Auszüge aus einem Interview mit dem Mitglied unserer Sozietät Prof. Dr. Luan Starova

Am 5. Dezember 2020 führte die nordmakedonische Tageszeitung „Nezavisen vesnik“ ein langes, aufschlussreiches und auch in der Internetausgabe der Zeitung nachzulesendes Interview  mit dem nordmakedonischen Schriftsteller, Gelehrten, Politiker, ehemaligen Diplomaten und Vizepräsidenten der Makedonischen Akademie der Wissenschaften und Künste (MANU) Professor Dr. Luan Starova. Da Luan Starova (Jg. 1941) seit 2016 auch Mitglied der Leibniz-Sozietät der Wissenschaften zu Berlin e.V. ist (s.a. Bericht), hielten Frau Professorin Dr. Angela Richter und ich es für richtig, dieses wichtige Interview in Auszügen unseren Mitgliedern zugänglich zu machen.

Anlass für das Interview war der neueste Roman Starovas Janitscharen, die bislang letzte Veröffentlichung seiner 20 Bände umfassenden Balkansaga. Drei davon, Das Buch des Vaters, Das Buch der Mutter und Zeit der Ziegen, sind auch ins Deutsche übertragen worden. Starova ist in seinen Romanen um eine kreative Synthese des Realen, Wahrhaften und Fiktiven bemüht, auch des Wissenschaftlichen und Metaphorischen. Besonders am Herzen lag ihm der Roman Der General und der Schmetterling. Es geht darin um die Kriegshandlungen, die sich im 1. Weltkrieg am Prespa- und am Ochrid-See abspielten. Französische und deutsche Truppen lagen sich hier in schweren Kämpfen gegenüber. Zwei Offiziere, ein Deutscher und ein Franzose, treffen in einer nahezu absurden Situation aufeinander: Beide waren im zivilen Leben bekannte Biologen und suchten trotz des Krieges nach einem Schmetterling, der nur auf dem Balkan vorkam. Das erinnert irgendwie an Ernst Jünger (1895–1998), der, ungeachtet des tiefen Drecks der Schützengräben an der Westfront, dort Käfer sammelte und sie bestimmte. Auf dem Balkan jedoch trafen sich zwei Gegner, die zugleich wissenschaftlich Gleichgesinnte waren. Ihre sich vollziehende Annäherung, ein zutiefst durch die Natur vermittelter menschlicher Akt, offenbart die Sinnhaftigkeit dieses Romans: die Überwindung des Krieges und von Feindschaft, ein humanistischer Wunsch von aktueller Bedeutung bis heute. Im 2014 erschienenen Buch Balkanvavilonci (dt. Balkanbabylonier) vermengen sich vor dem balkanischen kulturgeschichtlichen Hintergrund und dem Schicksal der Großfamilie Starovas – weitverzweigt mit ihren türkischen, albanischen, jüdisch-sephardischen und makedonischen Wurzeln – auf dialektische Weise Historie, Kultur, Literatur, Menschlichkeit und Wortphilologie – gebrochen durch das Prisma zweier Bibliotheken. Die eine gehörte dem Vater Starovas, die andere dem Intellektuellen Kliment Kamilski, ein als Informbüro-Anhänger diffamierter und auf die Gefängnisinsel Golo otok verbrachter ehemaliger Universitätsprofessor. Allnächtlich trafen sie sich in ihren Bücherburgen, wo sie anhand der Bücher ihre Gedanken zu den Problemen der Welt, dem Miteinander der Völker und über die Funktion der Sprachen austauschten.

Man könnte auf dem ersten Blick meinen, dass Starovas literarische Schöpfungen allein auf den balkanischen Raum eingegrenzt seien. Dem ist nicht so: Inhaltlich und mit ihren Aussagen zu Toleranz, Mitmenschlichkeit und Völkerverständigung, ja Völkerfreundschaft, gehen sie weit darüber hinaus und haben alle eine europäische, allgemeinmenschliche Dimension. Insofern ist Starova nicht nur einer der bedeutendsten modernen Schriftsteller auf dem Balkan, dessen Werke in über 15 Sprachen übersetzt worden sind. Er ist – ganz ohne Zweifel – vom geistig-kulturellen Format her ein wahrer „Balkano-Europäer“.

