Bericht über das Raumfahrthistorische Kolloquium 2024
Die Raumfahrthistorischen Kolloquien finden jährlich an einem Samstag im November in der Archenhold-Sternwarte in Berlin-Treptow statt und werden gemeinsam von der Stiftung Planetarium Berlin, der Deutschen Gesellschaft für Luft- und Raumfahrt Lilienthal-Oberth e. V., der Leibniz-Sozietät der Wissenschaften zu Berlin e. V. und dem Sächsischen Verein für historisches Fluggerät e.V. organisiert. Das Raumfahrthistorische Kolloquium 2024, das dritte nach der Coronapandemie, wurde seitens der Leibniz-Sozietät wieder von MLS Dietrich Spänkuch zusammen mit Stefan Gotthold (Stiftung Planetarium Berlin), Dr. Christian Gritzner (DLR und Deutsche Gesellschaft für Luft- und Raumfahrt, DGLR Lilienthal-Oberth e. V.) und Dr. Olaf Przybilski (Sächsischer Verein für historisches Fluggerät e. V.) vorbereitet und fand am 30.11.2024 wie gewohnt im historischen Einstein-Saal der Archenhold-Sternwarte statt.
Nach einführenden Worten von Stefan Gotthold, dem Hausherrn der Tagung, wurde der erste Teil der Vorträge von Dr. Christian Gritzner moderiert.
Den Reigen der Vorträge eröffnete Michael Schumann, M.A. (Universität Potsdam) mit seinem Beitrag „Etappen der Raumfahrtgeschichte im Spiegel der Philosophie des 20. Jahrhunderts“, in der er fünf Etappen mit beispielhaft jeweils einer prägenden Persönlichkeit definierte. Für die erste Etappe, von Schumann als Vorbereitungsetappe (1910er/1920er Jahre) bezeichnet, steht Konstantin Eduardowitsch Ziolkowski (1857-1937) mit seiner utopischen Sehnsucht nach einer besseren Gesellschaft außerhalb des Irdischen, die die Triebkraft seiner raumfahrttechnischen und mathematischen Studien war. Für die zweite Etappe, als Orientierungsetappe (1930er/1940er Jahre) bezeichnet, wählte Schumann den Literaten Arthur Clarke (1917-2008), bekannt für seinen mit Stanley Kubrick gedrehten Film „2001 – Odyssee im Weltraum“, mit seinen Gedanken der satellitengestützten Völkerannäherung. Die Philosophin Hannah Arendt (1906-1975) steht für die dritte „Konsolidierungsetappe“ (1950er/1960er Jahre), in der die Folgen der einsetzenden bemannten Raumfahrt für die Menschheit reflektiert werden, gefolgt von der „Zermürbungsetappe“ der 1970er/1980er Jahre mit dem Raumfahrtingenieur Krafft Ehricke (1917-1984) der Peenemünder Gruppe als „Aushängeschild“, der für den Beitrag der Raumfahrt für die langfristige Entlastung der Biosphäre durch die Auslagerung energieintensiver Industrieaktivitäten steht. In der fünften Etappe, der „Pluralisierungsetappe“ der 1990er/2000er Jahre, repräsentiert durch den Raumfahrtingenieur Robert Zubrin (*1952), wird dann mehr Gewicht auf den optimistischeren Aspekt des menschlichen Erfindungsreichtums gelegt, zugleich aber auch eine viel intensivere notwendige internationale Kooperation betont.
Im nachfolgenden Vortrag „Die Berichte von Alexander B. Scherschevsky an den sowjetischen Geheimdienst GRU in den Jahren 1929 bis 1931“ konnte Dr. Wolfgang Both (Berlin) bisher nicht bekannte Fakten aus der Frühzeit der Raketenentwicklung in Deutschland vorstellen. Die aus den Archivbeständen der Russischen Akademie der Wissenschaften (ARAN) erworbenen Unterlagen – es liegen 20 von mindestens 32 Berichten mit über 300 Blatt vor – ergeben, dass Alexander Borissowitsch Scherschevsky (1894-1937), Sohn wohlhabender jüdischer Eltern in St. Petersburg, von 1929, als er als Assistent von Herrmann Oberth während dessen Arbeiten am Film „Frau im Mond“ war, bis kurz vor seiner Ausreise 1932 Berichte an den militärischen sowjetischen Geheimdienst GRU geliefert hatte. Viele dieser Berichte enthalten Skizzen und Konstruktionsdetails mit Maß- und Materialangaben und sind daher besonders auch aus wissenschaftshistorischer Sicht besonders wertvoll, da von vielen Raketenpionieren keine solchen Konstruktionsbelege mehr erhalten sind. Scherschevskys Berichte enthalten Skizzen zu Arbeiten von Hermann Oberth, Rudolf Nebel, Karl Poggensee, Alfons Pietsch, Johannes Winkler und dem bislang nicht bekannten Dipl.-Ing. Hermann Volpert, der bei der Augsburger Maschinenfabrik tätig war.
