch die Analyse und Bewertung sozialer Akzeptanz und politischer Rahmenbedingungen sowie die ökonomische Verwertbarkeit der gewonnen Forschungsergebnisse am Beispiel Berlin ein.

 

Die Disputation, an der Weert Canzler, Dietmar Göhlich, Günter Hörmandinger, Ernst-Peter Jeremias und Günther Prokop teilnahmen, wurde vom Vize-Präsidenten der Leibniz-Sozietät, Lutz-Günther Fleischer geleitet.

Dieser gab den Teilnehmern zunächst die Gelegenheit, jeweils in bis zu zwei Schwerpunkten ihrer Wahl ihre Auffassungen zur Umsetzung der Klima- und Mobilitätsstrategie in Deutschland vorzutragen. Damit wurde eine selbstorganisierte Diskussion initiiert. Die dargestellten Themen waren dann erwartungsgemäß durch das Fach- und Arbeitsgebiet der jeweiligen Disputanten geprägt:

  • Weert Canzler warb dafür, nicht nur Risiken der Transformation, sondern auch die Chancen zu sehen. Wichtig sei es, infrastrukturelle Voraussetzungen für eine erfolgreiche Transformation zu schaffen insbesondere den erforderlichen Ausbau der Einkommensenergie voranzutreiben und dabei auch die Akzeptanz der Bevölkerung im Fokus zu haben (sozialwissenschaftliche Aspekte).
  • Dietmar Göhlich empfahl, weniger zu diskutieren und sich mehr auf das Handeln und das Bündeln der Kräfte zu konzentrieren, um eine bessere Effektivität in der Zielerreichung sicherzustellen. Die Nutzfahrzeugbranche sei schneller mit innovativen, einheimischen Produkten zu elektrifizieren.
  • Günter Hörmandinger forderte eine bessere politische Umsetzung der Erfordernisse des Klimaschutzes ein. Die Stadtplanung sei bezüglich der Mobilität neu zu denken (Stadt ohne Automobil) und darauf auszurichten.
  • Ernst-Peter Jeremias brachte seine Sorge zum Ausdruck, wie die Substitution von Vermögensenergie durch Einkommensenergien in der Stromwirtschaft im zur Verfügung stehenden Zeithorizont konsequenter und bilanziell abgesichert realisiert werden kann. Batterieelektrische Fahrzeuge durch einen entsprechenden Ausbau der Ladeladeinfrastruktur auf der Langstrecke einzusetzen, ist für ihn kein nachhaltiger Ansatz.
  • Günther Prokop hielt in seinem Statement einen „systemischen Ansatz“ in der Mobilitätswende für unverzichtbar. Mobilität sei nicht nur der PKW. Das gesamte Transportsystem einschließlich der erforderlichen digitalen Strukturen gehöre auf den Prüfstand. Es gibt verschiedene Interessen von Stakeholdern und viele Stellhebel, deren Wirkungen auf alle betroffenen Bereiche berücksichtigt werden muss. Es sei Ganzheitlichkeit „von unten“ zu denken. Nur den eigenen Lösungsansatz in den Mittelpunkt zu stellen, kann zur Polarisierung führen.

Während die Diskussion in der Notwendigkeit der Mobilitätswende grundsätzlich einheitliche Positionen aufgezeigt hat, entwickelte sich der Disput über das Vorgehen mit einem „systemischen Ansatz“ vermeintlich kontrovers. Dabei lagen aus der Sicht des interessierten Beobachters der Diskussion die Meinungen der Diskutanten im Grunde nicht weit auseinander. Die Frage, inwiefern Technologieoffenheit für die Umsetzung einer „neuen“ Mobilität hinderlich ist, beantwortete sich in der Feststellung, dass zukünftig zwangsläufig differenzierte technisch-technologische Lösungen für unterschiedliche Anforderungen im Mobilitäts- und Transportbereich umgesetzt werden müssen. Die Betrachtung der Wirkungen von konkreten Maßnahmen auf betroffene wirtschaftliche, ökologische und soziale Bereiche unter Einschluss der Akzeptanz der Menschen dafür ist notwendig und vertretbar, wenn sie wissenschaftlich determiniert und nicht durch Lobby-Interessen geprägt ist. In dem Punkt aber, dass für wirksame Lösungen nicht mehr viel Zeit verbleibt, waren sich die Disputanten im Grundsatz einig. Insofern ist der verbleibende zeitliche Rahmen für eine Mobilitätswende in Deutschland und wie dieser genutzt werden kann und muss wohl das eigentliche offene und diskussionswürdige Thema geblieben.

