Bericht über die ganztägige Plenarveranstaltung am 13.10.2016 in Berlin
Reform zur Demokratisierung der Schule in der Sowjetischen Besatzungszone
Die Leibniz-Sozietät nahm die vor 70 Jahren, im Mai/Juni 1946, in den Ländern der Sowjetischen Besatzungszone mit einem Gesetz zur Demokratisierung der deutschen Schule eingeleitete Schulreform zum Anlass, Fragen der Schul- und Bildungsentwicklung erneut zum Thema einer ihrer zentralen wissenschaftlichen Veranstaltungen zu machen. Aus historisch-systematischer Perspektive wurden maßgebliche Ziele und Inhalte der 1946er Reform (Demokratieerziehung, Einheitlichkeit, Staatlichkeit, Wissenschaftlichkeit, Weltlichkeit, Koedukation u.a.) in ihrer geschichtlichen Bedeutung sowie vor dem Hintergrund einer widerspruchsreichen Schulgeschichte in der DDR erörtert und in ihrem Anregungspotential für gegenwärtige schulreformerische Aufgaben diskutiert.
Davon ausgehend unterstrich der Präsident der Sozietät Prof. Dr. Gerhard Banse in seiner Begrüßungsrede die Bedeutung historischer Vergewisserung für die Bewältigung der Schul- und Bildungsprobleme in Gegenwart und Zukunft und verwies in diesem Zusammenhang auch auf die Leibniz-Vorträge aus Anlass des 300. Todestages des Namensgebers der Sozietät, insbesondere auf den Vortrag von Hans Poser zur Prinzenerziehung.
Mit einem allgemeinhistorischen und einem rechtswissenschaftlichen Beitrag wurde die eigentliche schul- und bildungsgeschichtliche Thematik der Tagung zunächst in übergreifende politische und gesellschaftliche Zusammenhänge gestellt.
Ausgehend von der These, dass die 1946er Schulreform der größte Einschnitt seit Einführung der allgemeinen Schulpflicht gewesen sei, umriss Günter Benser (Berlin) die äußeren und inneren politischen und gesellschaftlichen Konstellationen nach dem zweiten Weltkrieg und der Zerschlagung des Nationalsozialismus, unter denen eine tiefgreifende und nachhaltige Umgestaltung des Schul-und Erziehungswesens erst möglich, zugleich aber auch dringend notwendig geworden war. In ihren Kernforderungen, Erziehung zur Demokratie und Durchsetzung des Rechts auf Bildung für alle Heranwachsenden, entsprach die Schulreform den Bestimmungen der Alliierten über eine Neuordnung Deutschlands.
Hermann Klenner (Berlin) erörterte sodann das Recht auf Bildung als Menschen-, Völker- und Bürgerrecht im Spannungsfeld zwischen Vision und Realität in einem weiten geschichtlichen Bogen, den er vom Allgemeinen Landrecht in Preußen, über die Menschenrechtsdeklarationen der Vereinigten Staaten von Amerika und der französischen Revolution bis hin zur Menschenrechtserklärung der UNO sowie zu Aktivitäten der UNESCO und zu den Bestimmungen der DDR-Verfassung und des Grundgesetzes der BRD zog. Besondere Bedeutung schrieb er der UN-Sonderberichterstattung für das Menschenrecht auf Bildung zu.
Einen detail- und faktenreichen Überblick über die bereits vor 1945/46 in verschiedenen politischen und gesellschaftlichen Kreisen vorgedachte Schulreform und über den Prozess der Gesetzgebung in den Ländern der SBZ gab Gert Geißler (Berlin), der außerdem den Blick auf das 1948 mit parlamentarischer Mehrheit verabschiedete Gesamtberliner Einheitsschulgesetz lenkte, das sich trotz seiner demokratischen Intentionen nach der Teilung der Stadt nicht durchsetzen konnte.
Wesentliche Etappen der Schulreformdiskussionen in den westlichen Besatzungszonen und der BRD zeichnete Dietrich Hoffmann (Göttingen) nach. Eine einheitliche Bildungspolitik wurde hier durch den im Grundgesetz festgeschriebenen Föderalismus ausgeschlossen. Trends zur Vereinheitlichung, ausgelöst durch zunehmenden Verfall des traditionellen Bildungsbegriffs und durch Forderungen nach mehr Chancengerechtigkeit, spiegelten sich seit den späten 1960er Jahren vor allem in der Gesamtschulbewegung, die wiederum von ihren Gegnern als Gefahr besonders für das traditionelle Gymnasium gesehen wurde.
