Zur Rolle der Persönlichkeit in der Geschichte (Vortrag im Arbeitskreis Wissenschaftsgeschichte)

Bericht zum Vortrag von Michael Schippan (MLS) im Arbeitskreis Wissenschaftsgeschichte am 20. Oktober 2025

Grundlegende Studien zur Rolle der Persönlichkeit in der Geschichte: Georgij Plechanov – Sidney Hook – Ian Kershaw

Im Rahmen des Arbeitskreises Wissenschaftsgeschichte widmete sich Michael Schippan am 20. Oktober 2025 einem Thema, das in der historischen Forschung lange marginalisiert wurde: der Rolle der Persönlichkeit in der Geschichte. Sein Vortrag spannte einen Bogen von marxistischer Theorie über pragmatische Philosophie bis hin zur modernen Geschichtsschreibung und Medienkritik. Im Zentrum standen drei Denker, deren Werke unterschiedliche Perspektiven auf die Bedeutung individueller Akteure im historischen Prozess eröffnen: Georgij Plechanov, Sidney Hook und Ian Kershaw.

Georgij Plechanov: Persönlichkeit im Spannungsfeld historischer Gesetzmäßigkeit

Michael Schippan begann mit dem russischen Marxisten Georgij Valentinovič Plechanov (1856–1918), dessen Schrift „O roli ličnosti v istorii“ („Über die Rolle der Persönlichkeit in der Geschichte“) von 1898 bislang kaum systematisch analysiert wurde. Plechanov, der 34 Jahre im Exil lebte und als geistiger Vater der russischen Sozialdemokratie gilt, entwickelte darin eine doppelte Argumentation: Einerseits kritisierte er die Geringschätzung historischer Persönlichkeiten, andererseits betonte er die entscheidende Rolle der gesellschaftlichen Bedingungen für deren Wirksamkeit. Dabei berief er sich auf „historische Gesetze“, die er jedoch nicht näher definierte.

Anhand pointierter Beispiele – etwa Madame de Pompadour, Mirabeau, Robespierre und Napoleon – illustrierte Plechanov, dass individuelle Talente zwar Einfluss nehmen können, jedoch nur im Rahmen der strukturellen Voraussetzungen zur Geltung kommen. So wäre Napoleon, so Plechanovs berühmte Zuspitzung, „völlig unbekannt geblieben“, hätte das Ancien Régime 75 Jahre länger bestanden oder wäre er ein musikalisches Genie wie Beethoven gewesen.

Sidney Hook: Der Held im Zeitalter der Gewaltherrscher

Im zweiten Teil des Vortrags wandte sich Michael Schippan dem US-amerikanischen Sozialphilosophen Sidney Hook (1902–1989) zu, einem Schüler John Deweys und Mitbegründer des Pragmatismus. In seinem Werk „The Hero in History“ (1943) reagierte Hook auf das Aufkommen diktatorischer Gewaltherrscher wie Mussolini, Hitler und Stalin nach der russischen Oktoberrevolution. Er plädierte für eine differenzierte Betrachtung historischer Persönlichkeiten, die nicht nur in Politik und Militär, sondern auch in Wissenschaft, Kunst und Sport herausragende Bedeutung erlangen können.

Hook verstand den „Helden“ als eine Figur, die durch bewusste Entscheidungen und Handlungen den Lauf der Geschichte beeinflusst – eine Position, die sich deutlich von Plechanovs deterministischem Ansatz unterscheidet. Zugleich warnte Hook vor der ideologischen Vereinnahmung solcher Persönlichkeiten und trat zeitlebens für Freiheit und Demokratie ein.

Ian Kershaw: Persönlichkeit und Macht im 20. Jahrhundert

Den dritten Schwerpunkt bildete Ian Kershaw (*1943), dessen Monographie „Personality and Power“ (2022) eine vergleichende Analyse von zwölf politischen Führungsfiguren des 20. Jahrhunderts bietet. Schippan hob hervor, wie Kershaw „Erbauer“ und „Zerstörer“ des modernen Europa gegenüberstellt – von Churchill, de Gaulle und Adenauer bis zu Hitler, Stalin und Mussolini. Kershaw untersucht, inwieweit individuelle Charaktereigenschaften, historische Konstellationen und institutionelle Rahmenbedingungen das Wirken dieser Persönlichkeiten geprägt haben.

Dabei wird deutlich, dass Kershaw weder einem biografischen Heroismus noch einer strukturalistischen Geschichtsauffassung anhängt, sondern eine komplexe Wechselwirkung zwischen Person und Kontext herausarbeitet.

Ausblick: Medienstars und das Ende der charismatischen Persönlichkeit?

Abschließend thematisierte Michael Schippan die gegenwärtige Konstruktion von Persönlichkeiten im digitalen Zeitalter. Durch soziale Medien und Internetplattformen würden heute massenhaft „Medienstars“ erzeugt, deren Wirkung oft kurzlebig und auf spezifische Echokammern begrenzt sei. Dies werfe die Frage auf, ob die Ära der „charismatischen Persönlichkeit“ im Sinne Max Webers zu Ende gehe – oder ob sich neue Formen von Einfluss und Autorität herausbilden.

Fazit

Michael Schippans Vortrag bot eine kenntnisreiche und differenzierte Auseinandersetzung mit einem lange vernachlässigten Thema der Geschichtswissenschaft. Die Gegenüberstellung von Plechanov, Hook und Kershaw eröffnete nicht nur ideengeschichtliche Perspektiven, sondern regte auch zur Reflexion über die Bedeutung individueller Handlungsmacht in Vergangenheit und Gegenwart an. In einer Zeit, in der algorithmisch gesteuerte Sichtbarkeit und digitale Fragmentierung das Bild von Persönlichkeit prägen, gewinnt die historische Debatte über deren Rolle neue Aktualität.

Gerda Haßler

Skript zum Vortrag als pdf.