Nekrolog auf unser Mitglied Prof. Dr. Helmut Meier

Die Leibniz-Sozietät der Wissenschaften zu Berlin e. V. trauert um ihr Mitglied, den Historiker Prof. Dr. sc. phil. Helmut Meier.
Helmut Meier verstarb am 22. Februar 2024 in Leipzig. In Bad Reinerz (heute Duszniki-Zdrój) in Niederschlesien am 28. Juli 1934 geboren, stahl ihm Deutschlands verbrecherischer Krieg die Heimat.
Seine wissenschaftliche Laufbahn begann an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg. Dort studierte er von 1953 bis 1958 Geschichte und Germanistik. Anschließend arbeitete er am dortigen Institut für Deutsche Geschichte als Wissenschaftlicher Assistent und als Oberassistent. Bei Leo Stern promovierte er 1966 über Constantin Frantz (1817-1891), der sich als politischer Schriftsteller gegen die Reichseinigung Bismarcks stellte und stattdessen eine mitteleuropäische Föderation favorisierte. Die antisemitischen Sentenzen von Frantz machten den Außenseiter später für die Ideologen des „Dritten Reiches“ interessant.
Im Jahre 1967 folgte Helmut Meier dem Ruf an das Institut für Gesellschaftswissenschaften beim ZK der SED, die spätere Akademie für Gesellschaftswissenschaften. Dort wurde er mit dem Aufbau und der Leitung eines neuen Forschungsbereiches betraut, der sich mit der Entwicklung des Geschichtsbewusstseins in der DDR befassen und exakte Untersuchungen über den Stand des Bewusstseins auf diesem Feld vorlegen sollte. Das verlangte nach einem interdisziplinären Ansatz. Die Verknüpfung von Geschichtswissenschaft und Soziologie war in jenen Jahren weitgehendes Neuland. Helmut Meier erschloss dafür die rudimentär vorliegenden Erfahrungen und erarbeitete wichtige methodische und methodologische Grundsätze. Diese Grundlagenarbeit floss in die Dissertation B ein, die er gemeinsam mit einem Kollegen 1976 verteidigte. Die weitaus größere Herausforderung war politischer Natur. Da sich die Ergebnisse der Feldforschung nur selten mit den offiziellen Verlautbarungen deckten, blieb ihnen der Weg in die Öffentlichkeit verwehrt. Dieses Schicksal teilte die Forschung zum Geschichtsbewusstsein mit der Soziologie und der Jugendforschung.
Als Dozent und später auch als stellvertretender Institutsdirektor hat er viele Doktoranten auf ihrem Weg zur Promotion intensiv betreut und begleitet. Doktorvater zu sein verstand er im Wortsinne. Daneben lagen ihm auch die zahlreichen ehrenamtlichen Forscher in den Städten und Gemeinden am Herzen, die sich in der Gesellschaft für Heimatgeschichte organisiert hatten. Als Mitglied des Präsidiums des Kulturbundes der DDR war er einer ihrer Fürsprecher.
Helmut Meier gehörte zu den Autoren und Herausgebern der „Unbewältigten Vergangenheit“, die 1970 erstmals erschien und in der Folgezeit mehrere bearbeitete und erweiterte Auflagen erfuhr. Dieses Nachschlagewerk bot nicht nur eine Kritik der bürgerlichen Geschichtsschreibung in der BRD, wie es im Untertitel hieß. Mit ihren Analysen vermittelte sie Kenntnisse und einen Überblick über die Entwicklung der Geschichtswissenschaft im anderen deutschen Staat, über die Schwerpunkte der dortigen Forschung und über Organisationen, Institutionen, Zeitschriften und Personen.
Gemeinsam mit Walter Schmidt und weiteren Kollegen hat Helmut Meier am Übergang zu den 1980er Jahren ebenfalls die Diskussion um Erbe und Tradition in der DDR-Geschichtswissenschaft befördert, mit der neue Gegenstände erschlossen und ein differenzierter Umgang mit Ereignissen und Personen angestrebt wurde. Die Berufung zum ordentlichen Professor 1981 trug den Lehrverpflichtungen und den Leitungsaufgaben sowie dem Ruf Rechnung, den sich Helmut Meier in der Zunft erarbeitet hatte.
