Nachruf für unser Mitglied Gert Schäfer

Gert Schäfer (16.4.1941-16.10.2012)

Erst vor kurzer Zeit erreichte uns die Nachricht vom Tode unseres Mitglieds Gert Schäfer.

Gert Schäfer, Mitglied der Leibniz Sozietät seit 1995, verstarb am 16. Oktober 2012 nach langer schwerer Krankheit in Hannover. Der Politikwissenschaftler erwarb sich mit zahlreichen Arbeiten zum Parteiensystem in Deutschland sowie zu Fragen der Geschichte und Theorie der internationalen Arbeterbwegung im In- und Ausland einen ausgezeichneten Ruf.

Damit ist angedeutet, dass Gert Schäfer nicht zum pflegeleichten Mainstream seines Faches gehörte, das in den letzten Jahrzehnten viel von seiner ursprünglichen kritischen Intention einbüßte. Gert Schäfer nahm hingegen die Politikwissenschaft stets als immantenten Teil des „Projektes Aufklärung“ wahr.

In Stuttgart in eine mittelständische Familie hineingeboren, galt sein Interesse zunächst auch dem Sport. Schon der Dreizehnjährige fuhr 1954 nach Zürich, um die Europameisterschaften der Leichtathleten zu verfolgen. Er spielte Fußball in der Nachwuchsmannschaft der Stuttgarter Kickers und hatte gute Aussichten auf einen Platz in der ersten Mannschaft, die damals in der Oberliga Süd, der höchsten bundesdeutschen Spielklasse, antrat. Dass es anders kam, hing mit seinem immer stärkeren Interesse am Woher und Wohin deutscher Geschichte und Politik zusammen.

1960 nahm er das Studium der Geschichte, Politik-, Sozial- und Wirtschaftswissenschaften auf. Von Tübingen wechselte er nach Frankfurt (Main), dazwischen lag ein Auslandssemester in Paris. Zu den akademischen Lehrern, die ihn prägten, gehörten so unterschiedliche Köpfe wie Waldemar Besson, Raymond Aron, Maurice Duverger und Iring Fetscher, sein Doktorvater, bei dem er 1973 in Frankfurt mit einer Arbeit zur Faschismustheorie der Kommunistischen Internationale promoviert wurde. 1977 folgte die Habilitation zum Thema „Marxismus und Bürokratie.“ Im folgenden Jahr wurde er dank dem Einsatz von Kultusminister Peter von Oertzen gegen konservative Kräfte in der Landesregierung in Hannover zum Professor für Theorie und Soziologie der Politik berufen.

Gert Schäfer erwarb sich alsbald Autorität durch seine ruhige, durchsetzungsfähige und zugleich einfühlsam-taktvolle Art, in der er verantwortliche Universitätsämter ausübte: mehrmals als Dekan der Geistes- und sozialwissenschaftlichen Fakultät, als Institutsdirektor und als Senator der Universität sowie von 1993 bis 1995 als Vizepräsident der Universität. Er war maßgeblich daran beteiligt, dass die Politikwissenschaft als kritische Sozialwissenschaft mit interdisplinären Ansätzen in Hannover eine Heimstatt fand.

 Dabei kam die Forschungsarbeit nicht zu kurz: Neben der Promotion und der Habilitation publizierte Gert Schäfer u.a. folgende Bücher: Politik ohne Vernunft oder die Folgen sind absehbar (1965), Der CDU-Staat. Studien zur Verfassungswirklichkeit der Bundesrepublik Deutschland (1967/69), Klassische Antike und moderne Demokratie. Arthur Rosenberg zwischen Alter Geschichte und Zeitgeschichte, Politik und Politischer Bildung (1986), Macht und öffentliche Freiheit. Studien zu Hannah Arendt (1993), Gewalt, Ideologie und Bürokratismus. Das Scheitern eines Jahrhundertexperimentes (1994), Gegen den Strom. Politische Wissenschaft als Kritik (2006).

 Von 1970 bis 1975 war Gert Schäfer Redakteur der Zeitung Links, dem Organ des Sozialistischen Büros. Er war von 1968 bis 1972 Mitherausgeber der Kritischen Studien zur Politikwissenschaft, die in der Europäischen Verlagsanstalt erschienen, und ebenso von 1974 bis 1979 Mitherausgeber der Suhrkamp-Reihe Gesellschaft. Beiträge zur Marxschen Theorie. Er gab weiterhin Bücher von und über Marx, Engels, Lenin, Trotzki und Bucharin heraus, oft in Zusammenarbeit mit seinem Freund Theodor Bergmann. Er übersetzte und edierte 1977 Franz Neumanns Behemoth. Struktur und Praxis des Nationalsozialismus und machte damit einen der wichtigsten wissenschaftlichen Texte des antifaschistischen deutschen Exils in der Bundesrepublik zugänglich. Dem schlossen sich Editionen von Schriften der gleichfalls exilierten Linkssozialisten Fritz Sternberg und Kurt Stechert an.

 Diese Fakten vermögen indes nur wenig über den Menschen Gert Schäfer auszusagen. Er war, das nur scheinbar altertümliche Wort macht hier wirklich Sinn: ein nobler Charakter. Doch hätte er diese Bezeichnung mit seinem leisen, halb-ironischen, aber niemals andere verletzenden Lachen hinweggewischt. Er liebte es nicht, im Mittelpunkt zu stehen, er hörte lieber zu, statt dass er selbst sprach. Sein Sinn für Pathos war wenig entwickelt. Doch verfügte er in besonderem Maße über drei Organe, deren gutes Funktionieren man nicht nur allen wissenschaftlich Tätigen wünschen mag: Herz, Hirn und Rückgrat.

 Mario Keßler
(s.a. Sitzungsberichten der Leibniz-Sozietät, Band 114, Jahrgang 2012  S. 207f.)