Der Vortrag von Michael Tilgner (Wedel) „Einsteins Relativitätstheorie und die Raumfahrtpioniere“ musste wegen Krankheit des Autors leider ausfallen. Wir hoffen, ihn nächstes Jahr im Programm zu haben.
Die Nachmittagssitzung, moderiert von MLS Dr. sc. Dietrich Spänkuch, begann mit den Ausführungen von Prof. Dr. Dieter Oertel (Schwielochsee) et al. zum Thema „Abbildende Weltraumsensoren aus Berlin-Adlershof. Gestern – Heute – Morgen. Ein beachtliches Erbe des Instituts für Kosmosforschung der AdW der DDR“. Überzeugend wurde dargestellt, wie aus zwei bereits im Institut für Kosmosforschung der Akademie der Wissenschaften (AdW) der DDR im Rahmen des Interkosmosprogramms entwickelten bzw. in Entwicklung befindlichen Geräten, dem Multispectral Optoelectronic Scanner (MOS) zur Fernerkundung von Binnengewässern und Meeren und dem Wide-Angle Optoelectronic Stereo Scanner (WAOSS) für die russische MARS-94 Mission, die selbst noch nach der Übernahme des IKF durch das DLR von dieser zu Missionen mit DLR-Beteiligung eingesetzt wurden, eine Vielzahl weiterer Fernerkundungsgeräte mit unveränderten, modifizierten oder weiter entwickelten Bauteilen vom MOS und WAOSS entwickelt, gebaut und zum Einsatz gebracht wurden bzw. im Einsatz sind. Die Geräte werden sowohl für die Lösung irdischer Fragestellungen wie die Erkundung, Überwachung und Quantifizierung von Feuern als auch für international koordinierte kosmische Einsätze wie zum Merkur eingesetzt. MOS und die entsprechenden Nachfolgegeräte arbeiten im sichtbaren und nahen Infrarotbereich, WAOSS und Nachfolger im mittleren Infrarot.
Im anschließenden Vortrag „Frühgeschichte rotierender Weltraumhabitate – Fantastische Möglichkeit und futuristische Wirklichkeit“ stellte Frau Dr. Marie-Luise Heuser (Gesellschaft für Kultur und Raumfahrt e. V) die Ideen zu Weltraumhabitaten von den frühen Vorstellungen Ziolkowskis bis zu den modernen Ideen autarker, mehrere Millionen Menschen beherbergender Weltraumkolonien als konsequente Folge der Renaissance-Philosophie vor, in der neben Erfindungen auch bereits Science Fiction als Mittel kognitiver Neuschöpfung, so bei Johannes Kepler in seiner Erzählung „Somnium“ (Der Traum), Anwendung fand und auch die Kunst als Neuschöpfung der Wirklichkeit eine Rolle spielt.
Den Abschluss der Vortragsfolge bildete der Vortrag „Nathan Zuntz – ein Pionier der Raumfahrtmedizin“ von MLS Prof. Dr. Hanns-Christian Gunga (Charité Berlin). Nathan Zuntz (1857-1920), ältester Sohn einer angesehenen jüdischen Kaufmannsfamilie (Kaffeerösterei), war zu seiner Zeit ein international bekannter und anerkannter Wissenschaftler an der Königlich Landwirtschaftlichen Hochschule Berlin mit bahnbrechenden Arbeiten insbesondere über die Physiologie von Tieren und Menschen in Belastungssituationen, zu der er, teilweise auch mit anderen Wissenschaftlern, auch entsprechende Instrumente entwickelte wie den Zuntz-Geppertschen Respirationsapparat zur Untersuchung des Energiestoffwechsels von Pferden, ein Laufband mit variabler Geschwindigkeit und Neigung, eine transportable Gasuhr für Atemmessungen für zahlreiche Anwendungen bei Sport und Arbeit, ein pneumatisches Kabinett zu physiologischen Untersuchungen bei verschiedenen Luftdrucken und vieles andere mehr. Für seine Verdienste wurde er mehrfach gewürdigt. Er war Mitglied der Leopoldina, Träger des Roten Adlerordens 4. Klasse und weiterer Auszeichnungen. Umso verwunderlicher erscheint es, dass er hierzulande nahezu in Vergessenheit geriet und erst durch US-amerikanische Arbeiten nach dem 2. Weltkrieg wieder entdeckt wurde. Es ist das große Verdienst Gungas, Nathan Zuntz durch seine Studien und Veröffentlichungen wieder in Erinnerung gerufen zu haben. Für das Raumfahrthistorische Kolloquium ist Nathan Zuntz vor allem als einer der Begründer der Luft- und Raumfahrtmedizin relevant, die durch die wissenschaftlichen Berliner Luftfahrten angeregt wurden.
Teilnehmerzahl (rund 50 Besucher) und bereits vorliegende Vortragsanmeldungen für das nächste Raumfahrthistorische Kolloquium im kommenden Jahr zeugen von dem großen Interesse an diesen Veranstaltungen. Die Beiträge von RHK 2024 werden wieder in Leibniz-Online erscheinen.
D. Spänkuch