Trotz des Scheiterns einer Gesamtreform sieht Wolfgang Keim (Paderborn), der aus gesundheitlichen Gründen leider nicht an der Tagung teilnehmen konnte, in der Gesamtschulbewegung und insbesondere in der integrierten Gesamtschule als dem zentralen Schulreformmodell der sozial-liberalen Bildungsreformphase den wichtigsten Beitrag der alten Bundesrepublik zur deutschen Schulentwicklung.
Ein „vernachlässigtes Thema“ der Schulreform griff Ursula Schröter (Berlin) in ihrem Beitrag über die Problematik schulischer Koedukation auf. Getragen von der Absicht, die 1946er Schulreform als Beitrag zur geschlechtlichen Gleichstellung von Jungen und Mädchen im Bildungsprozess zu betonen, aber auch auf Widersprüche des Koedukationsprozesses aufmerksam zu machen, löste vor allem ihre Überlegung, dass auch in der DDR Diskriminierungen durch patriarchalische Herrschaftsverhältnisse existierten, Widerspruch und kontroverse Diskussionen aus.
Franz Prüß (Greifswald) schließlich sah im Modell einer Gemeinschaftsschule nicht nur historische Erkenntnisse und Erfahrungen von Comenius, über die Reichsschulkonferenz 1920 bis zur 1946er Schulreform gebündelt, sondern räumte diesem Schultyp einen entscheidenden Platz in der zukünftigen Bildungsentwicklung ein. Aktualität gelte nicht nur hinsichtlich der strukturellen und inhaltlichen Einheitlichkeit, sondern auch der Trennung von Schule und Religion, dem Anspruch der Wissenschaftlichkeit oder dem Verhältnis von Individuum und Gemeinschaft.
Von gegenwärtigen Problemen der Bildungssituation in Deutschland ging auch Herbert Hörz (Berlin) in seinen Schlussbemerkungen zur Tagung aus. „Wichtige Schritte auf dem Weg zu einer allgemeinbildenden demokratisch strukturierten Schule in Deutschland“ seien analysiert worden, „Anzeichen einer Bildungsmisere charakterisiert und Problemlösungen aufgedeckt“. Vieles würde die Bildungsdebatte in Deutschland weiter beschäftigen müssen. Er schloss mit Überlegungen zu Erfahrungen, Problemen und Aufgaben, die sich aus der Auseinandersetzung mit dem Thema Bildung und Gesellschaft ergeben, und der Aufforderung an die Leibniz-Sozietät, mit ihren Möglichkeiten diesen notwendigen Diskussionsprozess zu unterstützen.
Nicht zuletzt sei an dieser Stelle die breite Resonanz auf das Thema erwähnt, die im Interesse einer überschaubaren, Diskussionszeit einräumenden Tagungsgestaltung zwang, einige der eingereichten Beiträge in den voraussichtlich im Januar 2017 erscheinenden Tagungsband in der Reihe „Gesellschaft und Erziehung“ (Peter Lang Verlag der Wissenschaften) zu verweisen, u.a. Optionen, Probleme und Widersprüche der Neuausrichtung der Pädagogik nach 1945 (Christa Kersting, Berlin), Menschenbilder im Niemandsland – Bildungsphilosophische und bildungstheoretische Diskussionen im Umfeld des Gesetzes (Dieter Kirchhöfer, Lehnitz), Zum Umgang mit dem Lehrplan Deutsch (SBZ, 1946) unter besonderer Betonung der Funktion als Vergleichslehrplan (Marina Kreisel, Zeesen), Lehrerpraxis und Lehrerbildung – Anmerkungen aus der Sicht eines Zeitzeugen (Werner Naumann, Halberstadt), Kern- und Kursunterricht – zu Vorläufern des 1946er Bildungskonzepts in den Modellen von Bewegungsfreiheit der Weimarer Republik (Frank Tosch, Potsdam), Die 1946er Schulreform in der SBZ vor dem Hintergrund deutscher Bildungsgeschichte (Christa Uhlig, Berlin).
Dieter Kirchhöfer, Christa Uhlig