Das Interesse des „Unabhängigen Boten“ galt aber nicht nur dem literarischen Schaffen Starovas. Ein großes öffentliches Interesse besteht auch an seiner vielseitigen Persönlichkeit, an seiner wissenschaftlichen und diplomatischen Karriere. In dieses öffentliche Interesse eingebunden sind zudem Fragen ethnischer und nationaler Identität, nach der Geschichte und der Zukunft Makedoniens, d.h. des Staates Nordmakedonien, wie die heutige politisch korrekte Begrifflichkeit lautet, obwohl viele der Makedonier bei den gängigen Bezeichnungen bleiben, die sprachlich und ethnisch berechtigt sind und ihr eigenes Selbstverständnis ausdrücken.

Auf viele dieser Fragen gibt das Interview Antwort. Manches, wozu sich Starova äußert, bezieht sich auf die „verpfuschte“ Geschichte Makedoniens. Der „historische Pfusch“ ergab sich ohne Mittun der Makedonier. Schuld trugen die europäischen Großmächte, die nach dem letzten Russisch-Türkischen Krieg gegen die Interessen des siegreichen Russlands die politischen Verhältnisse auf dem Balkan neu ordneten. Das geschah zum Teil ohne Rücksichtnahme auf die ethnischen Gegebenheiten. Erschwerend kam hinzu, dass die makedonische Frage nicht gelöst wurde und das ganze Land unter türkischer Herrschaft verblieb. Nach dem Frieden von Bukarest 1913, mit dem die Balkankriege 1912/1912 zu Ende gingen, erfolgte dann die willkürliche Drittelung des makedonischen Siedlungsraums: Bulgarien erhielt Pirin-Makedonien, Griechenland Ägäis-Makedonien, das einer aggressiven Gräzisierung unterzogen wurde. Das beträchtliche und geopolitische wichtige Vardar-Makedonien fiel an Serbien, dessen Territorium sich damit um ein Drittel vergrößerte. Aus dieser Gemengelage erwuchs ein Wust politischer Spannungen, die bis in die jüngste Zeit nachwirkten. Das Verhältnis zwischen Griechenland und dem jetzt selbstständigen Makedonien entkrampfte sich erst, nachdem sich die Republik Makedonien in Republik Nordmakedonien umbenannte. Die Beziehungen zu Bulgarien verbesserten sich gleichfalls, was sich namentlich in der engen Kooperation von MANU und der Bulgarischen Akademie der Wissenschaften niederschlägt. Dass es immer noch Störenfriede gibt, die insbesondere kulturelle, identitäre und sprachliche Probleme und Eigenheiten überbewerten und zum Konfliktpotenzial machen möchten, ist nicht zu leugnen. Sie werden jedoch zusehends zu Randerscheinungen.

Armin Jähne

Als Literatur sei empfohlen:

–    Mazedonische Akademie der Wissenschaften und Künste; Leibniz-Sozietät der Wissenschaften zu Berlin (Hg.): Der 1. Weltkrieg auf dem Balkan. Großmachtinteressen und Regionalkonflikte (von Berlin 1878 bis Neuilly 1919/1920). Skopje 2015 (Raspravi/Auseinandersetzungen, Bd. 3) (in makedonischer und deutscher Sprache) – insbesondere die Artikel von Blaže Ristovski, Armin Jähne, Luan Starova, Wolf Oschlies und Victor Zakar

–    Jähne, Armin: Der „kranke Mann am Bosporus“. Gebremste Nationwerdung auf dem Balkan. In: Sitzungsberichte der Leibniz-Sozietät der Wissenschaften, Jg. 2011, Bd. 111, S. 159–183

Auszüge aus dem Interview mit Luan Starova