Plenarsitzung der Leibniz-Sozietät der Wissenschaften am 9. Dezember 2021

Dezember-Sitzung des Plenums der Leibniz-Sozietät der Wissenschaften zu Berlin

Die öffentliche wissenschaftliche Sitzung des Plenums der Leibniz-Sozietät der Wissenschaften zu Berlin wird am 09. Dezember 2021 von 13:30 bis 16:00 Uhr in Berlin durchgeführt zum Thema

Die spekulative Methode von Hegel und das Lernen von Mathematik –
Allgemeines und Einzelnes am Beispiel des Variablen- und des Wahrscheinlichkeitsbegriffs

Vortragender:

Hans-Dieter Sill (MLS)

Ort:   Berlin, Rathaus Tiergarten, BVV-Saal, Mathilde-Jacob-Platz 1, Berlin, 10551

Zeit:   9. 12.2021, 13:30 bis 16:00 Uhr

C.V:

Hans-Dieter Sill ist Professor für Didaktik des Mathematikunterrichts an der Universität Rostock. Nach seinem 1973 abgeschlossenen Studium als Diplom-Lehrer für Mathematik und Physik promovierte er 1976 im Fach Mathematik. Nach einem Aufenthalt an der Schule arbeitete er als Assistent an der Pädagogischen Hochschule in Güstrow. Nach Abschluss einer Habilitation im Jahre 1987 auf dem Gebiet der Methodik des Mathematikunterrichts war er dort als Dozent tätig. 1993 wurde er als Hochschullehrer für Didaktik der Mathematik an die Universität Rostock berufen. Seit 2016 ist er im Ruhestand.

Er führte theoretische und empirische Forschungen auf unterschiedlichen Gebieten der Mathematikdidaktik durch, insbesondere zu theoretischen Grundfragen des Lernens von Mathematik, zur Entwicklung von Curricula, zur Durchführung von Leistungserhebungen, zum Arbeiten mit Aufgaben, zur Gestaltung einer nachhaltigen Lehrerfortbildung sowie zu zahlreichen Fragen der Gestaltung des Stochastikunterrichts in der Primarstufe und der Sekundarstufe I. Dabei hat er neue Gedanken zu Grundbegriffen der Stochastik wie Merkmal, Wahrscheinlichkeit und Zufall entwickelt. Er ist Herausgeber eines Unterrichtswerkes für die Sekundarstufe I, Autor eines Lehrbuches zur Mathematikdidaktik sowie von Lehrbüchern zur Didaktik des Stochastikunterrichts.

Abstract:

Eines der Hauptergebnisse des Philosophen Georg Wilhelm Friedrich Hegel, dessen Geburtstag sich 2020 zum 250. Mal gejährt hat, ist die von ihm so bezeichnete spekulative Methode, die er als grundlegend für alle Wissenschaften ansieht. Ein zentraler Inhalt der spekulativen Methode ist der Umgang mit „spekulativen Begriffen“. Damit bezeichnet Hegel u. a. die Einheit gegensätzlicher Begriffe und Momente. Hegels Diktum lautet: „Das Wahre ist das Ganze.“

Bezogen auf mathematische Begriffe geht es um die Einheit formaler und nichtformaler Momente. Die Mathematik als Wissenschaft ist formal ein System aus Begriffen, Sätzen und Verfahren. Die verwendeten Begriffe werden formal durch Definition festgelegt. Die nichtformalen Momente der Begriffe sind in der Regel kein Inhalt mathematischer Fachbücher und oft auch nicht des Mathematikunterrichts in den Sekundarstufen und der mathematischen Lehre an Hochschulen. Im Sinne von Hegel wird damit keine „wahre Mathematik“ vermittelt. Dies ist aus meiner Sicht eine Hauptursache für die immer wieder auftretenden Probleme von Lernenden im Fach Mathematik.

Die Ausbildung mathematischer Kenntnisse sollte sich im Wechselverhältnis von formalen und nichtformalen Momenten vollziehen. Dies betrifft insbesondere die Aneignung von Grundbegriffen, was am Beispiel des Variablen- und Wahrscheinlichkeitsbegriffs erläutert werden soll.

Der Variablenbegriff wird formal nur durch Konventionen seiner Verwendung bestimmt. Die nichtformalen Momente des Begriffs, die teilweise sogar gegensätzlich sind, werden im Schulunterricht selten thematisiert. Damit hängen zahlreiche Probleme im Verständnis der Algebra auch in den weiteren Bildungswegen zusammen.

Der mathematische Begriff der Wahrscheinlichkeit wird formal durch Axiome festgelegt. Der sinnvolle Umgang mit Wahrscheinlichkeiten, insbesondere in der beurteilenden Statistik, ist gebunden an das Verständnis seiner nichtformalen Momente wie des Gegensatzes von „objektiven“ und „subjektiven“ Wahrscheinlichkeiten.

Ein zentraler Ansatzpunkt zur Verbesserung des Mathematikunterrichts und der mathematischen Lehre an Universitäten und Hochschulen sind für mich weitere theoretische und vor allem empirische Untersuchungen zum Lehren und Lernen von „wahrer Mathematik“ im Hegelschen Sinne, die Gegenstand der fachdidaktischen Forschung sein sollten.

Analoge Überlegungen lassen sich auch für andere Fächer anstellen.