Ehrenkolloquium für Lutz-Günther Fleischer zum 80. Geburtstag
Die Sitzungen der Klasse Natur- und Technikwissenschaften und des Plenums am 11. Oktober 2018 standen ganz im Zeichen des 80. Geburtstages des Klassensekretars Prof. Dr. Lutz-Günther Fleischer.
Kollege Fleischer gab in der Klassensitzung des Vormittags zunächst eine Zusammenschau eigener Forschungsergebnisse an biotisch und technisch-technologisch bedeutsamen Biopolymeren, die er mit seinen Kooperationspartnern über Jahrzehnte gewonnen hat. Dabei ging es um genuine und modifizierte Eigenschaften (speziell Bioaktivitäten) und technologische Funktionen sowie physikalisch-mathematische Modellierungen hydrokolloidaler Zustände und strukturwandelnder Prozesse (insbesondere Phasenübergänge). Im Mittelpunkt der interdisziplinären Untersuchungen standen A- und B-Gelatinen, Zymogele der äußeren Epidermisschicht (Stratum corneum) von Walen (Globicephala melas), β-Glucane aus Kulturhefen (Saccharomyces cerevisiae) und bioaktive Hyaferm-Composite (β-Glucane-Hyaluronsäure-Präparate). Besondere Beachtung schenkte der Vortragende der Gelatine als Modellsubstrat für „smarte“ Hydrogele mit spezifischen Polymernetzwerken, die auf bestimmte physikalische, chemische und biochemische Einwirkungen „intelligent“ reagieren und zu beachtlichen Innovationen in der Umwelt- und Nahrungsmittelanalytik oder bei medizinischen Anwendungen führen.
Den theoretischen Kern der Experimente und Betrachtungen bildeten die Begriffe Entropie und Information, die – eingedenk der „zerfließenden Vielfalt“ ihrer Verwendung – ausführlich besprochen wurden. Auf der Basis statistischer Betrachtungsweisen wurde eine zur Thermodynamik kompatible, dimensionslose Entropie vorgestellt und angewendet.
Weitere Details des Vortrages s. Erweitertes Manuskript zum Klassenvortrag
Lutz-Günther Fleischer kann auf vier erfüllte Jahrzehnte akademischer Lehrtätigkeit an der Technischen Hochschule Leuna-Merseburg, der Humboldt-Universität zu Berlin und der Technischen Universität Berlin mit einer bemerkenswerten Weite seiner Lehr- und Forschungsgebiete zurückblicken, die – theoria cum praxi! – von der Thermodynamik irreversibler Prozesse bis zur industrienahen Verfahrenstechnik, Biotechnologie und Technikfolgenabschätzung reicht. Bis zu seiner Emeritierung 2006 leitete er den Fachbereich Lebensmittelverfahrenstechnik sowie das traditionsreiche Berliner Zuckerinstitut und war Dekan der Fakultät für Prozesswissenschaften der TU Berlin.
Zum Thema des zu seinen Ehren am Nachmittag im Plenum veranstalteten Kolloquiums wählte der Jubilar dann auch ein weites, interdisziplinäres Rahmenthema:
Unbestimmtheit, Unsicherheit, Fehlerhaftigkeit und Fehlertoleranz in Natur, Technik und Gesellschaft
Wie der Präsident der Leibniz-Sozietät der Wissenschaften zu Berlin Gerhard Banse in seiner Laudatio betonte, zeichnen sich die Forschungen des Geehrten mit ihrer naturwissenschaftlichen Durchdringung, praktischen Nutzung und gesellschaftlichen Bewertung durch eine ausgeprägte Komplexität und Interdisziplinarität aus. Zudem war und ist ihm die Verbreitung wissenschaftlicher Kenntnisse ein besonderes Anliegen, das er unter anderem im Präsidium der Urania (1975–1990), zuletzt als 1. Vizepräsident, und im Kollegium der Leibniz-Sozietät (seit 2004) mit einer Vielzahl von Veranstaltungen und Veröffentlichungen verfolgte. Die Gelehrtengesellschaft dankte ihm insbesondere für sein unermüdliches, umsichtiges und erfolgreiches Wirken als Sekretar der Klasse Naturwissenschaften und Technikwissenschaften und Mitglied des Präsidiums seit 2012.
Der Würdigung durch den Präsidenten folgten – gemäß der im Rahmenthema genannten Wirkungsbereiche – drei Vorträge durch einen Philosophen, einen Naturwissenschaftler und einen Informatiker.
