Wir trauern um unser Mitglied und Schatzmeister Prof. Dr. Heinz-Jürgen Rothe

Prof. Dr. Heinz-Jürgen Rothe, MLS (1946-2024)

Die Leibniz-Sozietät der Wissenschaften zu Berlin e. V. trauert um ihr Mitglied und ihren Schatzmeister, den Psychologen Heinz-Jürgen Rothe, der am 9. November 2024 kurz vor der Vollendung des 78. Lebensjahres in Berlin verstorben ist.

Heinz-Jürgen Rothe wurde am 24. November 1946 in Weißensee (Thüringen) geboren. Er blieb diesem Ort, in dem sein Vater Bürgermeister war, immer verbunden. Seine Zeit an der Inter­natsschule Schulpforte mit einer Tradition von über 400 Jahren hat ihn geprägt; er übernahm bereits als Jugendlicher Verantwortung in der Selbstverwaltung der Schüler und erwarb Erfah­rungen in der Gestaltung einer kollegialen Gemeinschaft. Er entschloss sich für ein Studium der Psychologie an der Humboldt-Universität zu Berlin, das er 1970 mit dem Diplom abschloss. Anschließend begann er seine berufliche Tätigkeit als Wissenschaftlicher Assistent unter Leitung von Friedhart Klix im Bereich Grundlagen der Kybernetik des Zentralinstituts für Kybernetik und Informationsprozesse der Akademie der Wissenschaften der DDR, weilte dort aber nur einen Tag in der Woche und hatte in der übrigen Zeit Lehr- und Forschungsaufgaben im Bereich Arbeits- und Ingenieurpsychologie der Sektion Psychologie an der Humboldt-Universität zu erfüllen. 1973 wechselte er an die Sektion Psychologie der Humboldt-Universität in den Lehrbereich Arbeits- und Ingenieurpsychologie unter Leitung von Klaus-Peter Timpe. Von 1973 bis 1982 war er Wissenschaftlicher Sekretär an der Sektion Psychologie der Humboldt-Universität und bewältigte umfangreiche und vielfältige wissenschaftsorganisatori­sche Aufgaben.

In den 1970er Jahren bearbeitete Heinz-Jürgen Rothe aus den Kooperationsbeziehungen des Bereiches Arbeits- und Ingenieurpsychologie mit der Industrie hervorgegangene Fragestellun­gen zur Gestaltung von Leitständen. Das war der Ausgangspunkt für umfangreiche experimen­telle Untersuchungen, an deren Anfang der Entwurf eines experimentellen Designs stand, dessen Leistungsanforderungen durch Studierende als Probanden bewältigbar und die mit ihm gewonnenen Erkenntnisse auf die praktische Situation übertragbar sein sollten. In den Kollo­quien des Lehrbereiches wurde die Simulation von Tätigkeiten in Mensch-Maschine-Systemen häufig thematisiert. Grundlagen für die Hypothesenbildung waren die allgemein­psychologi­schen Erkenntnisse über Signalentdeckungszeiten und über die Gruppenbildung in Objektmen­gen.

Heinz-Jürgen Rothe promovierte 1977 zum Dr. rer. nat. an der Mathematisch-Naturwissen­schaftlichen Fakultät der Humboldt-Universität Berlin mit einer Dissertation zum Thema Quellenstruktur und Signalidentifikation. Im Anschluss an seine Promotion absolvierte Heinz-Jürgen Rothe noch ein postgraduales Studium, das er mit der Berufsbezeichnung „Fach­psychologe der Industrie“ abschloss. Bis 1981 war er Themenleiter des Forschungsthemas „Mensch-Maschine-Systeme“ in der Hauptforschungsrichtung „Kybernetik“ bzw. „Kognitive Informationsverarbeitung“.

Ein wichtiger Abschnitt im Berufsleben von Heinz-Jürgen Rothe war auch seine Tätigkeit an der Psychologischen Fakultät der Universität Havanna von 1983 bis 1985. Dort war er für das gesamte Hauptstudium als Berater bei der Neukonzipierung der Fachausbildung „Arbeitspsy­chologie“ tätig. Er erarbeitete Konzeptionen, die für den Fünfjahreszeitraum beim kubanischen Hochschulministerium eingereicht wurden. Danach setzte er seine Tätigkeit an der Sektion Psy­chologie der Humboldt-Universität fort – als Wissenschaftlicher Oberassistent am Lehrbereich Arbeits- und Ingenieurpsychologie sowie als Themenleiter des Forschungsthemas „Methodik der Wissenserfassung“ im Staatsplanthema „Interaktives Problemlösen“.

Heinz-Jürgen Rothe habilitierte sich 1991 für das Fach Arbeitspsychologie an der Universität Kassel mit einer Habilitationsschrift zum Thema „Erfassung und Modellierung von Fachwissen als Grundlage für den Aufbau von Expertensystemen“. Er nahm in den Jahren 1991 bis 1995 an den Universitäten Kassel, Trier und Leipzig Vertretungsprofessuren für die Fachgebiete Arbeitswissenschaft und Arbeits-, Betriebs- und Organisationspsychologie wahr.