Die Abwicklung seiner Einrichtung zum Jahresende 1990, in der er mehr als drei Jahrzehnte gewirkt hatte, nötigte ihn formell in den vorzeitigen „Ruhestand“. Damit und mit pauschaler Ausgrenzung konnte und wollte er sich jedoch nicht abfinden. Zusammen mit anderen Kollegen aus verschiedenen Institutionen und Disziplinen gründete er im Juni 1991 das Gesellschaftswissenschaftliche Forum, einen eingetragenen Verein mit Sitz in Berlin, dessen ehrenamtlichen Vorsitz er über zwei Jahrzehnte bis zur Auflösung innehatte. Das Gesellschaftswissenschaftliche Forum verstand sich als ein notwendiger Rahmen für die Kommunikation und den Austausch unter den beteiligten Wissenschaftlern und gegenüber der Öffentlichkeit. Der Vereinsname war sozusagen Programm. Das Forum organisierte über viele Jahre Veranstaltungen und initiierte die Schriftenreihe „Gesellschaft – Geschichte – Gegenwart“, die beim trafo Verlag Berlin inzwischen 47 Bände umfasst. Ebenfalls auf Helmut Meiers Initiative gehen die „Hefte zur DDR-Geschichte“ zurück, die beim heute zur Rosa-Luxemburg-Stiftung gehörenden Verein „Helle Panke“ seit 1992 erscheinen und von denen inzwischen das Heft 155 vorliegt. Deren Anliegen war, DDR-Geschichte gestützt auf Forschungen zu reflektieren.
Gemeinsam mit mehrfach gemaßregelten Manfred Behrend veröffentlichte er 1991 eine Dokumentation zum Wandlungsprozess, den die SED zwischen Herbst 1989 und dem Beitritt der DDR zur Bundesrepublik durchlaufen musste und dem vor allem stalinistische Denkstrukturen entgegenstanden. Beiden ging es in der Dokumentation nicht um Nostalgie. Eine Gesamtschau der Ereignisse dieser Jahre könne nicht über die einst mitgliederstärkste Partei der DDR hinweggehen, fanden sie. Neben veröffentlichten trugen sie zahlreiche unveröffentlichte Dokumente zusammen, die die Diskussion an der Parteibasis bis zurück ins Krisenjahr 1953 spiegeln und von der Führung ignoriert bzw. geahndet wurden.
Unter dem Dach des Vereins organisierte sich auch die Projektgruppe „Identitätswandel“, die seit dem Sommer 1990 der Frage nachging, wie sich die gerade vollziehende deutsche Einheit, die Umbrüche und die Transformationsprozesse im Selbstverständnis der ostdeutschen Bevölkerung niederschlagen. Die Erhebungen konnten bis zum Ende des Jahrzehnts weitergeführt werden, obwohl die anfängliche Förderung später ausblieb. Etliche der damals erhobenen Befunde haben sich in der Rückschau und in den Ergebnissen der etablierten Meinungsforschung bestätigt. Helmut Meier gehörte bis zum Schluss zum aktiven Kern dieser Projektgruppe.
Die Leibniz-Sozietät wählte ihn 1998 zu ihrem Mitglied. Aus familiären Gründen verzog Helmut Meier nach Leipzig. Stolz registrierte er, dass seine beiden Söhne in ihren Berufswegen erfolgreich sein konnten. Neben etlichen Artikeln und zahlreichen Rezensionen widmete er seinem wissenschaftlichen Lehrer Leo Stern 2002 noch ein Buch. Zwei Jahre später fanden sich Freunde und Kollegen zusammen, um über Erinnerungskultur in unserer Zeit zu diskutieren und seinen 70. Geburtstag zu würdigen.
Fortschreitende Krankheiten schränkten in den letzten Jahren seine Möglichkeiten ein, am wissenschaftlichen Diskurs und an den Veranstaltungen der Leibniz-Sozietät teilzuhaben. In wenigen Monaten wäre er 90 Jahre geworden. Wir verlieren einen produktiven, innovativen, hilfsbereiten und solidarischen Kollegen.
Jürgen Hofmann