Eine Wortmeldung zur Akademiereform vor 50 Jahren – Mitteilung aus dem Arbeitskreis GeoMUWA
Der Arbeitskreis Geo-, Montan-, Umwelt-, Weltraum- und Astrowissenschaften (GeoMUWA) teilt mit, dass sein Mitstreiter Heinz Kautzleben, MLS, zur Geschäftssitzung der Leibniz-Sozietät am 11.04.2019, in der turnusgemäß sowohl neue Mitglieder der Leibniz-Sozietät zugewählt wurden wie auch der Präsident und ein Vizepräsident neu gewählt wurde, eine Wortmeldung verfasst hat und zur Diskussion stellt. Die Wortmeldung betrifft die Akademiereform vor 50 Jahren. Die Kenntnis von Verlauf und Ergebnissen der Akademiereform dürfte für die Weiterentwicklung der Leibniz-Sozietät bedeutsam sein.
In die Wortmeldung sind die Erkenntnisse eingeflossen, die bei den Studien im Arbeitskreis zu Leben, Werk und Wirkung vor allem zu folgenden Mitgliedern der Leibniz’schen Gelehrtengesellschaft (hier abgekürzt: LGG) und relevanten Veranstaltungen der Leibniz-Sozietät gewonnen wurden. Sie alle haben Fachgebiete vertreten, die heute vom Arbeitskreis GeoMUWA gefördert werden.
- Hans Stille (1876-1966), LGG 1933/Preußische AdW, Ständiger Vizepräsident der DAW 1946-1951,
- Hans Ertel (1904-1971), LGG 1949/DAW, Ständiger Vizepräsident der DAW 1951-1961,
- Edgar Lehmann (1905-1990), LGG 1959/DAW, Sekretar der Klasse für Chemie, Geologie und Biologie der DAW 1963-1968, Vorsitzender der Klasse Umweltschutz und Umweltgestaltung der AdW-DDR 1971-1984,
- Otto Meißer (1899-1966), LGG 1957/DAW, Sekretar der Klasse für Bergbau, Hüttenwesen und Montangeologie der DAW 1957-1963,
- Ernst August Lauter (1920-1984), LGG 1964/DAW, Generalsekretär und Ständiger Stellvertreter des Präsidenten der DAW 1968-1972,
- Hans-Jürgen Treder (1928-2006), LGG 1966/DAW, Leiter des Forschungsbereiches Kosmische Physik der AdW-DDR 1969-1973,
- Heinz Stiller (1932-2012), LGG 1971/DAW, Leiter des Forschungsbereiches Geo- und Kosmoswissenschaften der AdW-DDR 1973-1984, Vizepräsident der AdW-DDR 1984-1988,
- Wolfgang Böhme (1926-2012), LGG 1977/AdW-DDR, Vorsitzender der Klasse Geo- und Kosmoswissenschaften der AdW-DDR 1981-1992.
Hans-Jürgen Treder, Heinz Stiller und Wolfgang Böhme gehören zu den Mitbegründern des Vereins „Leibniz-Sozietät der Wissenschaften zu Berlin“ im Jahre 1993.
Eine Wortmeldung anlässlich der Geschäftssitzung der Leibniz-Sozietät der Wissenschaften zu Berlin e. V. am 11. April 2019
Unser Verein mit dem geschichtsträchtigen und zugleich verpflichtenden Namen „Leibniz-Sozietät der Wissenschaften zu Berlin“ ist seit 1993 die Organisationsform der 1700 in Berlin gegründeten Leibniz’schen Gelehrtengesellschaft. Die Pflege des Geschichtsbewusstseins unserer Mitglieder erfordert es, darauf hinzuweisen, dass vor 50 Jahren die „Akademiereform“ in vollem Gange war.
Begonnen hatte die Akademiereform mit der Sitzung des Plenums der Deutschen Akademie der Wissenschaften zu Berlin (DAW) und der Neuwahl ihres Präsidiums am 25.07.1968. Mit der Verordnung des Ministerrates der DDR vom 20.05.1969 erhielt die DAW ein neues Statut. Als Abschluss der Akademiereform kann man die Wahl des neuformierten Präsidiums am 15.06.1972 betrachten und schließlich die Verordnung des Ministerrates der DDR vom 07.10.1972, die der reformierten DAW den Namen „Akademie der Wissenschaften der DDR“ verlieh. Durch die Akademiereform mit ihren vielfältigen Auswirkungen wurde die DAW vollkommen zur nationalen Akademie der Wissenschaften des zweiten deutschen Staates. Er war 1949 nach der Bundesrepublik Deutschland gegründet worden, hatte den Namen „Deutsche Demokratische Republik, kurz: DDR“ und provisorisch die Verfassung erhalten, die ursprünglich wie der Name für ganz Deutschland nach dem 2. Weltkrieg vorgesehen war.