Der Wissenschaftsphilosoph Karl-Friedrich Wessel (MLS) stellte in seinem Beitrag Der ganze, unvollkommene Mensch (und seine Technik) das „einfache Bild“ von den zwei Kulturen, die Kluft zwischen Natur- und Geisteswissenschaften und das „Auseinanderdriften beider Rationalitäten“ infrage und suchte nach Begriffen, die der Vielschichtigkeit unseres Denkens gerecht werden. Worte wie „Unbestimmtheit“, „Unsicherheit“ oder „Fehlerhaftigkeit“ seien dafür weniger geeignet als der Begriff „Unvollkommenheit“, der nicht nach Wahrheit, Genauigkeit oder Messbarkeit frage, sondern die Welt des Denkens offen halte. Kollege Wessel veranschaulichte das am Beispiel der Theorie der Selbstorganisation mit ihren erstaunlichen Grenzüberschreitungen.
Die Unvollkommenheit sei auch ein Kennzeichen bestimmter, wissenschaftsimmanenter „ästhetischer Fehler“, die der Unbestimmtheit und Unsicherheit des Augenblicks geschuldet und von beliebigen Fehlern zu unterscheiden sind. Sie sind das unvermeidbare Resultat des Strebens nach Erkenntnis und Ausdruck der Ästhetik menschlichen Handelns. Die Quintessenz des Vortrages lautete: „Die Schönheit der Wahrheit liegt in ihrer Unvollkommenheit.“
Mit Fehlern befasste sich auch der Physiker Werner Ebeling (MLS) in seinem mit Rainer Feistel (MLS) verfassten Beitrag über Die Rolle von Fehlern in der Evolution bei der Entstehung des Neuen, des Lebens und der Informationsverarbeitung. Fehler sind – so ihre Definition – kleine, asymmetrische Abweichungen zwischen Trägern symbolischer Information. Der Fehler-Begriff ist aber anthropomorph und tauge nicht für Naturprozesse, die vielmehr Schwankungen unterliegen. Solche stochastischen Variationen bildeten die Voraussetzung für die Entstehung und Evolution des Lebens, was an komplexen, emergenten Vorgängen wie der Selbstorganisation von Biopolymeren und der biologischen Informationsübertragung näher erläutert wurde.
Kollege Ebeling wandte sich dann zentralen Konzepten der Thermodynamik zu und kennzeichnete die Entropie als eine universelle Größe. Mit jedem Informationsaustausch ist ein Fluss von Entropie verbunden, der mithin in fast allen Prozessen in Natur, Technik und Gesellschaft eine Schlüsselrolle spielt.
Der Wissenschaftsphilosoph und Informatiker Klaus Fuchs-Kittowski (MLS) wandte sich schließlich in seinem Vortrag über das Verständnis der Information und der digitalen Transformation in einer vernetzten und verwundbaren Gesellschaft der Stellung und Verantwortung des Menschen in riskanten informationstechnologischen Systemen zu. Er führte vor Augen, dass die Automation als sozialer Prozess unvermeidlich mit inhärenten Unbestimmtheiten, Unsicherheiten und Ungewissheiten einhergehe und auch nicht intendierte Folgen habe.
Um die Potenzen und Grenzen der automatisierten Informationsverarbeitung zu verdeutlichen, setzte sich Kollege Fuchs-Kittowski in einem theoretischen Exkurs eingehender mit dem Informationsbegriff auseinander und unterschied drei Informationskonzepte – ein strukturelles (mathematisches), ein funktionelles (modelltheoretisches) und ein evolutionäres Verständnis der Information.
Zur Gewährleistung größerer Sicherheit wird heute immer mehr Automatisierungstechnik in gesellschaftliche Arbeits- und Lebensprozesse einbezogen. Es entstehen hochkomplexe informationstechnologische Systeme, die aber – so die Erfahrung aus bitteren Reaktor-, Flugzeug- oder Schiffsunglücken – die menschliche Gesellschaft nicht nur sicherer, sondern auch verwundbarer machen. Das Fazit heißt: In hochkomplexen informationstechnologischen Systemen muss der Mensch in der Verantwortung sein und bleiben!
Die Beiträge des Ehrenkolloquiums werden in den Sitzungsberichten der Leibniz-Sozietät zu Berlin veröffentlicht.
Ekkehard Höxtermann
Alle Fotos: D. Linke