In der Diskussion sprachen neben den Teilnehmern der Disputation Lutz von Grünhagen, Wolfgang Küttler und Norbert Mertzsch.

Im Schlusswort wies Norbert Mertzsch nochmals darauf hin, dass neben technischen Maßnahmen vor allem eine Änderung des Mobilitätsverhaltens der Menschen für eine effektive Mobilitätswende notwendig ist. Daraus resultiert dann auch gravierender Umbau im Bereich der Industrie mit entsprechenden Auswirkungen auf davon betroffene Arbeitsplätze. Das zeigt, dass Energiewende und Mobilitätswende wesentlich tiefer in die Gesellschaft eingreifen als man oberflächlich erwartet.

Im Weiteren ging er auf die bereits von Lutz-Günther Fleischer und Ernst-Peter Jeremias angekündigte Gründung des multidisziplinären Arbeitskreises “Energie, Mensch und Zivilisation” innerhalb der Leibniz-Sozietät der Wissenschaften ein. Dabei soll der Begriff “Zivilisation” als Synonym für die Gesamtheit jener gesamtgesellschaftlich angestrebten, vom wissenschaftlichen und technischen Fortschritt geschaffenen und verbesserten materiellen und sozialen Lebensbedingungen verstanden werden. Ein wesentliches Ziel des Arbeitskreises ist es, alle Aspekte der Energiebereitstellung und -verwendung unter der Prämisse der Einhaltung der Klimaschutzziele bzw. der Klimafolgenanpassung zu erörtern. Es sollen neben den naturwissenschaftlichen Grundlagen und den technisch/technologischen Realisierungen die ökonomischen, sozialen und politischen Probleme und Wechselwirkungen gleichgewichtig einbezogen werden.

Eine exponierte Funktion des Arbeitskreises soll sein, die in Deutschland effektiv und gemeinnützig zu gestaltende Energiewende hinsichtlich ihrer Ziele, Methoden und Ergebnisse konstruktiv, aber kritisch zu begleiten.

Der Arbeitskreis soll jährlich zu ausgewählten Themen Beratungen mit wissenschaftlichen Vorträgen öffentlich abhalten. Als Referenten sollen Mitglieder der Leibniz-Sozietät, aber auch externe Fachleute gewonnen werden, die ihre Expertise und Erfahrungen in erforderliche Bewertungen und in notwendige Lösungsansätze einbringen.

Darüber hinaus werden zu aktuellen Themen ein- bis zweimal im Jahr Online-Diskussionen durchgeführt.

Es ist geplant, Vorträge und Diskussionsbeiträge in den Sitzungsberichten der Leibniz-Sozietät und ggf. in Leibniz Online zu veröffentlichen.

Als Auswahl für die Start-Themen des Arbeitskreises wurden vorgeschlagen:

  • Energie und Leben
  • Energiewende und nachhaltiges Wachstum
  • Energiewende: Akzeptanz und Partizipation
  • Energiewende und Strukturwandel (am Beispiel der Lausitz)
  • Aspekte der Nutzung von Wasserstoff im Rahmen der Energiewende
  • Entwicklungstendenzen in der Energiespeicherung
  • Sozioökonomische Entwicklung und Energiebedarf
  • Sicherstellung von öffentlichem Verkehr

Der Referent lud Vertreterinnen und Vertreter aller in der Leibniz-Sozietät vereinten Wissenschaftsgebiete ein, in dem – es sei noch einmal betont – multidisziplinären Arbeitskreis mitzuarbeiten. Auf Einladung werden auch externe Fachleute zur Mitarbeit im Arbeitskreis hinzugezogen.

Die zeitnahe Publikation der Beiträge in den „Sitzungsberichten der Leibniz-Sozietät der Wissenschaften“ ist vorgesehen.

Ernst-Peter Jeremias
Norbert Mertzsch