Die Akademiereform bestimmte wesentlich neu das Verhältnis der 1700 gegründeten Leibniz’schen Gelehrtengesellschaft zur Akademie der Wissenschaften mit Sitz in der historischen Mitte von Berlin als Ganzes.
Wie bereits die Bezeichnung erkennen lässt, ist die Leibniz’sche Gelehrtengesellschaft eine Gemeinschaft natürlicher Personen (von Gelehrten). Sie besitzt keine Macht, wirkt durch ihr außerordentlich hohes Prestige. Sie wurde zum Träger einer Institution, als der Preußenkönig Friedrich II. 1744 die Königlich Preußische Akademie der Wissenschaften gründete. Nebeneffekt war, dass die Mitglieder der Leibniz’schen Gelehrtengesellschaft den Titel „Akademiemitglied“ führen durften. Als Träger einer Akademie hat die Gelehrtengesellschaft sich vor allem in den Zeiten großer politischer Umbrüche bewährt: nach dem Ende des 1. Weltkrieges 1919, als aus dem Deutschen Kaiserreich das Deutsche Reich und aus dem Königreich Preußen der Freistaat Preußen wurde, und nach dem Ende des 2. Weltkrieges 1945, als das Deutsche Reich in Besatzungszonen aufgeteilt, der Freistaat Preußen abgeschafft wurde. Die Mitglieder der Leibniz’schen Gelehrtengesellschaft erreichten es, dass 1920 die Regierung des Freistaates Preußen beschloss, die Königlich Preußische Akademie der Wissenschaften als „Preußische Akademie der Wissenschaften“ weiterzuführen. 1945/1946 erreichten sie, dass die Sowjetische Militäradministration in Deutschland (kurz: SMAD) befahl, die Preußische Akademie der Wissenschaften fortzuführen. Als die deutsche Akademie der Wissenschaften mit Sitz in Berlin erhielt diese den entsprechenden Namen, „deutsche“ groß geschrieben, abgekürzt DAW.
Der Befehl der SMAD galt für das Gebiet der Sowjetischen Besatzungszone einschließlich des Sowjetischen Sektors von Groß-Berlin. Die Dienstaufsicht über die DAW wurde in der Sowjetischen Besatzungszone der dort gebildeten „Deutschen Zentralverwaltung für Volksbildung“, nach Gründung der DDR 1949 dem Ministerrat der DDR übertragen. Die Satzung der DAW vom 31.10.1946 sah zum einen vor, dass die Leibniz’sche Gelehrtengesellschaft (als Gemeinschaft der Mitglieder der DAW) die DAW trägt, dass sie in eigener Verantwortung neue Mitglieder zuwählen kann, zu ordentlichen Mitgliedern, wenn sie Deutsche nach geltendem Recht sind. Zum andern sah die Satzung vor, dass die DAW wie die Preußische Akademie der Wissenschaften die Forschungen ihrer Mitglieder und die Koordinierung wissenschaftlicher Unternehmen fördert, und darüber hinaus, dass der DAW herrenlos gewordene und neu zu gründende Forschungsinstitute mit Sitz in der Sowjetischen Besatzungszone zugeordnet werden können, auch solche, die nicht durch Mitglieder der DAW geleitet werden. Wie bei den Vorgängerakademien waren die Arbeits- und Entscheidungsorgane der DAW das Plenum und die Klassen der ordentlichen Mitglieder. Sie wählten die Leitung der DAW: das Plenum den Präsidenten und den Ständigen Vizepräsidenten, die Klassen ihren jeweiligen Sekretar. Diese bildeten das Präsidium der DAW. Die Forschungsinstitute wurden wie die Forschungsförderung den Klassen der Gelehrtengesellschaft unterstellt. Macht erhielt die DAW vor allem durch das ihr zugeordnete Forschungspotential. Es wurde zügig ausgebaut und erreichte innerhalb weniger Jahre eine bedeutende Größe.