Nachdem Anna-Marie Metz 1995 auf den Lehrstuhl für Arbeits-, Betriebs- und Organisations­psychologie an die Universität Potsdam berufen worden war und ihn gefragt hatte, ob er mit ihr zusammen Lehre und Forschung im Fach Arbeitspsychologie an dieser Universität aufbauen möchte, hat Heinz-Jürgen Rothe zugesagt. Im Mittelpunkt der gemeinsamen Forschungsaktivi­täten stand am Anfang die Entwicklung und testdiagnostische Validierung eines Screening-Verfahrens zur Analyse und Bewertung der psychischen Belastung bei Arbeitstätigkeiten und später dessen Einsatz zur Beurteilung von Gesundheitsgefährdungen in unterschiedlichen Arbeitsbereichen wie beispielsweise Industriebetrieben, Krankenhäusern, Pflegeeinrichtungen, Handelsbetrieben oder Behörden. Bis 1999 war er wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Psychologie der Universität Potsdam. Im Jahre 2000 nahm er eine Gastprofessur für das Gebiet Angewandte Psychologie an der Universität Innsbruck in Österreich wahr. Von 2001 bis zu seinem Eintritt in den Ruhestand im Jahre 2011 war er als Professor für Arbeitspsychologie an der Universität Potsdam wirksam.

Mit dem Wechsel an die Universität Potsdam erweiterte sich auch das Forschungsfeld von Heinz-Jürgen Rothe. Auf der Grundlage der gedächtnispsychologischen Forschungen von Friedhart Klix, insbesondere zur Repräsentation von Begriffen und semantischen Relationen im menschlichen Gedächtnis, wurden die Methoden Assoziieren und Struktur-Legen zu wissensdiagnostischen Instrumenten weiterentwickelt. Sie wurden zum Beispiel zur Wissenser­fassung über Störungsursachen und Störungsbehebungen bei Instandhaltern von numerisch gesteuerten Werkzeugmaschinen eingesetzt, um die Inhalte von Trainingsprogrammen zu bestimmen und ermöglichten auch die Beurteilung des Wissenser­werbs im Kurs „Management“ einer Sparkassenakademie oder die Kompetenzbeurteilung von Mitarbeitern eines Handelsun­ternehmens. Gemeinsam mit Anna-Marie Metz entwickelte er das Arbeitsanalyseverfahren Screening Psychischer Arbeitsbelastung, das inzwischen auch als Online-Testverfahren im Rahmen der gesetzlich für Unternehmen vorgeschriebene Beurteilungen der gesundheitlichen Gefährdung ihrer Arbeitsplätze durch psychische Ar­beitsbelastungen eingesetzt werden kann. Ein Beispiel für seine erfolgreiche wissenschaftsorganisatorische Tätigkeit nach der Jahrtau­sendwende war sein verantwortungsvolles Wirken von 2004 bis 2008 als Vorsitzender des Organisationskomitees des 29. Internationalen Kongresses für Psychologie 2008 in Berlin.

Erdmute Sommerfeld bezeichnet ihn als „Brückenbauer zwischen der Elementaranalyse menschlicher Informationsverarbeitung und der Arbeits- und Ingenieurpsychologie“. Die wissenschaftlichen Arbeiten von Heinz-Jürgen Rothe waren thematisch vielfältig, Ausgangs­punkte waren aber immer praktische Problemstellungen in der Arbeitswelt. Zu ihrer Klärung wurden stets Bezüge zu allgemeinpsychologischen Methoden und Erkenntnissen hergestellt und die Themenbearbeitung erfolgte in Teams. Sein wissenschaftliches Lebenswerk, die inge­nieurpsychologische Elementaranalyse und Gestaltung des Kodierungsprozesses im Mensch-Maschine System und deren Auswirkung auf die Gesundheit, entspricht unmittelbar dem Geist der Leibniz-Sozietät der Wissenschaften zu Berlin e.V.. Er verfolgte stets den Anspruch, Praxisanforderungen durch wissenschaftliche Grundlagen zu fundieren.

2009 wurde Heinz-Jürgen Rothe auf Vorschlag von Werner Krause, Erdmute Sommerfeld und Lothar Sprung zur Leibniz-Sozietät zugewählt. Er hat sich nicht nur mit Vorträgen und Publi­kationen am Leben der Sozietät beteiligt, sondern wurde bald zum wichtigsten wissenschafts­organisatorischen Akteur der Sozietät. Von 2010 bis 2021 war er Sekretar des Plenums und übte diese sehr aufwendige Tätigkeit mit großem Engagement, aber auch mit Feingefühl aus. Als dann nicht gleich ein Nachfolger gefunden werden konnte, erfüllte er diese Aufgabe weiter, obwohl er 2021 bereits das Amt das Schatzmeisters übernommen hatte. Als Schatzmeister wirkte er für die Konsolidierung der Finanzen der Sozietät und erfüllte diese wichtige Aufgabe auch gegen erhebliche Widerstände. 2016 wurden seine Leistungen mit der Verleihung der Daniel-Ernst-Jablonski-Medaille gewürdigt. Heinz-Jürgen Rothe hat großen Anteil an der erfolgreichen Entwicklung der Leibniz-Sozietät in den letzten eineinhalb Jahrzehnten.

Hinter all seinen wissenschaftlichen Leistungen und seinem großen wissenschaftsorganisatori­schen Engagement in- und außerhalb der Leibniz-Sozietät sei aber der Mensch Heinz-Jürgen Rothe nicht vergessen. Es war angenehm und schön, mit ihm zusammenzuarbeiten. Er konnte zuhören und auch Ratschläge geben, die von Humor und Weisheit geprägt waren. Unsere Ziele setzte er oft leise und behutsam, aber konsequent und beharrlich durch. Man konnte sich in allen Situationen auf ihn verlassen.

Nun ist er viel zu früh von uns gegangen. Er wurde aus dem Leben gerissen, als er sich gerade daran erinnerte, auch einmal etwas für seine Gesundheit tun zu müssen. Die entstandene Lücke schmerzt. Wir werden in seinem Sinne weiterwirken und sein Andenken stets in Ehren halten.

Gerda Haßler