Die beiden ersten entscheidenden Maßnahmen zur Transformation der DAW zur nationalen Akademie der Wissenschaften der DDR wurden im Jahre 1957 vollzogen: Am 16.05.1957 beschloss das Plenum der DAW die Bildung der „Forschungsgemeinschaft der naturwissenschaftlichen, technischen und medizinischen Institute der Deutschen Akademie der Wissenschaften zu Berlin“, und am 20.06.1957 wurde das Amt des Generalsekretärs der Akademie eingeführt. Er musste ordentliches Mitglied der DAW sein, wurde jedoch durch die Regierung berufen. Am 23.06.1964 sollte als dritte Maßnahme die Bildung der „Arbeitsgemeinschaft der gesellschaftswissenschaftlichen Institute und Einrichtungen“ folgen. Die Forschungsgemeinschaft und die Arbeitsgemeinschaft wurden innerhalb der Akademie autonom, erhielten Vorstände, deren Vorsitzende durch die Regierung der DDR berufen wurden. Damit war der Gelehrtengesellschaft mit Plenum und Klassen der ordentlichen Akademiemitglieder jeglicher administrative Einfluss auf die Forschungsarbeiten in den Instituten und Einrichtungen der DAW entzogen wie auch auf alle weiteren staatlichen Aufgaben, die der DAW vom Ministerrat der DDR übertragen wurden. Das Präsidium der DAW wurde neu formiert. Ihm gehörten an: der Präsident, der vom Plenum zu wählen war, durch den Ministerrat der DDR in sein Amt berufen wurde, die Vorstandsvorsitzenden der Forschungsgemeinschaft und der Arbeitsgemeinschaft, die ex officio als Vizepräsidenten dem Präsidium angehörten, und der Generalsekretär sowie wie bisher die Sekretare der Klassen.
Wodurch wurde die „Akademiereform“ der Jahre 1968-1972 ausgelöst und was wurde erreicht?
Vielfach wird die „Akademiereform“ auf die strukturellen Veränderungen insbesondere bezüglich des Forschungspotentials der DAW reduziert, die weitgehend bekannt sind. Das trifft bei weitem nicht zu. Zumindest ebenso wichtig waren die Zielsetzungen bezüglich der Gelehrtengesellschaft.
Die ranghöchste und wirkungsmächtigste wissenschaftliche Einrichtung der DDR musste fit gemacht werden für die unmittelbar bevorstehende Ausrufung der vollständigen staatlichen Souveränität und die politische Anerkennung der DDR, ausgewiesen durch deren Aufnahme als Vollmitglied in die Organisation der Vereinten Nationen (sie sollte im September 1973 erfolgen), und die Erfüllung der sich daran anschließenden, gewaltigen Anforderungen. Es war erkannt worden, dass die faktische Trennung von Gelehrtengesellschaft und Forschungspotential zurück genommen werden muss, wenn die vielfältigen Möglichkeiten einer nationalen Akademie der Wissenschaften genutzt werden sollen.
Zunächst musste die DAW den staatsrechtlichen Entscheidungen angepasst werden; die DAW unterstand der Staatsmacht der DDR. 1961 war die Staatsgrenze der DDR auch gegenüber den Westsektoren von Berlin definiert und gesichert worden. 1967 beschloss die Volkskammer der DDR per Gesetz eine eigene Staatsangehörigkeit der DDR. 1968 beschloss das Staatsvolk der DDR durch Volksentscheid die sozialistische Verfassung der DDR, machte sich damit zur Verfassungsnation. Die Konsequenzen für die DAW waren offensichtlich. In der Gelehrtengesellschaft musste der Status des Auswärtigen Mitgliedes eingeführt werden, und zu Ordentlichen und Korrespondierenden Mitgliedern durften nur noch Wissenschaftler gewählt werden, die Staatsangehörige der DDR waren, mit allen Rechten und Pflichten.
In der akademischen Gelehrtengesellschaft wird die Wissenschaft nach dem Prinzip gefördert: Wissenschaft ist das, was Wissenschaftler betreiben. Durch die Zuwahl verleiht die Gelehrtengesellschaft den höchsten Grad, den ein Wissenschaftler erreichen kann. Neben der Zuwahl haben sich bewährt die wissenschaftlichen Sitzungen der Mitglieder der Akademie, organisiert durch das Plenum und die Klassen, in denen sie hauptsächlich die sie interessierende Themen diskutieren. Allerdings können dadurch auch Verzerrungen im Wissenschaftsbild entstehen, die nur langfristig überwunden werden können, wobei hohe Sensibilität erforderlich ist.
In der Reform der DAW waren die ersten Schritte bezüglich der Gelehrtengesellschaft die Einrichtung von „problem-orientierten“ Klassen anstelle der bisherigen Gruppierung nach Disziplinen, wobei deren Vorsitzende nicht mehr wie die bisherigen Klassensekretare Mitglieder des Präsidiums der DAW waren. Diese neuen Klassen konnten zu ihren wissenschaftlichen Sitzungen auch Wissenschaftler einladen, die nicht Mitglied der Akademie waren. Diese Maßnahmen haben sich nicht bewährt. Bereits 1973 gliederte die nunmehrige Akademie der Wissenschaften der DDR die Klassen ihrer Gelehrtengesellschaft wieder nach Wissenschaftsgebieten (Disziplinen), allerdings vielfach neu, entsprechend den aktuellen Hauptrichtungen in der weltweiten Entwicklung der Wissenschaften.
Im Jahre 1968 hatten folgende Klassen bestanden:
- Mathematik, Physik und Technik, Seketar Gustav Hertz
- Chemie, Geologie und Biologie, Sekretar Edgar Lehmann
- Bergbau, Hüttenwesen und Montangeologie, Sekretar vakant
- Medizin, Sekretar Helmut Kraatz
- Sprachen, Literatur und Kunst, Sekretar Walter Ruben
- Philosophie, Geschichte, Staats- und Rechtswissenschaften, Sekretar Fred Oelsner.
Im Jahre 1989 bestanden folgende Klassen:
- Mathematik, Vorsitzender Lothar Budach
- Physik, Vorsitzender Karl Lanius
- Chemie, Vorsitzender Manfred Rätzsch
- Werkstoffwissenschaften, Vorsitzender Horst Blumenauer
- Geo- und Kosmoswissenschaften, Vorsitzender Wolfgang Böhme
- Informatik, Kybernetik und Automatisierung, Vorsitzender Ulrich Hofmann
- Technikwissenschaften, Vorsitzender Günther Albrecht
- Biowissenschaften, Vorsitzender Eberhard Hofmann
- Medizin, Vorsitzender Günter Pasternak
- Literatur-, Sprach-, Geschichts- und Kunstwissenschaften, Vorsitzender Joachim Herrmann
- Philosophie, Ökonomie, Geschichte, Staats- und Rechtswissenschaften, Vorsitzender Helmut Koziolek (ab 23.03.1990 Herbert Hörz).
Die Klasse Geo- und Kosmoswissenschaften wurde 1981 gebildet. In ihr ging 1984 die problem-orientierte Klasse Umweltschutz und Umweltgestaltung auf, die 1969 gebildet worden war. Mit der Bildung der Klasse Geo- und Kosmoswissenschaften folgte die Gelehrtengesellschaft den weltweiten grundlegenden Veränderungen dieses Wissenschaftsgebietes seit den 1960er Jahren: dem Paradigmenwechsel in den Geowissenschaften (dynamische Erde), der Entstehung und Nutzung der Weltraumtechnologie und dem Aufschwung der Umweltwissenschaften.
Ab Ende der 1970er Jahre berief der Präsident die Klassenvorsitzenden wieder zu ständigen Teilnehmern an den Beratungen des Präsidiums der Akademie. Man kann diese Maßnahme als Reaktion auf die gestiegene Bedeutung der Gelehrtengesellschaft generell bewerten wie auch auf den relativ gewachsenen Einfluss des Potentials der Akademie auf die Wissenschaftsentwicklung in der DDR. Ablesen kann man das aus den statistischen Angaben zum Mitgliederbestand der Gelehrtengesellschaft der Akademie der Wissenschaften der DDR.
Vor Beginn der Akademiereform besaß die DAW insgesamt 287 Mitglieder, davon waren 153 ordentliche Mitglieder (OM) und 134 korrespondierende Mitglieder (KM). Nach Einführung des Status Auswärtiges Mitglied (AM) waren es 125 OM, 29 KM und 135 AM. Im Jahre 1989 hatte die AdW der DDR insgesamt 402 Mitglieder, davon waren 157 OM, 99 KM und 146 AM.
Im Jahre 1949 hatte die DAW insgesamt 212 Mitglieder gehabt, davon waren 100 OM, 110 KM und 2 Ehrenmitglied gewesen. Von den 100 OM – alle Professoren – waren 84 an Universitäten und Hochschulen tätig, 2 an Instituten der DAW und 14 an anderen wissenschaftlichen Einrichtungen, einschließlich Forschungslaboratorien der Industrie. Bis zum Beginn der Akademiereform hatten sich die Relationen derart verschoben, dass von den 153 OM 40 in DAW-Instituten, 93 an Universitäten und Hochschulen und 20 in anderen Bereichen tätig waren. Im Jahre 1989 waren von den 157 OM 80 in DAW-Instituten, 63 an Universitäten und Hochschulen und 14 in anderen Bereichen tätig. (Da die Mitgliedschaft in der Gelehrtengesellschaft lebenslang besteht, wurde bei diesen Angaben nicht berücksichtigt, ob die OM die gesetzliche Altersgrenze von 65 Jahren erreicht oder überschritten haben.)
s.a.: Werner Scheler: Von der Deutschen Akademie der Wissenschaften zu Berlin zur Akademie der Wissenschaften der DDR. Abriss der Genese und Transformation der Akademie. Berlin: Dietz, 2000
Heinz Kautzleben
Anlagen:
Akademiepräsidien von 1968-1972 und ab 1972
Neuformierung des Forschungspotentials der DAW – die Forschungsbereiche